Sechzehn Jahre später

Phrynia

Sie verkroch sich ganz hinten zwischen den zwei Regalen und bemühte sich ihre Atmung so flach wie möglich zu halten. Mit pochendem Herz drückte sie sich gegen die Wand und erschrak als diese nachzugeben schien. Sie drehte sich zu ihr um und schaute in die Augen ihrer Mutter. Fast erschrak sie, so lebendig wirkten sie. Wie konnte sie das nur vergessen, hier hing doch ein gestickter Wandteppich ihrer Mutter. Sie musterte die schön gestickte Frau, ihre langen roten Locken und ihre warmen braunen Augen. Ihr stiegen die Tränen in die Augen und schnell wischte sie sie weg.
Nicht jetzt, nicht hier, dachte sie.
Als sie die Schritte ihrer Zofe langsam näher kommen hörte, hielt sie wieder den Atmen an und unterdrückte ihr leises Schluchzen. Andra kam ziemlich dicht an der Nische vorbei in der sie saß, woraufhin sie sich noch mehr ins Dunkel drückte.
„Phrynia! Verdammt noch mal! Wo steckst du? Lady Bridget wartet schon und du weißt wie ungern sie das tut! Nun komm schon, sonst bekomm ich wieder ärger von deinem Vater und dann bin ich bald nicht mehr deine Zofe!“, rief Andra durch die gesamt Bibliothek.
Phrynia blieb still in ihrer Nische sitzen und unterdrückte jegliche Geräusche, die ein Körper so von sich geben konnte. Nun hörte sie wie Andra wütend wieder aus der Bibliothek stapfte. Fast tat sie ihr leid, aber verstand denn hier wirklich niemand, dass Phrynia auch nur ein Mensch war und mal eine Pause von allem benötigte. Als sie nichts mehr von Andra hörte seufzte sie laut auf und lehnte sich mit dem Kopf wieder gegen den Wandteppich. Mit den Fingern spielte sie in ihren Haaren, musterte diese und schließlich schlich sich doch ein Lächeln auf ihr Gesicht- wenigstens die Haare hatte sie von ihrer Mutter. Eigentlich wunderte sie es fast das Andra sie nicht gefunden hatte. Manchmal kamen ihr ihre Haare so rot vor, dass sie glaubte, man müsste sie auch im Dunkeln sehen können, was natürlich Unsinn war. Langsam und leise begann sie sich aufzurichten.
Jetzt nur keinen lauten Mucks, dachte sie für sich. Sonst hab ich Andra gleich wieder auf den Versen.
Wieder einmal kam ihr ihre Zofe mehr wie eine Spionin als wie eine Haushälterin vor. Als Phrynia nun schließlich aus dem dunklen Schatten trat, hätte sie vor Schreck fast laut aufgeschrien.
„Brayden! Was tust du hier?“, zischte Phrynia den befreundeten Lord, eines kleinen Städchens namens Braigh Marr, zu.
„Die Frage sollte wohl eher lauten: Was tust du hier, Nia? Versteckst dich wohl wieder vor dem Unterricht! Hab ich recht?“, neckte er sie mit einem verschmitzten Lächeln.
„Das geht dich gar nichts an!“, gab sie verärgert zurück. „Du bist nicht mein Vater und ich bin dir keine Rechenschaft schuldig!“
„Aber bald vielleicht.“, gab er mit noch breiterem Grinsen zurück.
„Wie bitte?“
„Ach nichts! Komm, Nia! Wir gehen etwas spazieren draußen. Jetzt hast du Lady Bridget sowieso schon verärgert, da kannst du auch gleich vom Unterricht ganz fern bleiben.“ Er streckte ihr einladend seinen Arm hin und zögernd hackte sie sich ein. So gern sie ihn mochte, so anstrengend konnte er sein. Sie wusste, dass ihr Vater darüber nachdachte sie mit Lord Brayden zu verheiraten. Phrynia liebte ihn auch. Sie war sich nur nicht sicher auf welche Art und Weiße.

Draußen angekommen führte er sie über den kleinen Schlosshof nach Osten in den Schlossgarten. Phrynia war schon ewig nicht mehr dort gewesen. Der ganze Unterricht und das Auswendiglernen der Etikette beanspruchten sie dermaßen, dass sie es in letzter Zeit kaum noch aus dem Schloss schaffte, außer für ihre Reitstunden- natürlich! Brayden führte sie zu einer Bank neben einem Brunnen. Das war ihr Lieblingsort hier draußen, denn neben dem Brunnen stand eine Statue ihrer Mutter. Stolz und aufrecht stand sie da und Phrynia kam es wann immer sie hier saß so vor, also würde ihre Mutter immer über ihr wachen. Ihre Mutter war kurz nach ihrer Geburt an Kindsbettfieber gestorben. Phrynia hatte sie nie kennen gelernt und doch fühle sie sich ihr nahe wie niemandem.
