3. Unerwartet

Mein Körper verkrampfte sich, als ich verzweifelt versuchte ruhig zu bleiben und keinen Laut von mir zu geben. Der Geruch vernebelte meine Gedanken und mir wurde etwas schwindlig. Ich hörte wie sich die Person entfernte, die diesen für mich anziehenden Duft versprühte und als ich wieder frische Luft einatmete, konnte ich mich wieder entspannen. Beunruhigt fragte ich mich, ob es jemandem aufgefallen war, dass in meinem Körper ein Kampf getobt hatte, aber da niemand anfing zu schreien, nahm ich an, dass ich mich nicht gerührt hatte. Als ich meinen Gedankengang beendete, merkte ich, dass der Pfarrer wieder zu sprechen begonnen hatte.
»... Bitte schlagen sie ihre Bücher auf Seite 240 auf und lasset uns zusammen, zu Ehre des verstorbenen Kindes singen...«, sagte er mit leiernder Stimme, die mich stark an meinen Mathelehrer erinnerte. Ich fragte mich gerade, ob Vanessa, meine Erzfeindin, auch hier war, als alle Gäste anfingen zu singen.

Alle Menschen waren aufgestanden, um für Jessica zu singen. Tim fand, dass die Leute, die nicht singen konnten, lieber ruhig sein sollten, als krumm und schief zu kreischen und die Töne nicht zu treffen. Das war doch eher Folter für den Verstorbenen, als eine Ehre, dachte er und verzog kurz das Gesicht. Tim seufzte und lehnte sich an das Geländer, jederzeit bereit, Jessica aus dem Sarg zu holen.

Als das Lied endlich zu Ende war, unterdrückte ich meinen Drang, mir an die Ohren zu fassen, denn manche Leute hatten eindeutig die Töne nicht getroffen. Ich lauschte den Schritten in meiner Nähe und wieder ertönte die Stimme des Pfarrers.
» Wenn die Familienangehörigen nun bereit sind, dann werden wir jetzt mit der Feuerbestattung beginnen«, fuhr er fort und ehe ich seine Worte ganz erfasst hatte und die Angst von mir Besitz ergreifen konnte, schlug er den Deckel zu und verschloss den Sarg, sodass ich nur noch das Innere der Holzkiste sehen konnte.

Tim fiel fast von der Treppe, als er die Worte des Pfarrers hörte. Feuerbestattung?, dachte er erschüttert. Niemand hatte etwas von einer Feuerbestattung gesagt. Er hatte angenommen, dass sie Jessica womöglich vergraben würden; das wäre für ihn kein Problem gewesen, denn dann hätte er sie nur wieder ausgraben brauchen.
Verzweifelt sah er sich um und suchte fieberhaft nach einer Lösung, wie er Jessica da lebend wieder rausholen konnte. Er sprintete die Treppen hinunter, rannte den Gesprächen hinterher und folgte den Gästen zu einem Nebengebäude, wo ein riesiger Ofen stand, der schon beheizt zu sein schien. Tim versteckte sich nahe den Fenstern, immer darauf achtend, dass er genügend Abstand zwischen sich und der Sonne hielt, aber darüber brauchte er sich im Moment keine Sorgen mehr zu machen, denn als er zum Himmel blickte, stellte er erleichtert fest, dass es ein sehr bewölkter Tag war und es nach Regen aussah. Wenn er Glück hatte, würde sich die Sonne heute nicht mehr zeigen.

Mein Herz fing heftig an zu Schlagen und ich spielte schon mit dem Gedanken, gegen den Deckel zu Hämmern und alles auffliegen zu lassen, aber dann fiel mir wieder ein, dass Tim immer noch in meiner Nähe war und sich sicher schon eine Lösung einfallen ließ. Ich spürte, wie ich angehoben und irgendwohin getragen wurde. Nach zwei Minuten setzten sie mich ab und ich spürte, wie etwas unter mir den Sarg in Bewegung setzte.

