Angesichts der lang anhaltenden Krise auf dem Arbeitsmarkt hatte sich Waldemar W. aus W. zu drastischen Maßnahmen entschlossen. Er
nahm sich vor, den Pfad der Selbstfindung zu beschreiten. Für diese Art Tugend brauchte er keinen Kurs, keinen Kabinettsbeschluss und auch keine Vorgesetzten. Vielmehr wollte er seine Desorientierung kultivieren und gewissermaßen daraus eine absolut neutrale Einstellung, der Allgemeinheit gegenüber gewinnen, die zunächst einmal rein philosophische Früchte tragen sollte. Eine Handvoll führender Kabarettisten, so glaubte Waldemar W. aus der schönen Stadt W. an der W, seien bereits fiktiv damit beschäftigt gängige Richtlinien – sprich „gesellschaftliche Ziele, die sich nicht bewährt haben“ anzuprangern und damit den Boden für Außerirdische zu bereiten.

Waldemars auf einmal maßgeblicher Meinung zufolge, benötigte man, um Außerirdischer zu werden, nichts weiter, als mit seinem Latein am Ende zu sein. Er wusste: Selbst führende Wirtschaftsbosse, sowie einflussreiche Politiker mahnten schon seit einiger Zeit eindringlich zu einer Umkehr. Aber er konnte sich einfach nicht für deren Methode, der sich wie von selbst ständig erhöhenden Gehälter in Spitzenpositionen als Vorbeugung gegen die drohende Wirtschaftskrise erwärmen.
Auch die Alternative der neuerdings wieder aufkeimenden Begeisterung für die bedingungslose Elternschaft konnte ihn nicht völlig überzeugen. Zwar gestand er der breiten Masse der Befürworter dieses Systems gerne zu, der Spruch „Werdende Mütter können Arbeitsplätze geradezu aus dem Boden stampfen“ beruhe nicht ausschließlich auf Unwahrheit. Im Stillen aber hielt er das mehr für eine einfache Beschäftigungstherapie, die Probleme mehr von oben nach unten und weniger an der Basis löse – und vielleicht gerade deshalb ging er in den Wald um Sterne zu zählen.

Bar aller Verpflichtungen, oder anders ausgedrückt, im höchsten Maße suspekt (was die imaginären Augen der Öffentlichkeit anbetraf) schritt er forschen Geistes, raumgreifend aus und betrat pünktlich an einem Freitag den dreizehnten, Schlag Mitternacht, einen freien Platz (Lichtung) unter dem Firmament. Die Schubladen seines Gedächtnisses hatte er vorher gewissenhaft feucht ausgewischt und an der Sonne trocknen lassen. Sein Kopf war leer. Seine Hirntätigkeit lief auf Nulllinie! – und doch nicht ganz: Die Neugierde war nicht ausgeräumt worden. Sie beflügelte seine Intention neue Horizonte zu finden und seien sie auch „nur“ dort, ganz weit oben, zwischen den golden glänzenden Himmelskörpern angesiedelt.

Es kam wie es kommen musste: Staunen befiel die arme Seele des Waldemar W. aus W., den Kern des Waldemar, Waldemar persönlich sozusagen. Sein Herz tat einen Sprung (in die Zukunft), sein Mund öffnete sich um das obligatorische „O“ durchzulassen…dann blieb das Herz aus Verwunderung einen Augenblick stehen – nicht weil es sich nicht entscheiden konnte, denn es schwankte zwischen Furcht und Forschung – und schließlich entschied es sich dafür, sich für nichts Spezielles zu entscheiden. Und genau das war offensichtlich richtig. Denn – es bewegte sich etwas! Etwas schwebte vorüber. Es kam wie aus dem Nichts. Ein schönes schimmerndes Objekt hielt sich majestätisch geräuschlos lange Augenblicke vor der Schwärze des Himmels, bevor es endlich steil nach oben, in eine undefinierbare, jedoch vermutlich kreative Ferne entschwand (kreativ, da es sich ja um eine bloße Vision gehandelt haben musste).

Bumm! Bumm! Bumm! Bumm! – Paukenschläge des Schicksals, hörbar nur für Sensitive, erweckten Waldemar aus seinem tranceähnlichen Zustand in seine Gegenwart zurück. Die Faszination wich – die Asche der Vision ließ die Fantasie gedeihen. Und die Fantasie füllte das Vakuum, das die Vision zurückgelassen hatte. Der Alltag kehrte, angeschlagen zurück. Es war 5 Minuten nach 12.