Brayden neben ihr hatte inzwischen ihre Hand genommen. Sie starrte verwundert auf ihre verschränkten Finger.
„Nia, wir müssen da mal über etwas reden.“
„Ich weiß, Bray, aber kann das nicht noch warten?“ Sie lächelte ihn traurig an.
„Dieser Platz hier macht dich immer so nachdenklich. Ich frage mich gerade ob es gut war dich hierher zu bringen, um dich was zu fragen“, gab er zu.
„Dieser Platz macht mich zu der, der ich bin“ Sie schaute ihm in die meeresgrünen Augen. Sie waren so unendlich sanft, als er sie ansah.
„Ich kann dich wohl nicht für die Idee von mir und deinem Vater begeistern.“, sagte er mit etwas schiefem Lächeln.
„Du weißt, dass ich dich liebe, aber ich weiß nun mal nicht auf welche Art. Ich möchte mir darüber erst im Klaren sein bevor ich dir irgendwelche Versprechen mache.“ Sanft sah sie ihn an und sah das Leuchten in seinen Augen. „Tu das nicht.“, bat sie ihn.
„Was soll ich nicht tun? Dich lieben?“, fragte er mit einem kleinen Lächeln auf dem Mund. „Wenn das nur so einfach wäre. Wir kennen und seit wir Kinder sind, Nia, und ich habe dich schon immer geliebt. Nun tu ich es eben auf andere Weiße als früher. Aber ich habe nicht vor dich zu irgendetwas zu drängen, so gut solltest du mich zumindest kennen!“ Er klang enttäuscht und auch etwas wütend und sie verstand ihn sehr gut.
„Ich weiß, dass du mich nie zu etwas drängen würdest, dass ich nicht will. Aber zu wissen, dass du mich auf diese eine bestimmte Art liebst und ich dir aber nicht genau sagen kann auf welche ich dich liebe, macht mich verrückt. Ich fühle mich schuldig, dabei hab ich keinen Grund dazu.“ Langsam wurde sie auch wütend.
„Ich gebe dir alle Zeit die du brauchst um dir darüber klar zu werden, ob du mich heiraten möchtest oder nicht.“ Er sah sie noch einmal ernst an, dann stand er auf.
„Warte! Du musst doch deswegen jetzt nicht gehen. Bleib! Wir sind doch immer noch Freunde!“
„Sind wir das, Nia? Weißt du wie schwer es für mich ist dich zu sehen und zu wissen dass ich dich nicht so berühren darf wie ich gern würde? Das du mich nicht auf die gleiche Art siehst wie ich dich sehe?“ Nun wurde er lauter.
„Ich weiß doch gar nicht auf welche Art ich dich sehe, verdammt! Und wenn wir nur deswegen keine Freunde mehr sein können, dann weiß ich nicht, ob du wirklich jemals mein Freund warst!“, schrie sie ihn an. Ihr Blick verschwamm.
„Verstehst du mich denn gar nicht? Ich liebe dich! Es macht mich fertig dich ständig zu sehen, ohne genau zu wissen woran ich bei dir bin. Ich kann dich nicht ständig sehen und so tun als wäre nichts. Deine Nähe nimmt mir die Luft!“ Er blickte sie verzweifelt an.
„Wenn das so ist, ist es vielleicht doch das Beste wenn du gehst. Aber wie soll ich denn herausfinden was ich empfinde, wenn du nicht bei mir bist?“ Die Tränen liefen ihr die Wangen herunter.
Nun trat er doch wieder einen Schritt auf sie zu, stellte sich vor sie und sah sie einfach nur an. Dann beugte er sich zu ihr herunter und gab ihr einen zärtlichen Kuss auf die Stirn. Als er sich wieder entfernte sah er ihr in die Augen. Sein Blick war so sanft, dass Phrynia die Luft anhielt. Gebannt starrte sie in seine Augen, während er ihr tränennasses Gesicht mit seinen starken und rauen Händen umfasste. Und dann geschah es. Langsam zog er sie zu sich herauf ohne dabei den Blick von ihren Augen zu wenden. Als sie nun eng umschlungen dastanden beugte er sich etwas vor und berührte zärtlich und vorsichtig ihre Lippen mit den seinen. Nach einer Weile löste er sich von ihr und sah sie mit einer Sanftheit in den Augen an, die sie alles um sich herum vergessen ließ. Sie spürte seinen heißen Atem an ihrem Hals und den Hauch eines Kusses.
