Du bist sie

Der Schein der Nachttischlampe durchdrang die Flasche. War sie halbvoll oder halbleer? Solche Fragen interessierten sie nicht. Wichtig war, dass noch etwas zu trinken da war. Wenn die Nacht wieder zu lang wurde und kein Schlaf ihre Lider zu beschweren vermochte, griff sie nach dem Zaubertrank, dem Feuerwasser, das alle Sinne betäubte und Vergessen bescherte. Einsamkeit war ihr ständiger Begleiter – mit ihr trank sie, wenn sie in ihr ertrank.
Zwei große Schlucke füllten sie aus. Als das Gesöff die Kehle runterrann spürte sie das wohlige Kribbeln dem ein schwaches Schwindelgefühl folgte. Sie musste immer mehr trinken je mehr sich ihr Körper an das Gift gewöhnte. Adaption – eine teuflische Sache. Der Körper verändert sich, um zu überleben. Wollte sie das? Nein! Verrecken wollte sie.
Als die Flasche leer war entschied sie sich etwas frische Luft zu schnappen und zur nächsten Tankstelle zu torkeln, um Nachschub zu besorgen. Beim Aufstehen merkte sie, dass der Alkohol doch etwas Wirkung hinterlassen hatte, da ihre Beine sie nicht sicher zu tragen wussten. An der Wand entlang bewegte sie sich Richtung Tür. Die Schlüssel, die neben dem Ausgang hingen, bekam sie erst beim zweiten Versuch zu fassen. „Verdammt, was ich los mit dir. Bist doch besoffener als du gedacht hast“, sagte sie zu sich und bestätigte das mit einem tiefen Rülps. „Mensch, Bäuerchen gemacht. Fein“, scherzte sie und lachte ein ehrliches Lächeln. Sie fand sich witzig. Ihre Laune wurde besser.
Auf der Straße grüßte sie die Nacht mit frischer Dunkelheit. Ihr Kopf wurde klarer, was ihr gar nicht gefiel. Erinnerungen strömten hinein, die dort nicht verloren hatten. Sie dachte an ihn. Es war immer ein Er. Immer war es ein Er, der eine Sie verarscht und betrogen hatte. Und diese eine Sie musste damit klarkommen. Wieso konnte man so was nicht voraussehen und sich gar nicht auf solche Typen einlassen? Aber danach weiß man es immer besser. Und wie sollte man dann auch dramatische Geschichten schreiben? Wie diese hier?
Sie schaute verärgert zum Typen der neben ihr saß und auf seinem Laptop tippte. „Musste du dir immer so was ausdenken? Konntest du mich nicht als ein fröhliches, sorgloses Mädel erfinden?“, rief sie ihm deutlich lallend entgegen. Er schaute sie nicht an, tippte nur weiter.
„Du Scheißkerl! Wieso muss ich mitten in der Nacht auf die Straße? Ich will nach hause, ins Bett!“
Keine Reaktion.
Nun wurde sie richtig wütend, holte weit aus und wollte voller Wucht ihre Faust im Gesicht des Unbekannten platzieren. Doch ihr Schlag verfehlte das Ziel und traf ins Leere. Sie verlor das Gleichgewicht und wankte etwas. Doch bevor sie auf dem Boden landete blickte der Schreibende schnell auf, stieß den Laptop von seinem Schoß und fing sie auf.
„Pass bitte auf. Ich brauche dich noch für die weitere Geschichte. Verletzt nützt du mir gar nichts, junges Fräulein“, sagte er zu ihr mit einem ironischen Lächeln im Gesicht.
Sie schaute verdutzt zu ihm auf und fragte halblaut: „Wie ist mein Name? Sag mir wenigstens wie ich heiße?“
„Du bist sie. In dieser Geschichte hast du keinen Namen.“


© koollook


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