Waldemar lauschte andächtig nach draußen und nach drinnen. Er wurde das Gefühl nicht los: Irgendetwas stimmte hier nicht. Oder eher: nicht mehr? Und tatsächlich – er hatte richtig geraten! Der zurückkehrende Alltag war eigentlich ein Trugschluss, denn es gab nichts mehr, wohin er hätte zurückkehren können. Waldemars Hirn hielt alle Schubladen fest verschlossen. Seine Augen ebenfalls. So konnte er auf eine Inspiration warten. Hinter den geschlossenen Lidern tauchte eine weite Landschaft auf. Eine Ebene, von Hügeln umschlossen – ein Talkessel also. Dort wo der Alltag anfangen wollte erschien ein Silberstreif am Horizont. Waldemar konzentrierte sich darauf. Es wurde heller. Ein Gebilde versuchte Gestalt anzunehmen. Ein Guru? Versammelte sich vor seinem geistigen Auge die oberste moralische Instanz (sein ganzes Schulwissen) noch einmal, um praktische Vorbilder zu produzieren?

Da belebte sich die Ebene vor den Hügeln schlagartig! Ein Heer von historischen Gardesoldaten trat in die Dämmerung. Prächtige Uniformen (die eigentlich gar keine waren, denn keine glich der anderen) wurden erkennbar. Die Pferde der Reiterei tänzelten aufgeregt. Anscheinend konnten sie kaum noch gehalten werden. Last Not least brausten die Gespanne der Artillerie heran. Die Geschütze wurden in Stellung gebracht. Auf kein bestimmtes Kommando hin eröffneten die Batterien das Feuer. Und eben, als sich von dort, wo Waldemar den Angriff des feindlichen Heeres nicht nachvollziehbarer Pflichten erwartet hatte, sich ein Idol zu inkarnieren versuchte, zerfetzten die Geschosse das Abbild dogmatischer Mächte zu Staub! Gleich darauf war der ganze Spuk wieder verschwunden. Das phantastische Tal hinter Waldemars Lidern aber hatte Bestand. Anstelle eines Idols stand jetzt ein blauer Planet (die Erde?) am virtuellen Himmel. Er tauchte die geistige Landschaft in ein angenehmes Licht. Waldemar sah nun einen gut gekleideten Wanderer durch reiche Felder und Auen ziehen.

War dies das Zeichen zum Aufbruch? Herr W. aus der schönen Stadt W. öffnete seine Augen weit, ging nach Hause, küsste seine Frau wach, liebte sie vorsichtig und beschloss fortan, aus seinen eigenen Vorstellungen heraus, bewusst zu leben.

Wie schwer das werden kann erfuhr er sofort und zwar genau zu dem Zeitpunkt als er anfing den Menschen erstmals zu glauben was sie von sich gaben. Der Weg des Vertrauens schien ihm jedoch der einzig gangbare zu sein. Ein guter Vorsatz? Das würde sich zeigen müssen! Und welche Voraussetzungen hatte W. für ein gutes Gelingen seines Plans?
Was er wusste: Ich stehe am Anfang eines Weges dessen Stationen, sowie sein Ziel noch völlig im Dunkel eines weitgehend unerforschten Zeitkontinuums lagen. Was ihm nicht bewusst war: Er hatte es mit leibhaftigen Erdenbürgern zu tun – einer Spezies, welche die Weisheit schon aus dem Grund mit Löffeln gefressen zu haben schien, weil sie überleben musste und es einige Exemplare dieser Art tatsächlich schafften das mit wirtschaftlichem Erfolg zu tun.
Wer aber waren nun diese Erfolgreichen? Und wie musste man es anstellen, nicht erfolgreich zu sein? Im Prinzip hatte das Waldemar W. ja schon gewusst, oder zumindest geglaubt es zu wissen. Doch dies war lange her, denn seit gestern hatte er sich ja total verändert. Er befand sich auf dem besten Wege ein Außerirdischer zu werden. Aber er brauchte mehr Informationen. Unter Wahrung seines Inkognitos – er verkleidete sich als der alte Waldemar W. aus W. an der W. – besuchte er eine Party ehemaliger und vielleicht auch zukünftiger Freunde. Dort hörte er sich um. Da er den Anwesenden eine reelle Chance zur lockeren Kommunikation geben wollte trank er absichtlich viel, um nicht aufzufallen, fiel aber schließlich dann doch auf, wenn auch nur seines Humors wegen, mit dessen Hilfe er stets eine kleine Gruppe mit Kalauern unterhielt. Den Worten der andern Gesprächsteilnehmer lauschte er nebenbei die ganze Nacht andächtig.