„Ich liebe dich!“, flüsterte er in ihr Ohr.
Dann war er weg und Phrynia stand allein im Garten neben dem Brunnen, während es zu regnen begann und fragte sich was eben passiert war.

Sie rannte durch den strömenden Regen in die Eingangshalle, in der sie einen kurzen Moment stehen blieb. Phrynias Kleidung triefte vom Regen und gerade als sie sich umziehen gehen wollte, trat Lady Bridget aus einer Tür neben ihr.
„Da sind Sie ja!“, sagte sie und schaut überrascht an ihren Kleidern rauf und runter. „Sie sind doch wohl nicht bei diesem Wetter im Garten gewesen?“
Phrynia lächelte entschuldigend.
„Wie auch immer, Prinzessin. Ich hab mit Ihrem Vater gesprochen wegen der versäumten Geschichtsstunde und konnte Ihn schließlich davon überzeugen, dass diese nötiger ist als eine weitere Reitstunde. Das bedeutet, dass Sie jetzt bitte in ihre Räume gehen, sich umziehen und dann in Ihr Schreibzimmer kommen.“, befahl Lady Bridget Phrynia mit einem überheblichen Blick.
Phrynia starrte sie mit offenem Mund an.
„Na nun kommen Sie schon!“ Die Lady zog sie an ihrem nassen Handgelenk auf die Treppe zu.
„Aber Lady Bridget...“ weiter kam sie nicht.
„Nichts aber! Sie müssen sich genauso, wenn nicht noch mehr, um Ihre Bildung kümmern, wie um Ihre Sportstunden!“, schnappte die Lady.
Phrynia schnaubte wütend, doch nach einem weiteren giftigen Blick der Lady hielt sie den Mund.
Wie kann Sie es wagen, dachte sie wütend, mich einfach zu verpetzen.

Wütend und von Wasser durchnässt stapfte Phrynia die Treppe zu ihren Räumen hinauf und an ihren Wachen an der Tür vorbei die die Prinzessin überrascht anschauten.
Natürlich, dachte Phrynia, das fällt ihnen auf. Aber wenn ich torkelnd vor ihnen auf den Boden falle brauchen sie erst Anweisungen von Andra um etwas zu bemerken. Sie bedachte die Wachen mit einem giftigen Blick, die daraufhin sofort ihren senkten.
Phrynia hatte seit einer Weile Schwindelanfälle und keiner konnte sagen warum. Sie gingen immer nur ein paar Minuten und endeten mit Ohnmachtsanfällen. Letzte Woche hatte sie einen direkt vor ihrem Räumen, vor den Augen der Wachen bekommen. Aber erst als Andra einen kurzen Moment später aus der Tür trat wurde ihr geholfen. Andra hatte Phrynia erzählt, dass es vermutlich daran lag, dass die Wachen davon überfordert gewesen waren, aber damit konnte sie Phrynia nicht beschwichtigen. Ihre Wachen hatten sie, laut Andra, einfach auf dem Boden liegend angestarrt.
In ihrem Schlafzimmer angekommen, rief sie Andra zu sich. Diese kam herein und musterte sie neugierig. Andra war eine kurvige, kleine Frau mit gutmütig dreinblickenden, braunen Augen und honigblonden Haaren. Phrynia schätze sie auf etwa 30 Jahre.
Andra half ihr schnell aus den nassen Kleidern herauszukommen und suchte ihr ein neues Kleid aus, während Phrynia sich trocken rubbelte. Schnell half sie ihr wieder in ein trockenes Kleid, doch bevor Phrynia das Zimmer verlassen konnte, hielt Andra sie an ihrem Handgelenk fest.
„Wo waren Sie Prinzessin?“, fragte sie mit durchdringendem Blick.„Ich habe Sie überall gesucht!“
„Ich hatte keine Lust auf Geschichte.“, mürrte Phrynia.