Tim beobachtete die Männer, welche den Sarg trugen in dem Jessica lag. Sie trugen sie in das Nebenhaus und stellten sie auf eine Art Fließband ab, das direkt in den Ofen führte. Er pirschte sich näher an den Eingang, um alles besser im Blick zu haben und stellte verärgert fest, dass der Ofen schon lange vorbeheizt war; also hatten sie das alles schon vor langer Zeit geplant. Während er vor der Tür stand und verzweifelt nach einer Lösung suchte, näherte sich der Sarg den Flammen. Wenn er jetzt nicht schleunigst etwas unternahm, dann war alles zu spät.

Panik stieg in mir hoch, denn im Inneren der Holzkiste wurde es von Mal zu Mal immer wärmer. Ich konnte schon spüren, wie schnell sich das Holz den Flammen näherte. Die Wärme wurde unerträglich und da ich mich nicht hinsetzen konnte rutschte ich etwas weiter vor, bis meine Zehen das Ende des Sarges erreichten. Wie konnte ich nur in so eine Situationen geraten? Ich fing schon an mich zu fragen, was wohl passiert wäre, wenn ich damals nicht in den Wald gegangen und gestürzt wäre, als das Kopfende des Sarges in Flammen aufging. Es roch nach verbranntem Holz. Es wurde immer heißer und als ich es nicht mehr aushielt, ertönte aus weiter Ferne das Schrillen einer Glocke.

Tim versteckte sich hinter der Tür, als die Gäste rasch das Gebäude verließen. Als der Letzte draußen war, huschte er rasch in den Raum und brachte das Fließband zum Stehen.

Die Flammen hatten schon das Kopfende verschluckt, als jemand den Sarg brutal öffnete; ein starker Arm zog mich raus und setzte mich sanft auf dem Boden ab. Erleichtert sah ich zu Tim auf, der gerade dabei war den Sarg wieder ordnungsgemäß zu schließen und ihn in den Ofen schob.
» Danke. Noch ein paar Sekunden länger und ich wäre nur noch ein Haufen Asche«, sagte ich zitternd und wischte mir den Ruß von der Stirn.
» Gern geschehen, aber jetzt müssen wir erst mal sehen, dass wir schleunigst hier wegkommen«, sagte er hastig, nahm meine Hand und zog mich zum Hintereingang.» Die werden bald merken, dass das ein falscher Alarm war.«
Ich folgte ihm über den Friedhof, aber plötzlich hörten wir hinter uns Stimmen und Tim zog mich hinter ein großes Grabmal, hinter dem wir uns versteckten.
» Das war nur falscher Alarm, die Feier kann weiter gehen«, ertönte die Stimme des Pfarrers.
Vorsichtig lugte ich um die Ecke und sah gerade noch, wie alle Trauergäste in das Gebäude mit dem Ofen zurückkehrten. Meine Beine zitterten heftig und gaben unter mir nach, sodass ich an dem Stein hinunter rutschte und im Gras sitzen blieb. Ich versuchte ruhig zu atmen und meine Fassung zurückzugewinnen.
» Alles OK mit dir?«, fragte Tim besorgt und strich mir über den Rücken.
Ich nickte, beschloss jedoch nicht den Mund aufzumachen, denn ich hatte Angst, ich könne mich übergeben, so schlecht war mir.
» Erssählst... du mir, wass passsiert iss?«, nuschelte ich und lehnte meinen Kopf auf den kühlen Stein.
» Natürlich, aber zuerst gehen wir in den Wald, falls die Sonne es sich doch noch anders überlegt«, erwiderte er sanft und zog mich hoch.» Halt dich an mir fest.« Bevor ich protestieren konnte, hatte er mich auf seinen Rücken gehoben und rannte bereits den kurzen Weg zum Wald. Während er rannte, atmete ich die frische Luft ein und ich war erleichtert, dass es etwas half.
Tim setzte mich auf den Rasen ab und ich legte mich auf die grüne Wiese. Die Sonne war bereits verschwunden, obwohl ich mir sicher war, dass es noch gar nicht so spät sein konnte. Ich spürte Tims Bewegungen und dass er sich neben mir niederließ.
» Geht’s dir etwas besser?«, fragte er und legte seine Hand auf meine Stirn.