Gleich nach seiner Ausnüchterung am nächsten Morgen, stellte er folgendes fest: Er konnte sich blendend erinnern! Sein Aufmerksamkeitsvolumen war, trotz des stattlichen Alkoholkonsums von 2 ½ Litern Rotwein durchgängig aktiv geblieben. Genau wie bei den meisten Gästen, die nicht mehr geschafft hatten – aber eben auf seine Weise anders. Ihm war vor allem lebendig im Gedächtnis erhalten geblieben, daß sowohl die Artikulation als auch die Gestikulation der Anwesenden nicht unbedingt mit den Gesprächsinhalten übereingestimmt hatte. Kurz: Was Waldemar früher, vor seiner „Erleuchtung“ für wohlmeinende Gesten in einer Kulturlandschaft ansah, das erachtete er jetzt eher für absolut unverständlich, oder aber zumindest für nichtssagende Abstrahierungen ausgekochter Gedankengänge.

Eine Frau beispielsweise, die ihm rein äußerlich sehr gefiel und er sie deshalb um Liebe anging, verwickelte ihn – nein ließ sich von ihm in einen sogenannten „Small-talk“ verwickeln. Nur um die Zeit totzuschlagen erzählte er völlig verwundert aber einigermaßen humorvoll aus seinem Leben. Dabei ertappte er sich, wie er ganz automatisch glückliche Umstände ausführlich beschrieb und weniger glückliche tunlichst verschwieg. Warum tat er das? Ahnte er ansonsten unverstanden zurückzubleiben?

Zusammen mit einem männlichen Artgenossen absolvierte er wiederum den Austausch technischen Wissens, sowie den Vergleich sportlicher Leistungen und die Aufzählung angehäufter Besitztümer, als wollten sie sich gegenseitig in allem übertrumpfen. Ein Weibchen war aber gar nicht anwesend. In beiden Fällen war ihm schließlich aufgefallen, daß die Gesprächsinhalte sofort nach dem Verlassen des Mundes verloren gegangen sein mussten, denn weder er selbst noch der andere konnten sich später an Einzelheiten erinnern. Wirklichkeit geworden war lediglich ein subjektiver Eindruck des Gegenübers. Vorbereitungen für ein positives Zusammenleben aller fanden also gar nicht statt – die Atmosphäre blieb, trotz manchen Scherzen bei steigendem Alkoholpegel, kühl, die Reaktionen essentiell distanziert.

Geschah dies bei den Erdlingen aus reinem Selbsterhaltungstrieb heraus, oder steckte etwas anderes dahinter? Und vor allem: Wie konnte ein angehender Außerirdischer unter solchen Bedingungen überleben? – Fragen, die gründliche Recherchen erforderten! Herauszufinden galt es wie groß die Überlebenschancen für Leute sind, deren Absicht es ist, von festen Grundlagen aus zu operieren. Menschen also, die ihre Zeit nicht mit Rangeleien verbringen möchten, sondern gleich damit beginnen wollen ein richtiger Mensch zu sein, um etwas Sinnvolles aufzubauen.

Dieses sogenannte „Sinnvolle“ sollte zumindest für die Dauer eines Lebens Bestand haben. Doch gerade das schien das Schwierigste zu sein. Soweit Waldemar W. in W. an der W. feststellen konnte waren die Bewohner des Planeten E. fast ausschließlich damit beschäftigt sich gegenseitig die Tour zu vermasseln. „Austricksen was geht!“, so lautete offensichtlich das oberste Motto aller. Ja, sogar Liebes-und Ehepaare rangen täglich um die Oberhand in ihren Beziehungen: Was existierte, orientierte sich am Darwinschen Prinzip der natürlichen Zuchtwahl – und das obwohl es sich eigentlich um intelligente Lebewesen handeln sollte! Gemessen an den ihm vorliegenden Verhaltensweisen hatte Waldemar W. wohl grade das Vorschulalter erreicht – immer vorausgesetzt, daß die Ultima ratio auf Erden im Verhaltensschema erwachsener Vertreter der Gattung homo sapiens gipfelte. Sollte er die Reifeprüfung also überhaupt anstreben?