„Aber Prinzessin, dass gehört doch zu Ihrer Ausbildung!“
„Ich weiß! Und nun hab ich das Problem! Die Lady hat mich bei meinem Vater verpetzt! Jetzt hab ich Reitstundenverbot für heute und stattdessen Gesichte.“
„Wann soll Lady Bridget denn bei Ihrem Vater gewesen sein?“
„Ich denke mal so vor einer halben Stunde, sonst hätte Sie mich doch schon früher aufgespürt. Sie hat schließlich von Ihrem Zimmer aus einen Blick auf den Schlossgarten und in diesem war ich noch bis vor etwa einer viertel Stunde“, meinte Phrynia verwirrt. „Warum, Andra?“
„Weil ich bis vor einer viertel Stunde noch bei Ihrem Vater war und das circa eine halbe Stunde lang, während Sie sich versteckten.“, gab Andra mit strengem Blick zu bedenken. „Ich will hier niemanden beschuldigen zu lügen, Prinzessin.“
„Natürlich nicht! Aber es scheint schon merkwürdig.“, überlegte Phrynia laut. „Ich werde der Sache nachgehen, aber bitte verraten Sie meinem Vater nichts davon.“
„Nein. Natürlich nicht!“, versprach Andra.
Wer sitzt nun am längeren Hebel, meine liebe Lady Bridget. Phrynia grinste fröhlich während sie ihre Räume in Richtung Schreibzimmer verließ.

Im Schreibzimmer angekommen wartete Lady Bridget schon auf sie. Phrynia begrüßte sie fröhlich und wurde so von dieser mit einem verwirrten und überraschten Blick bedacht. Auf Phrynias Tisch lag schon ein Buch. Sie ließ sich gegenüber der Lady auf ihrer Seite des Schreibtisches sinken und blickte auf das Buch. Nur mit Mühe unterdrückte sie einen Seufzer und verdrehte genervt die Augen.
„Biberkacke!“, fluchte sie leise, was ihr einen bösen Blick von Lady Bridget einheimste.
Gelangweilt öffnete sie das Buch mit der Aufschrift Die jüngere Geschichte von Trestill. Sie kannte das Buch inzwischen in- und auswendig, da ihr Vater es ihr früher oft vorgelesen und sie es auch bei der Lady schon öfter durchgegangen war.
Einst hatte ihr Großvater Kastor ganz Trestill regiert. Er hatte drei Gaben: Güte, Grausamtkeit, Gerechtigkeit. Jede dieser Gaben wendete er in den passenden Situationen passend an. Als seine Frau, die Königin, ihm dann drei Kinder schenkte, Drillinge, war er überglücklich. Doch kurz darauf starb seine Frau, wie auch Phrynias Mutter, an Kindsbettfieber. Jeder seiner Söhne hatte eine seiner Gaben geerbt. Keir war der Grausame, Kendrew war der Gütige und Kendrick, ihr Vater, der Gerechte. Als es nun an der Zeit war für einen der Söhne den Vater vom Thron abzulösen, ergab sich das Problem, dass alle gleichalt waren und keiner von ihnen das Vorrecht aufgrund des Alters hatte. Die Brüder zerstritten sich und Trestill wurde in drei Reiche aufgeteilt. Jeder der Brüder regierte seinen Teil. Das Reich ihre Vaters lag im Süden. Inzwischen hatten er und Kendrew sich wieder vertragen, nur noch Keir bekämpfte beide. Auch Phrynia mochte ihren Onkel Kendrew sehr und besuchte ihn so oft sie konnte, da auch ihr Großvater, der frühere König Kastor, bei ihm lebte um Kendrew zu unterstützen. Er war zu gutgläubig und hatte keine Frau, die ihn von Dummheiten abhielt. Seine Frau hatte schnell die Flucht ergriffen, nachdem ihr gemeinsamer Sohn geboren war. Kendrew war ihr angeblich zu nett gewesen. Phrynia fand das sehr merkwürdig. Was war falsch daran nett zu sein? Nun lebte Kendrew allein mit seinem Sohn Phillo und seinem Vater, so wie Phrynia allein mit ihrem Vater lebte. Keir hingegen hatte eine Frau, die genauso grausam war wie er. Alle gingen ihr aus dem Weg soweit Phrynia wusste. Die beiden hatten eine Tochter namens Paige, aber man hörte nicht viel von ihr.
Gedankenverloren starrte Phrynia aus dem Fenster. Sie wusste dass Keir grausam war, aber dennoch hatte sie den Wunsch ihren Onkel einmal kennen zu lernen. Doch immer wenn Kendrick auf ihn traf verhinderte er gekonnt, dass Phrynia Keir begenete. Sie verstand das alles nicht.
Lady Bridget räusperte sich laut. Sie schien zu merken, dass Phrynia nicht bei der Sache war.
„Lernen Sie bitte Prinzessin!“
„Natürlich!“, gab Phrynia zuckersüß zurück.