» Ja...«, sagte ich, klang aber nicht ganz überzeugt.» Ich hatte echt solche Angst... damit hatte ich gar nicht gerechnet.«
» Es tut mir Leid. Ich hätte das vorher prüfen müssen«, sagte er beschämt.» Du hättest wirklich sterben können.«
» Es war nicht deine Schuld«, sagte ich ernst.» Woher bitte schön, hättest du wissen können, dass sie mich verbrennen wollten?«
Ich setzte mich auf.
» Sagst du mir jetzt, was passiert ist?«, fragte ich, nun da es mir wieder besser ging, neugieriger.
» Mmh... ich glaube, dass du die Leute, die schief gesungen haben, selbst gehört hast?«, neckte er.
Ich schauderte.» Hör blos auf, das war nicht mehr zum aushalten. Am liebsten hätte ich mir die Ohren zugehalten.«
» Das glaube ich dir aufs Wort«, lachte er.
» Wer saß in der ersten Reihe?«, fuhr ich fort.
Er dachte kurz nach und zählte sie an den Fingern ab.>> Deine Eltern, Fiona und so ein Junge mit braunen Haaren.<<
» Alex?«, seufzte ich. An ihn hatte ich gar nicht mehr groß gedacht. Ich hatte mit viel mehr Sorgen um Fiona gemacht.
» Das muss er wohl sein«, antwortete er.» Kanntest du ihn gut?«
» Er war mein erster bester Freund«, sagte ich und musste lächeln, als mir einige Bilder unserer Kindheit ins Gedächtnis zurückkehrten.
» Mochtest du ihn?«, flüsterte Tim.
» Wie meinst du das?«, fragte ich und blickte ihn traurig an.
Er schwieg und senkte den Blick.
» Wir waren nur gute Freunde, sonst nichts«, erklärte ich, denn ich hasste diese Vorurteile, wenn ein Mädchen mit einem Jungen nur befreundet war und andere sich den Mund fusselig reden, weil sie dachten, da ist mehr als nur Freundschaft.
» Du hast vorhin in der Kirche kurz gezuckt«, meinte er und sah mich wieder an.
» Ich dachte, dass ist niemandem aufgefallen«, sagte ich schockiert und biss mir auf die Lippe.
» Den Menschen ist es auch nicht aufgefallen, nur mir«, beteuerte er.» Was war denn los?«
Ich dachte kurz nach, denn ich war mir nicht sicher, ob ich ihm das mit dem Duft, der mich schwindlig gemacht hatte, erzählen sollte oder nicht; aber als ich mir wieder in Erinnerung rief, was er bereits alles für mich getan hatte, beschloss ich, es ihm doch zu sagen.
» Ich weiß nicht genau, was es war, aber.... als einer der Personen an mir vorbei lief... Ich weiß nicht, wer das war... Ich hatte so einen komischen Geruch in der Nase und meine Zähne fingen auf einmal wieder an zu Schmerzen... Hast du eine Ahnung, was das zu bedeuten hat?«
» Nicht wirklich«, sagte er und sah mich genau so verwirrt an, wie ich mich fühlte.
» Kannst du dich noch daran erinnern, wer von den Gästen gerade neben mir stand, als ich mich gerührt habe?«, fragte ich hoffnungsvoll.
» Ja. Es waren Fiona, deine Eltern und dieser Alex«, antwortete er.
» Also muss es einer von den Vieren gewesen sein«, dachte ich laut.
Ich sah mich um und erst jetzt fiel mir auf, wo wir uns befanden; es war die Lichtung auf der Tim mich verwandelt hatte.
» Was meine Eltern jetzt wohl machen?«, fragte ich und ließ mich erschöpft ins Gras sinken.
» Ich würde mal annehmen, dass sie schon wieder zu Hause sind«, meinte Tim und setzte sich neben mich.» Die Trauerfeier müsste jetzt vorbei sein. Wieso fragst du?« Er betrachtete mich misstrauisch.
» Ich...«, fing ich an, aber meine Stimme brach. Ich räusperte mich und setzte erneut an.» Ich möchte sie sehen und mich vergewissern, dass... sie nicht zu sehr leiden... Bitte, lass mich noch mal hingehen und mich verabschieden...«
» Du weißt, dass du nicht mit ihnen reden kannst?«, erwiderte Tim und warf mir einen forschenden Blick zu.