Was Waldemar dringend brauchte war also: Beistand!
Eine Siebentagestour sollte ihm dazu verhelfen. Vergleichsweise wie der mythische Gott der meisten Erdlinge wollte er die Genesis des Planeten, wenn schon nicht wiederholen, so doch wenigstens nachvollziehen – in Gedanken natürlich – um ihre Mechanismen zu verstehen.

Am Morgen des folgenden Tages stand Waldemar früh auf, versenkte sich in sein Schicksal und sprach gedanklich: „Es werde Licht!“
Zusammen mit dem Morgen gedachte er eine Erleuchtung zu haben. Aber so einfach war das nicht. Nach der Wiedererschaffung von Himmel und Erde verlor sich seine Fantasie zumindest im Gewirr denkbarer Möglichkeiten, die auf den ersten Blick allesamt besser aussahen als die ihn umgebende Realität. Als er jedoch am Ende langer Entwicklungsprozesse beim absoluten Wesen ankam beschlich ihn ein unbestimmter Verdacht. Er hatte das dringende Gefühl etwas vergessen zu haben. Was konnte das sein? Und: War es womöglich sogar irgendwo unter den real existierenden Menschenwesen zu finden? Aber...wenn dies wirklich der Fall sein sollte…was war dann wieder schiefgegangen? – denn es fiel ja überhaupt nicht auf.

Waldemar blieb nichts anderes übrig als die Genesis traditionell zu Ende zu denken. Erneut erschuf er Meere und Länder, Fische und Vögel, den Garten Eden und schließlich Adam und Eva mit dem Affenmaul. Bald stand der Frühmensch in voller Pracht vor ihm. Und allmählich veränderte sich dessen äußere Gestalt. Die Frauen wurden auf einmal schön und die Männer erfinderisch – manchmal sogar umgekehrt, oder sogar völlig durcheinander. Und Waldemar W. aus W. dachte daran sich auszuruhen. In diesem Augenblick überkam ihn eine bessere Idee. Die Sonne war eben erst aufgegangen. Es wurde Licht und Waldemar der Wanderer in den Vorstellungswelten war schon wieder dort angekommen wo seine Reise begann. Das war es: Sechs fleißige Schöpfungstage hatte er pflichtmäßig durchlaufen – Abstecher und nicht verwirklichte Planspiele mit inbegriffen. Jetzt sollte der siebte Tag anbrechen und jetzt, genau jetzt (!) durfte er sich auf keinen Fall ausruhen.

In dieser Situation ertönte ein penetrantes Stimmlein, mitten in diese heilige Stille hinein. „Ruhe sanft“, krächzte es heiser. Sein Tonfall klang irgendwie unverschämt. Erschrocken fuhr Waldemar herum. Wer besaß hier die Frechheit seine Kreise zu stören? „Was zum…“ erhob er seine Stimme, indem er sich umdrehte und hinter sich einen kuriosen Gnom stehen sah. Eine Mischung aus Einstein und Rumpelstilzchen, nur etwa einen halben Meter groß. Der Kobold fiel ihm sofort ins Wort. „Ganz falsch!“ kreischte er durchdringend. „Ich bin dein brennender Dornbusch, dein Engel Mohammeds, dein shintoistischer Hausgeist, dein Gewissen vielleicht, aber der Teufel bin ich gewiss nicht“.
„Was willst du“?
„Ich habe eine frohe Botschaft für dich“.
„Bin ich gebenedeit unter den Männern“? lästerte Waldemar, den die geschwollenen Formulierungen des Trolls an fromme Sprüche aus Glaubensbüchern erinnerten.
Der Elf lachte so laut und ohrenbetäubend, daß einem schlecht werden konnte. Wäre ein Trinkglas in der Nähe gewesen, es wäre sicher zersprungen.