Verunsichert starrte die Lady sie an. Phrynia war eigentlich für ihre Diskussionen bekannt. Doch diesmal hatte sie einen Grund zum Schweigen. Ein Geheimnis dass Lady Bridget unter Umständen in Schwierigkeiten bringen könnte, denn der König mochte es nicht, dass man ihn in Angelegenheiten, die mit ihm zu tun hatten log. Und deshalb konnte Phrynia heute sogar die Lady ertragen.

Aufgeregt stürmte Phrynia die Treppen ihres Schreibzimmers hinunter. Nun konnte sie in den Stall. Endlich hatte Lady Bridget aufgegeben ihr den Geschichtsstoff in den unkonzentrierten Verstand hauen zu wollen. Phrynia Gedanken waren, während sie in ihrem Schreibzimmer gesessen hatte und alles still war, immer wieder zu Brayden geschweift. Sie konnte sich sein Verhalten trotz seines Geständnisses nicht erklären. Er hatte nicht das Recht sie einfach zu küssen, schließlich waren sie nicht verlobt. Wenn er sie wirklich haben wollte, könnte er ihren Vater um ihre Hand bitten, doch das tat er nicht, dass wusste sie. Aber verstehen konnte sie es deshalb trotzdem nicht.
Am Ende der Treppe angekommen riss sie die Tür auf und prallte mit jemandem zusammen, der schnell reagierte und sie gerade noch an den Hüften hielt, bevor sie nach hinten umzukippen drohte. Ihre Hände klammerten sich an ein weißes Hemd und als sie nach oben blickte grinste Brayden sie verschmitzt an.
„Nicht so stürmisch, Nia! Ich weiß du konntest es kaum erwarten mich zu sehen.“, scherzte er.
„Bild dir bloß nichts ein, Bray!“, grinste sie zurück.
Einen kurzen Moment sahen sich die beiden weiter unentwegt in die Augen. Phrynia bemerkte zum ersten Mal, dass sich um Braydens grüne Iris ein blauer Kreis zog.
Deshalb erinnern mich seine Augen immer an das Meer!
Verträumt schaute sie ihn an. Brayden grinste schief zurück. Er hielt sie immer noch fest und auch sie klammerte sich weiter an sein Hemd.
„Wo wolltest du denn so schnell hin?“, fragt er sie.
„Zum Stall. Und du?“, erwiderte sie nun etwas schüchtern, weil ihr die Hände, die er nun auf ihre Schultern gelegt hatte, bewusst wurden.
„Ich wollte zu deinem Vater. Solltest du nicht eigentlich schon längst in Stall sein?“ Brayden sah sie überrascht an.
„Doch, aber da ich heute Morgen den Geschichtsunterricht verpasst hatte, musste ich erst diesen nachholen.“ Sie grinste ihn frech an.
„Aber doch nicht etwa wegen mir.“ Er lachte.
„Natürlich wegen dir, aber ich dachte mir auch schon als ich mich in der Bibliothek vor Lady Bridget versteckte, dass ich nicht wirklich Lust auf eine Geschichtsstunde hätte.“
Nun lachte er laut. Brayden hatte eine schöne, melodische aber auch tiefe Stimme. Sie kannte keine andere Stimme, außer der ihres Vaters, der sie so gern lauschte.
„Außerdem schien mir ein Spaziergang durch den Garten sehr viel entspannender zu sein.“ Nun grinste sie ihn schief an.
„Ja, das finde ich aber auch!“, er lächelte. „Und die andere Sache war auch sehr schön.“, fügte er beinahe etwas schüchtern hinzu.
Phrynia war überrascht, dass er die Sache so direkt ansprach und spürte seine Hände heiß auf ihren Schultern, wie sie nun langsam über ihren Hals fuhren und schließlich auf ihren Wangen ruhten. Braydens schöne Augen näherten sich als er seinen Kopf zu ihr senkte und einen Auenblick glaubte sie daran – und wünschte es sich auch – in ihnen zu ertrinken.
„Nicht.“, flüsterte sie unsicher, doch es genügte damit Brayden inne hielt.
Er zog sich zurück, ohne den Blick abzuwenden. Sie sah die Verletzlichkeit darin und auch den Zorn, der kurz aufblitze. Dann sprachen seine Augen nur noch von einer unglaublichen Traurigkeit.
„Ich will dir nicht wehtun. Deshalb darf das nicht geschehen, solange ich nicht weiß, was ich fühle.“, sagte Phrynia mit leiser, aber bestimmter Stimme.
Sie hörte sein verächtliches Schnauben nur zu klar.