» Ich möchte ja auch nicht mit ihnen reden... ich möchte sie nur noch mal sehen.« Ich wandte ihm den Kopf zu und sah ihn flehend an.
Eine Weile herrschte Stille, bis Tim schließlich seufzte und sagte:» OK, aber du musst dich verstecken... und ich werde dich begleiten.«
Ich setzte mich auf und fiel ihm um den Hals.» Danke!«
Verwirrt erwiderte er meine Umarmung, ließ mich aber sehr schnell wieder los. Ich sah ihm noch mal in seine schwarzen Augen, lächelte unsicher und erhob mich schließlich. Auch er stand auf, nahm meine Hand und wollte schon los rennen, als ich ihn zurückhielt, was mir einen verwirrten Blick einbrachte.
» Ähm... können wir normal zu mir gehen«, fragte ich.» Ich möchte mich noch etwas... sammeln.«
» Klar, kein Problem«, antwortete er und so ließen wir uns Zeit, während wir durch den Wald liefen. Wir wanderten den gewohnten Pfad entlang, den ich noch vor ein paar Tagen allein entlang gejoggt war. Dies war auch der Tag, an dem sich mein Leben schlagartig änderte und das nur, weil ich mir den Kopf an einem Stein aufgeschlagen hatte. Konnte man Gegenstände verfluchen? Wenn ja, war jetzt der passende Moment dafür.
» Ganz egal, was du jetzt sehen wirst«, begann Tim,» mach dich bitte nicht fertig. Du kannst nichts mehr daran ändern.«
Ich seufzte.» Ja, ich weiß. Ich hätte nie gedacht, dass ich sie schon so schnell würde los lassen müssen.«
Tim drückte meine Hand.
» Natürlich wird es anfangs schwer sein, aber... nach einer Weile... wird es bestimmt leichter.«
» Woher willst du das wissen?«, fragte ich ausdruckslos.» Hast du das schon mal durchgemacht?« Erst jetzt fiel mir ein, dass ich nichts von seiner Vergangenheit wusste.
» Ja. Ich bin in einem Waisenhaus aufgewachsen«, sagte er.» Das ist jetzt schon ziemlich lange her und... jedenfalls hat man mir dort gesagt, dass meine Eltern bei einem Bergunglück ums Leben gekommen waren. Viel mehr weiß ich leider auch nicht, da war ich gerade mal drei.«
Trotz dessen, was mir in letzter Zeit widerfahren war, hatte ich Mitleid mit ihm. Ich hatte wenigstens eine schöne Kindheit gehabt, die er nie hatte und niemals mehr haben wird.
» Das tut mir Leid«, murmelte ich ehrlich.
» Das muss es nicht, wie gesagt, ich erinnere mich nicht an meine Eltern«, sagte er und sah mich an.
Der Wald lichtete sich und wir kamen auf dem Hinterhof heraus. Das ganze Haus war hell erleuchtet, obwohl es noch gar nicht so spät sein konnte. Sogar in meinem Zimmer brannte Licht. Vorsichtig pirschten wir uns näher heran und blickten in das Wohnzimmer, aber dort war niemand. Ich blickte nach oben und kletterte auf den Apfelbaum, der schon seit meiner Kindheit vor meinem Fenster stand und der uns genug Deckung gab, damit uns niemand sehen konnte, weder von vorn noch von hinten.
Als ich mich sicher auf einem Ast niedergelassen hatte und davon überzeugt war, dass ich guten Halt hatte, spähte ich durch mein Zimmerfenster und ich war überrascht, dass meine Mutter auf meinem Bett saß. Sie hielt ein Plüschtier in der Hand, welches ich vor vielen Jahren von ihr geschenkt bekommen hatte, drehte es in den Händen und betrachtete es traurig. Erst bei genauerem Hinsehen fiel mir auf, dass sie weinte. Tränen fielen ihr auf den Schoß. Es tat mir weh sie so zu sehen. Mein Verschwinden schien ihr viel mehr auszumachen, als ich es mir vorgestellt hatte. Ich versuchte mich in ihre Lage zu versetzten und stellte mir vor, wie es wohl sein würde, sein einziges Kind zu verlieren; ich musste mir ein Schluchzen unterdrücken, damit ich mich nicht verriet und wischte mir energisch die Augen.