Wie groß er auch immer ist, der Grad der Erkenntnis, eine Gelegenheit zur Selbstkritik gibt es immer. Und egal wie hoch der Stand jedweder Intelligenz auch immer sein mag – der Augenblick in welchem die völlige Vernichtung droht, ist für jeden die günstigste (und vielleicht letzte) Chance dafür. Selbst Götter bleiben von solchen Situationen nicht ausgenommen. So mancher Olymp ist schon aus den Fugen geraten weil seine Bereitschaft zur Selbstkritik zu wünschen übrig ließ oder zu spät einsetzte.

„Dir kann das ab jetzt nicht mehr passieren“, tönte der Winzling in Waldemars Rücken, so, als hätte er seine Gedanken gelesen. Erneut kam er Waldemars verbalen Reaktionen zuvor, indem er krähte: „Ich kann nicht nur deine Gedanken lesen, sondern auch die jedes beliebigen Wesens aus diesem und jedem anderen Paralleluniversum. So viel Variationen es in deiner Fantasie oder der Fantasie von sonst wem auch geben mag, so viele Vorstellungswelten auch erschaffen werden, hier und irgendwo - in der Realität als Gespinst, oder in einem fiktiven Jenseits, als erlebbare Realität -, ich kenne sie alle! Was aber viel wichtiger ist: Ich weiß auch eine Antwort darauf! Du bist zwar auf dem besten Weg zu erkennen, aber deshalb weißt du noch lange nicht welche Reaktionen du von dir zu erwarten hast.

Waldemar erinnerte sich an das Heer historischer Gardesoldaten mit den prächtigen Uniformen – die, aus seinem Unbewussten kommend – einst das Symbol gemeiner Bourgeoisie zerschossen hatten. „Werde dir lieber deiner bereits existierenden Möglichkeiten bewusst. Vielleicht bist du ja ein Genie das gekreuzigt werden soll. Aber was hättest du damit gewonnen?“

„Sag die Wahrheit!“ erwiderte Waldemar barsch.
„Damit kann ich dir nicht dienen!“ schrie der Halbmeter entrüstet. „Ich komme aus einer anderen Wirklichkeit. Ich kann dir nur zeigen wie viele Wahrheiten es gibt oder geben könnte“.

Kaum hatte die kleine Gestalt in Waldemars Rücken ausgesprochen, da veränderte sich die ganze Welt. Das ging kaum merklich vor sich. Eine kleine Unregelmäßigkeit im Tageslicht (ein Flackern der Sonne vielleicht) mochte der Beweis dafür sein, oder auch nur das kurze Auffrischen der leichten Brise in den Zweigen des Parks über der Straße. Doch die Folgen zeitigten sich demgegenüber unverhältnismäßig gewaltig. Mit nicht messbarer Geschwindigkeit hatte Waldemar W. aus der schönen Stadt W. an der W. sein Universum verlassen und war in ein paralleles gewechselt. In der Parallelwelt, einer vergleichbaren Welt, in einem vergleichbaren Universum, war es ebenfalls Sommer. Genau wie im vorherigen Universum saß Waldemar W. in einem Vorort von W. in seiner Wohnung vor dem offenen Fenster seines identischen Studierzimmers und betrachtete die leicht vom Wind bewegten Zweige im Park auf der anderen Straßenseite. Hinter ihm befand sich sein – und hierin unterschied sich das neue Universum vom alten – Mitbewohner „Quezal“, der aussah wie eine Mischung aus Einstein und Rumpelstilzchen und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Er war 10 ½ Meter lang! (Eine Anakonda mit chondrodystrophischem Zwergenkopf.) Um Waldemars Stuhl gewickelt lag er da, die Türe versperrend, den Kopf zwischen Waldemars Arbeitsstuhl und dem Schreibtisch eingezwängt. „Ich will dich auf eine Reise entführen“ sagte er in wohlklingendem Bariton, „wir nehmen die Geisterbahn“.

Quezal aktivierte seine Sinne….
In einem weiten Bogen wurde Waldemar W. diesmal eher in Zeitlupe aus seinem Zimmer geschleudert, aus der schönen Stadt W., weit über den Flusslauf der W. hinaus, weit über seinen Heimatplaneten im 1. Paralleluniversum hinaus, über die Milchstraße deren Licht süßlich in der Ferne verging und weit über alle Galaxien hinaus. Weiter durch eine dunkle Membran, hinein in ein pulsierendes Etwas, das sich gleichzeitig wieder tief in seinem eigenen Innern zu befinden schien. Von dort aus ging’s an einer Fülle bizarrer Geräusche im rötlichen Halbdunkel vorbei, direkt hinter das Trommelfell einer gigantischen Ohrmuschel, die größer, vor allem aber eindrucksvoller und effektiver war als alle Radioteleskope der Welt zusammengenommen.