„Bray, bitte! Ich weiß es ist viel verlangt, aber bitte zieh dich nicht vor mir zurück, nur weil ich nicht weiß was ich fühle. Außerdem bist auch du nicht leicht zu verstehen. Ich meine, warum sagst du mir, dass du mich liebst, aber meinen Vater bittest du nicht um meine Hand. Also kannst du es auch nicht so ernst nehmen.“, sagte sie fast flehend.
Einen Moment blickte er sie verwirrt an. Dann verstand er ihren Unterton und Verbitterung breitet sich über seinem Gesicht aus.
„Ich hatte deinen Vater bisher nicht gefragt, weil ich mir nicht sicher war, was du für mich empfindest und ich dich nicht in eine Ehe zwingen wollte. Nach dem Kuss dachte ich, dass auch du dir nun, trotz deiner Worte des Zweifels, sicher warst, dass du mit mir mehr als nur befreundet sein willst. Aber da habe ich mich wohl geirrt. Eigentlich war ich gerade auf dem Weg zu deinem Vater, um ihn um deine Hand zu bitten. Das werde ich nun lieber nicht tun.“ Sie sah die Wut und die Tränen in seinen Augen.
„Bray, bitte…“ Verzweifelt versuchte sie Brayden an seinen Armen festzuhalten, aber er entwand sich Phrynias Griff.
„Nein, Nia! Sag es nicht! Ich will es nicht hören. Ich will keine Freundschaft. Ich will dich und zwar ganz und gar, ohne Kompromiss. Und wenn das nicht geht, dann möchte ich nichts mehr mit dir zu tun haben.“ Mit vor Zorn verengten Augen wirbelte er herum und ging mit schnellem Schritt davon. Phrynia sah ihm nach, unterdrückte die Tränen und war starr vor Schreck.

„Megan! Megan! Verdammte Biberkacke! Wo bist du?“ Wütend stapfte Phrynia durch den Stall und verschreckt damit die Pferde in den Boxen.
Vor der Box ihrer schwarzen Stute Fleur Noire blieb sie stehen. Phrynia streichelte zart über Fleurs Nüstern und gab ihr einen Kuss.
„Oho, es gibt also doch jemanden, den du küsst.“ Zwinkernd kam Megan um die Ecke in den Stallgang.
„Sehr witzig“ Phrynia schnaubte.
„Was ist denn los? Erstens kommst du erst jetzt zur Reitstunde und zweitens siehst du aus als wäre dir Lady Bridget über die Leber gelaufen.“ Megan grinste frech und blickte sie neugierig an.
„ Also erstens: Lady Bridget meinte ich müsste meine verpassten Geschichtsstunden nachholen und zweitens ist mir diesmal nicht die Lady, sondern Brayden über die Leber gelaufen.“
„Lord Brayden? Was ist denn los?“ Nun sah Megan Phrynia besorgt an.
„Er hat mich geküsst.“, gestand diese nun.
Mit großen blauen Augen sah Megan sie an. Als sie ungläubig den Kopf schüttelte fielen ihr ihre wilden, blonden Locken ins Gesicht. „Und was hast du getan?“
„Naja, was sollte ich groß tun. Ich war geschockt und bevor ich es registrierte war es schon wieder vorbei. Danach hat er mir gesagt, dass er mich liebt.“
Phrynia konnte sich nicht vorstellen, dass Megan ihre Augen noch weiter aufreißen könnte, aber diese schaffte es tatsächlich.
„Gerade eben bin ich Brayden dann noch einmal begegnet. Er wollte zu Vater um, um meine Hand zu bitten, aber als ich ihm dann klar machte, dass ich trotz des Kusses nicht weiß, was ich für ihn empfinde, ist er wütend abgerauscht. Ich hab ihn noch nie so erlebt. Er meinte auch, dass er mit mir nichts mehr zu tun haben wolle.“ Nun fiel es ihr doch schwer die Tränen zurück zu halten.
Megan schien es ihr anzusehen und kam schnell auf sie zu. Sie legte die Strohballen die sie im Arm trug auf den Boden und schloss Phrynia in ihre Arme. Nun gab es kein Halten mehr. Phrynia schluchzte hemmungslos an ihrer Schulter und dicke Tränen liefen über ihre Wangen auf Megans Schulter. Megan und Phrynia waren schon seit Kindertagen Freundinnen trotz ihrer unterschiedlichen Stellungen. Phrynia die Königstochter und Megan die Tochter des Stallmeisters.