Der Ast auf dem ich saß, senkte sich kurz und ich wusste, dass Tim nun hinter mir saß. Er schlang seine Arme um mich und sagte:» Es tut mir Leid, dass du so leiden musst.«
» Du kannst n- nicht’s dafür«, flüsterte ich heiser.» So oder so, wäre ich gestorben.«
Ich beobachtete weiterhin meine Mutter und wünschte mir sehnlichst in ihren Armen zu liegen und sie zu trösten.
Plötzlich ging die Tür auf und mein Vater betrat das Zimmer. Als er meine Mutter auf dem Bett sitzen sah, setzte er sich neben sie und nahm sie in die Arme.
» Ich habe Fiona angerufen«, erklärte er.» Sie hat nichts dagegen noch mal vorbeizukommen und uns alles zu erzählen, was sie weiß.«
» Danke, D- Dennis«, schluchzte sie.» Ich hoffe n- nur, dass Jess nicht... so lange leiden musste.«
» Bestimmt nicht, Veronika«, erwiderte er ruhig und strich ihr über den Arm.» Sie wird immer bei uns bleiben.«
» Ich weiß.« Sie blinzelte ihn an.
Ich wandte meinen Blick ab, denn es tat mir sehr weh, sie so aufgelöst zu sehen. Tims Umarmung gab mir Kraft, sodass ich meinen Blick jedoch schnell wieder dem Fenster zuwenden konnte.
» I- Ich k- kann n- nicht glauben, dass... ich sie nie w- wieder sehen w- werde«, sagte meine Mom und legte ihren Kopf auf die Schulter meines Vaters. Dieser legte seine Hand auf ihre. Eine Weile herrschte Stille, in der weder wir noch meine Eltern etwas sagten, bis ein schrilles Klingeln an der Haustür uns alle zusammenfahren ließ.
Mein Vater verließ das Zimmer, um zu Öffnen und nur wenige Sekunden später folgte ihm meine Mutter.
» Komm, lass uns schauen, was sie unten machen«, flüsterte Tim und ließ sich als erstes fallen. Unten angekommen hielt her seine Arme auf, um mich eventuell aufzufangen, aber ich landete katzengleich neben ihm und versteckte mich hinter den Büschen, die nahe der Verandatür standen. Wir hatten einen guten Blick ins Wohnzimmer und konnten ganz genau hören, was geredet wurde.
» Danke, dass du doch noch gekommen bist, Fiona« sagte meine Mutter und ich nahm das Zittern ihrer Stimme war, obwohl sie versuchte, ruhig zu sprechen.» Bitte, setz dich.«
Fionas Gestalt erschien in meinem Blickfeld und sie setzte sich meinen Eltern gegenüber in den Sessel.
» Kannst du uns vielleicht erzählen, was passiert ist, als ihr am Montag gemeinsam zur Schule gegangen seid?«, begann mein Vater und setzte sich neben seine Frau.
Fiona ließ den Kopf hängen.» Ich bin alleine gegangen. Wir sind nicht zusammen zur Schule gelaufen.«
» Aber ich dachte, Jess würde bei dir übernachten?«, fragte meine Mutter und betrachtete Fiona verwirrt.
» Das wollte sie zuerst auch, aber auf dem Nachhauseweg wollte sie noch mal joggen gehen«, erklärte sie.» Sie wollte vor Einbruch der Dunkelheit wieder da sein, aber sie kam nicht zurück.«
» Hast du denn nicht mal versucht sie anzurufen?«, warf mein Vater ein.
» Doch, ich habe ihr sogar auf den Anrufbeantworter gesprochen«, erwiderte sie hastig.» Das war noch am gleichen Abend. Als sie mich jedoch bis zum Morgen noch nicht zurückgerufen hatte, habe ich ihr eine SMS geschrieben und sie hat sogar geantwortet und gemeint, dass sie mit Ihnen weg musste und sie am Montag wieder in die Schule kommen würde.«
» Das heißt also, dass du sie am Freitag Nachmittag zum letzten Mal gesehen hast?«, schlussfolgerte meine Mutter.» Aber wenn sie nicht bei dir war, wo ist sie dann hingegangen? Sie war nicht bei uns.«
Fiona schüttelte bedauernd den Kopf.» Ich weiß es nicht. Als ich sie das letzte Mal sah, lag sie auf dem Boden.« Sie wandte sich kurz ab und wischte sich über die Augen.
