In einer Welt wie der unserigen ist es sehr einfach, Fantasy Abenteuern zu folgen, aber unheimlich schwer, Märchen zu glauben. Die unendlichen Wälder von Mittelerde bereiten eine größere Lust als der dunkle Tann des Spessarts. Tinkerbell scheint realer als die Heinzelmännchen. Und doch wissen wir, dass all diese Figuren Illusionen sind, Träume unserer Kindheit, denen wir nur zu gerne folgen möchten.
Dabei übersehen wir leicht die einzig wahren Boten dieser anderen Welt. Sie leben direkt unter uns und bleiben doch weitgehend unentdeckt. Eine dieser besonderen Spezies habe ich jedoch kürzlich ausgemacht und seitdem beobachte ich sie genau, meine Brille.
Nun werden sie sicherlich entgegnen, dass eine Brille doch nichts Besonderes und ein von Menschen hergestellter Gebrauchsgegenstand sei. Wer dies zu bestreiten suche, dessen Gesundheitszustand ist doch ernstlich zu untersuchen.
Keineswegs bestreite ich diese Tatsachen, die Kombination aus geschliffenem Glas und leichtem Metall, aus Ohrbügeln und Nasenklemmer. Und doch, irgendwann nachdem die Brille ihren Besitzer gefunden hat, beginnt sie, ein Eigenleben zu entwickeln. Nicht auf der Nase, dort wo sie ihren stummen Tagesschlaf schlummert oder gar im Etui, welches gelegentlich doch noch verwendet werden soll.
Das wahre Leben einer Brille beginnt in dem Augenblick, wenn wir sie beiseite legen. Im Bad, auf den Fernsehtisch, in der Küche. Dann, wenn sie sich unbeobachtet glaubt, durchwandert sie die Wohnung. Stöbert in den undenkbarsten Ecken herum. Lebt ihr freies, wildes Leben eines Hausläufers und erstarrt erst just in dem Augenblick, in dem sie die Stimme des Herrn hört: „Weißt du wo meine Brille liegt?“
Wie viele Stunden habe ich schon damit verbracht, sie zu suchen. Das Gehirn durchzuforsten, wo ich sie abgesetzt haben mochte und dann, wenn ich mich daran zu erinnern glaubte enttäuscht erkennen musste, dass sie sich mit Sicherheit nicht an diesem erwähnten Platz befand. Schließlich, nach mehrmaligen durchstöbern der gesamten Wohnung, kriecht sie aus ihrem Versteck hervor. Legt sich unschuldig ins Licht blinzelnd direkt vor meiner Nase auf einen Schrank, von dem ich mit absoluter Sicherheit weiß, dass sie sich davor nicht dort befunden hatte.
Auf meine Fragen bleibt sie stumm. Starrsinniges Schweigen scheint die beste Waffe dieser Spezies zu sein und auch auf meine Ausführung hin, dass ich ihre Welt verstanden habe, bleibt sie für mich durchsichtig und still.
Schon einige Male habe ich überlegt, sie mit einer Kette um den Hals zu tragen. Doch finde ich das nicht besonders fair. Jedes Geschöpf sollte seine Freiheit behalten und meine Brille wird dadurch sicher nicht glücklicher. Immerhin ist sie bislang ja immer noch zu mir zurückgekommen, so scheint es ihr bei mir doch einiger Maßen zu gefallen.
So lasse ich ihr die Welt, die mir verschlossen bleibt und freue mich daran, dass sie es ist, die mich für die Wunder der Welt sehend gemacht hat.


© Mark Gosdek


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Kommentare zu "Zauberwelt"

Re: Zauberwelt

Autor: Picolo   Datum: 06.12.2013 17:16 Uhr

Kommentar: Siehst Du, genau deswegen geh ich sogar mit meiner Brille schlafen... und Morgens ist sie trotzdem weg...
Richtig tolle Geschichte Mark
LG Picolo

Re: Zauberwelt

Autor: Mark Gosdek   Datum: 06.12.2013 19:13 Uhr

Kommentar: Danke Micha, ich wusste, dass jeder Brillentränger sich darin wiederfindet :-)

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