Vor lauter Schreck blieb Waldemar der Schrei, den er auszustoßen gedachte, im Hals stecken. Dafür hörte er andere Schreie, unendliche viele Schreie. Das war natürlich nicht auszuhalten. Waldemar bekam einen Schock! Dieser Zustand verhinderte zunächst eine Identifizierung der Stimmen…

Als er wieder einigermaßen normal denken konnte realisierte er, daß es sich gar nicht um Schreie handelte: Er nahm die Gedanken aller Lebewesen auf einmal wahr. Allesamt wurden sie, wie von einem Band abgespielt das unendlich viele Spuren besaß. Er hörte in das unheimlich gigantische Tonstudio eines Multiversums hinein. Fast gleichzeitig wurde er scheinbar wahnsinnig. Geistesblitze seines längst verstorbenen Urgroßvaters kreuzten sich in den Synapsen seines Gehirns mit den unausgegorenen Intuitionen seines Urururenkels, dazwischen brüllten die Stimmen unzähliger Schicksale mit hinein in die gewaltige und dissonante Sinfonie des Seins. Waldemars Furcht überstieg jedes ihm vorher bekannte Maß. Wo war er bloß hingeraten? Sein einziger Trost bestand darin nicht selbst ausfindig gemacht werden zu können, denn auf einmal verstand er die Intensität individueller Existenzen, wie auch die Beschränktheit masseorientierter Einzelwesen, deren Unfähigkeit über die aufgezwungene Dominanz der Gemeinschaft hinauszublicken, ihm akuten Brechreiz verursachte.

Nur Flucht! Dieser Gedanke beherrschte den Außerirdischen und Quezal hatte ein Einsehen. Er aktivierte erneut seine irdischen Sinne…


© Alf Glocker


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Kommentare zu "Außerirdischer und verwandte Berufe"

Re: Außerirdischer und verwandte Berufe

Autor: noé   Datum: 18.04.2014 3:27 Uhr

Kommentar: Gleich der Anfang ist doppelt...?
Der Wortwitz war gut, aber sicher unbeabsichtigt?: "...„Werdende Mütter können Arbeitsplätze geradezu aus dem Boden stampfen“... Im Stillen aber..." (grins)
Deine Phantasie hat ein sehr einnehmendes Wesen, mein lieber Bruder.
Wann hast Du nur all' die Zeit, so etwas zu denken - oder entsprudelt auch dieses alles mehr oder wenige unkontrolliert der Spitze (oder Kugel) eines Deiner schon zitierten Kurgelschreibers? Enial, kann ich nur sagen. Bei mir würden sich dauern Kontrollinstanzen wie versuchte Logik dazwischenschalten und alles im Keim ersticken. Wirklich bewundernswert!
Big Sis

Re: Außerirdischer und verwandte Berufe

Autor: Alf Glocker   Datum: 18.04.2014 12:18 Uhr

Kommentar: Danke, liebe BiSi. Kontrollinstanzen kann ich mir nicht mehr leisten, sonst müsste ich die Geschwindigkeit drosseln. Ich überprüfe nur kurz ob der Unsinn bereits zu groß geworden ist, oder nicht. Aber ich entdecke fast grundsätzlich, daß der "Geisterstift" recht behält...

CraBro Alf

Re: Außerirdischer und verwandte Berufe

Autor: noé   Datum: 18.04.2014 13:53 Uhr

Kommentar: Jetzt weiß ich auch, warum er sich bei mir etwas zurückgezogen hatte in der letzten Zeit - er wollte bei Dir die Schlagzahl erhöhen. Er sollte aber auch bedenken, dass man Bleistifte von Zeit zu Zeit spitzen oder ansonsten Tinte in den Stift nachfüllen muss, sonst geht plötzlich gar nichts mehr. Und ob der Verschleiß des "Scheibmaterials " im Sinne des Erfindersw ist, denke ich, ist sehr "großräumig" und verantwortungslos gedacht.
Es sei denn, er weiß von "Helferlein", Herr "Ingenör", die dadurch anderswo Kräfte freisetzen? ;o))
BiSi noé

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