Meine Mutter beugte sich zu ihr und legte ihr behutsam eine Hand auf die Schulter.
» Könnte sie vielleicht zu Alex gegangen sein?«, fragte mein Vater weiter.
» Nein, denn... wenn es so wäre, dann hätte sie mir doch gesagt, dass sie bei ihm war«, antwortete Fiona und blinzelte ihn an.» Außerdem war Alex bis Freitag nacht noch bei mir. Sie hätte gar nicht bei ihm sein können, denn er hat mich am nächsten Morgen noch mal angerufen und mich gefragt, ob ich etwas von Jess gehört habe.«
Stille. Ich bekam Schuldgefühle, als ich bemerkte, wie viel Kummer ich ihnen bereitete.
» Steht der Grabstein schon?«, fragte Fiona plötzlich und ich horchte augenblicklich auf.
» Ja. Sie haben ihn direkt nach der Bestattung aufgestellt«, erwiderte meine Mutter mit leicht zitternder Stimme.
Wieder herrschte Stille.
Sofort sah ich Tim an, der immer noch neben mir auf dem Boden saß.
» Ich möchte diesen Stein sehen«, forderte ich.
» Kann das nicht noch etwas warten?«, bat Tim.» Ich weiß, dass es in letzter Zeit schwer für dich ist, aber... du musst vorsichtig sein. Wenn man dich erwischt, dann war alles umsonst.«
» Was hat das denn mit meinem Grabstein zu tun?«, erwiderte ich verblüfft.
» Denkst du nicht, dass so kurz nach deinem Tod, noch einige Leute deine Grabstätte besuchen wollen?«
Jetzt wo er es sagte, dachte ich, könnte da durchaus etwas wahres dran sein.
Eine Bewegung hinter der Glasscheibe veranlasste mich, mich wieder dem Gespräch zuzuwenden, aber offensichtlich ging Fiona jetzt nach Hause, denn sie und mein Vater hatten sich erhoben.
» Ähm... wollen wir auch langsam gehen?«, fragte Tim zaghaft.
» Geh schon mal vor... Ich komme gleich«, sagte ich geistesabwesend.
An seiner Haltung merkte ich, wie sehr ihm das gegen den Strich ging, aber nach einer Weile erhob er sich doch und ich spürte noch den kühlen Windzug, als er losrannte. Als ich mich vergewissert hatte, dass er nicht wiederkommen würde, wandte ich mich wieder dem Fenster zu, als plötzlich das Licht gelöscht wurde; dies jedoch war für mich kein Problem, denn meine Augen hatten sich sofort an die Dunkelheit gewöhnt und ich sah noch die Gestalten meiner Eltern, die zusammen die Treppe hochliefen.
Kurze Zeit saß ich im Gras und dachte nach, dann fasste ich einen Entschluss und schwang mich wieder auf den Baum.
Das Elternschlafzimmer lag direkt neben meinem, nur reichten die Äste des Baumes nicht so weit, das es mir erlaubt war, auch in dieses Zimmer reinspähen zu dürfen.
Ich krallte meine Finger in das Holz und kletterte bis zum Fenster. Da ich es mir nicht traute, mich auf den Fenstersims zu setzen, aus Angst sie könnten mich sehen, blieb ich dort hängen und lauschte.
» Was ist nur passiert, bevor sie angefahren wurde?«, ertönte die traurige Stimme meiner Mutter. Jetzt wo Fiona gegangen war, unterdrückte sie ihre Gefühle nicht weiter; ich konnte ihre Schluchzer bis draußen hören.
» Ich glaube, das werden wir nie erfahren«, antwortete mein Vater.» Versuch etwas zu schlafen, Liebling.«
Augenblicklich ließ ich mich fallen und landete weich im Gras, dann wandte ich dem Haus meinen Rücken zu und raste Tim hinterher in den Wald.
Meine Gedanken kreisten und das einzige woran ich jetzt noch denken konnte, war der Grabstein. Ich wusste nicht warum mir das so wichtig war, aber aus irgendeinem Grund wollte ich ihn sehen.