„Nia, ich versteh dich ja. Du warst ewig mit ihm befreundet, aber liegt es nur daran, dass du weinst?“
„Ich weiß es doch nicht. Ich vermisse ihn jetzt schon schrecklich, aber ich habe Angst, dass wenn ich es zulasse, dass da mehr ist, unsere Freundschaft kaputt geht.“
„Aber weißt du Nia, jetzt hat er eure Freundschaft sowieso schon beendet. Wenn man es aus diesem Winkel betrachtet hast du nun nichts mehr zu verlieren. Meinst du nicht, dass du ihm vielleicht die Chance geben solltest, dich nicht nur als Freundin sondern als Frau zu lieben. Ihr wart immer sehr gute Freunde, warum solltet ihr dann nicht auch ein glückliches Liebespaar sein. Ich sehe doch wie du ihn ansiehst und von ihm sprichst. Glaub mir, falls du dir nicht sicher bist: Auch du liebst ihn mehr, als nur einen Freund. Und nun lass es zu, sonst verlierst du ihn ganz und ich weiß, dass du das nicht ertragen könntest, weil du ihn liebst. Eure Freundschaft kann nicht mehr zerstört werden, aber eure Liebe füreinander.“ Megan schob Phrynia nun etwas von sich und wischte ihr die Tränen von den Wangen.
„Meinst du wirklich, Meg?“ Phrynia sah ihr ernst in die Augen.
„Ja, das meine ich wirklich. Und nun sattel Fleur auf. Ich werde einen Boten zu Brayden schicken. Ich gebe dir Bescheid, wenn er wieder da ist.“ Megan lächelte und zwinkerte Phrynia wieder zu. Jetzt musste auch Phrynia wieder lächeln.
„Danke! Du bist die Beste!“ Phrynia legte Megan einen Arm um die Schulter und drückte ihr einen Kuss auf die Wange.
„Ich weiß!“, lachte Megan.

Gerade als Phrynia am nächsten Morgen vom Pferd stieg kam Megan auf sie zugerannt. Doch sie lächelte nicht. Stattdessen blickte sie ernst drein und verzog sogar etwas besorgt das Gesicht.
„Was ist denn, Meg? Du siehst besorgt aus!“
„Nia, ich weiß nicht wie ich es sagen soll, aber Lord Brayden hat den Boten, ohne ihn anzuhören, wieder weggeschickt.“ Verlegen und unsicher blickte Megan sie an.
Phrynia seufzte und schüttelte den Kopf.
„Er kann so stur sein.“, sagte sie dann erschöpft und löste den Zopf, der ihre langen wilden Locken während des Reitens gebändigt hatte.
„Ja, leider. Aber du könntest ihm vielleicht einen Brief schreiben.“, schlug Megan vor.
„Das wird nichts bringen. So wie ich ihn kenn wird er ihn ungeöffnet ins Feuer werfen. Außerdem möchte ich persönlich mit ihm reden.“
„Und wenn du selbst zu ihm gehst, um mit ihm zu reden und…“
„Auch das kannst du vergessen. Er wird mir nicht mal die Tür öffnen. Wenn Brayden so sauer ist, dann kann man eigentlich nur abwarten. Ich versuche ihn einfach das nächste Mal, wenn er wieder ans Schloss kommt abzufangen.“ Nachdenklich legte Phrynia ihren Kopf in den Nacken und betrachtete die Vögel im Himmel.
Frei. Wie gern wäre sie so frei wie die Vögel. Ohne Verpflichtungen, außer vielleicht ihrem Nachwuchs gegenüber.
Phrynia führte Fleur neben sich her in ihre Box. Megan war ihnen dicht auf den Fersen.
„Sag mal Megan, könntest du mir noch einen Gefallen tun?“
„Natürlich!“
„Kümmer dich doch bitte um Fleur. Ich möchte mit meinem Vater noch was besprechen und ich fürchte wenn ich ihn nicht jetzt erwische, sehe ich ihn vor dem Abendessen nicht mehr.“
„Das mach ich doch gern für dich, Nia! Über was möchtest du mit deinem Vater sprechen?“, fragte Megan neugierig.
„Ach nur über das Reitturnier nächste Woche. Er möchte mich nicht mitmachen lassen, weil ich doch ein Mädchen und noch dazu die Prinzessin bin. Aber ich würde so gern auch einmal teilnehmen. Was bringen mir sonst meine Reitstunden. Ins Gelände lässt er mich ja auch nie.“ Seufzend drehte sie sich zu Megan um und übergab ihr Fleurs Zügel.
„Ich hoffe er stimmt zu. Das wäre wundervoll, wenn den Männern auf den Turnieren mal gezeigt werden würde, wie der Hase auf diesem Schloss läuft!“ Sie bedachte Phrynia mit einem strahlenden Lächeln und diese konnte einfach nicht anders als nun selbst zu lächeln.