Kaum hatte ich den Rand des Waldes erreicht, fing es auch noch an zu Regnen. Meine Kleider durchweichten, während ich durch die feuchte Erde rannte und Wassertropfen platschten mir gegen mein Gesicht; ich kam auf der Lichtung an und schaute mich nach Tim um, denn wegen meinem Geruchssinn war ich mir sicher, dass er sich irgendwo hier aufhalten musste.
» Tim?«, schrie ich und blickte mich um.
Eine rasche Bewegung hinter mir, ließ mich herumfahren; er stand lässig an einem Baum gelehnt und sah mich fragend an.
» Du musst ja nicht gleich so schreien«, sagte er und grinste.» Ich kenne da einen Platz, wo wir uns unterstellen können, es sei denn du willst lieber nass werden?« Er begutachtete meine ohnehin schon durchweichten Kleider.
Ich nickt knapp und folgte ihm. Immer tiefer drangen wir in den Wald vor, bis wir schließlich an einem hohlen Baum herauskamen. Tim wandte sich kurz zu mir um und schlüpfte dann durch den schmalen Spalt in der Rinde. Ich folgte ihm.
Wir standen in einem kleinen Hohlraum des Baumes, der gerade groß genug für uns beide war. In einer Ecke lag mein Rucksack mitsamt den Sachen, die ich mir noch mitgenommen hatte.
» Hier wohne ich schon seit gewisser Zeit«, erwiderte Tim.» Ich weiß, es ist nicht gerade gemütlich, aber... ich kann mir nichts besseres leisten... jedenfalls noch nicht.«
» Heißt das, du willst dir eine Wohnung suchen?«, fragte ich skeptisch.
» Zuerst suche ich mir eine Arbeit, dann eine Wohnung.«
Er grinste angesichts meines überraschten Gesichtsausdrucks.» Natürlich werde ich nur einen Nachtjob annehmen.«
Ich antwortete nicht. Mein Kopf war so überfüllt mit Gedanken, Vorwürfen und Schuldgefühlen, sodass ich mich nicht auf ein Gespräch konzentrieren konnte.
» Hey Jess«, sagte er mitfühlend und setzte sich neben mich.
All den Kummer, den ich während der letzten Tage verdrängt hatte, angesichts der Tatsache, dass ich so viel zu tun gehabt hatte, kam nun mit voller Wucht zurück und ich gab den Tränen nach.
Tim nahm mich in den Arm und strich mir beruhigend über den Rücken. Es schien ihm nichts auszumachen, dass ich klatschnass war.
Ich hob meinen Kopf und blinzelte mir die Tränen aus den Augen. Erst jetzt bemerkte ich, wie wichtig Tim für mich geworden war, obwohl wir uns erst seit ein paar Tagen kannten.
» Ich lass dich jetzt nicht im Stich, Jessica«, flüsterte er heiser und drückte sanft seine Lippen auf meine.
In meinem Körper herrschte ein Chaos von Gefühlen und ich befreite mich schnell, aber trotzdem sanft von ihm.
» Ich kann nicht«, sagte ich und wandte mein Gesicht ab.
» Es tut mir Leid«, sagte er und sah mich verschämt an.
» Es muss dir nicht Leid tun... ich...« Was sollte ich sagen? War ich noch nicht bereit, wegen den Ereignissen in den letzen drei Tagen? Oder war ich mir noch nicht im Klaren, was ich wirklich für Tim empfand?
» Du musst nichts sagen«, sagte er schnell und lächelte verlegen.» Ich gebe dir so viel Zeit, wie du brauchst, um darüber hinweg zu kommen. Und solltest du dich doch für jemand anderen entscheiden, dann... werde ich dich nicht aufhalten. Ich möchte dich nur beschützen.«
Ich sah ihn dankbar an und erlaubte es ihm, mich in den Arm zu nehmen. Auch wenn in meinem neuen Leben noch nicht alles so glatt lief, wie ich es mir vielleicht wünschen würde, war ich froh, so jemanden wir Tim zu haben, der mich beschützte und für mich da war.


© ZoeyRedbird96


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