Vor der Tür zum Schlafzimmer ihres Vaters blieb sie stehen. Sie ging leise murmelnd ihre Argumente noch einmal in Gedanken durch, dann hob sie die Faust um gegen die Tür zu klopfen. Doch noch in der Bewegung hielt sie inne und blieb wie angewurzelt stehen. Da lachte jemand hinter der Tür und es war nicht ihr Vater. Es war ein Frauenlachen. Sie kannte dieses Lachen nur zu gut, sie hörte es schließlich täglich. Wie gebannt presste sie das Ohr gegen die Tür um mehr als nur das Gemurmel zu verstehen.
„Wir sollten es ihr sagen. Sie wird es verstehen.“, sagte die Frauenstimme freundlich.
„Ich weiß nicht so Recht. Sie schien mir in letzter Zeit etwas durch den Wind zu sein. Ich möchte sie nicht überfordern.“, gab ihr Vater zu bedenken.
„Sie ist kein Kind mehr, Kendrick. Deine Tochter ist 16 Jahre alt und wird uns verstehen.“
„Vielleicht hast du ja recht, aber ich möchte trotzdem auf Nummer sicher gehen. Lass mich es ihr zu gegebener Zeit sagen und bitte sei in Zukunft vorsichtiger Phrynia gegenüber mit deinen Äußerungen. Sie hätte Verdacht schöpfen können.“
„Ich verspreche ich werde in Zukunft vorsichtiger sein.“
Dann war es plötzlich still im Raum, doch in Phrynias Kopf wirbelte alles durcheinander. Verrat! Das war das einzige, was sie im Moment klar denken konnte. Man hatte sie hintergangen.
Sie hörte wieder Gemurmel hinter der Tür und presste schnell ihr Ohr nochmal dagegen. Doch was sie dann hörte zog ihr den Boden unter den Füßen weg.
„Ich liebe dich, Andra.“
„Ich liebe dich auch, mein König!“
Phrynia glaubte nicht mehr atmen zu können. Panisch entfernte sie sich mit kleinen Schritten rückwärts von der Tür. Sie schäumte vor Wut. Am liebsten würde sie schreien: Wie lange geht das schon so? Wie lange verkauft ihr mich schon für blöd? Warum seid ihr nicht einfach ehrlich?
Sie spürte ein starkes Ziehen in ihrem Kiefer. Ihre Wangenknochen drückten plötzlich so stark gegen ihre Haut, dass ihr kurz die Luft weg blieb. Was passierte hier? Ihre Sicht verschwamm und dann ging die Tür zum Schlafzimmer ihres Vaters auf. Mit verträumtem Blick, wilden Haaren und einem verrutschten, zerknitterten Kleid trat Andra heraus. Als sie Phrynia erkannte stand ihr pures Entsetzen ins Gesicht geschrieben. Hinter ihr trat Kendrick in den Türrahmen. Auch sein Gesicht war starr, doch er war der Erste, der wieder zu seiner Stimme fand.
„Phrynia, lass es mich erklären.“, bat er mit ruhiger Stimme.
„Da gibt es nichts zu erklären. Ihr habt mich beide belogen und dir scheint Mama ja ganz egal zu sein. Ich möchte euch beide nicht mehr sehen. Ihr widert mich an.“
Sie sah deutlich dass sie Andra mit ihren Worten verletzt hatte, doch das war ihr egal. Ihr Vater und sie hatten Phrynia schließlich auch verletzt. Vor Wut schnaubend rannte sie den Gang entlang. Nur weg von den beiden, dachte sie wütend. Sie stürmte die Treppen hinunter, durch die Eingangshalle in den Westflügel, in dem die Bibliothek lag.
Dort angekommen verkroch sie sich in ihre Nische und drehte sie zu dem Wandbehang ihrer Mutter um. Laut schluchzend verbarg sie ihr Gesicht darin und weinte. Als sie eine Hand auf ihrer Schulter spürte drehte sie sich nicht um. Dann spürte sie plötzlich starke Arme, die sie aus der Nische hoben und voll und ganz einschlossen. Sie kannte diesen Geruch nach Wald und Regen. Er roch immer so, wenn er von einem langen Ritt kam. Benommen schloss nun auch sie die Arme um ihn. Schluchzend stand sie da in seinen starken Armen und für einen kurzen Augenblick war die Welt wieder in Ordnung. Endlich war jemand hier dem sie vertrauen konnte, der sie ganz und gar kannte und sie so liebte wie sie war.
„Du warst lange nicht mehr hier.“, schniefte sie an seiner Schulter.
Er zog sie mit kräftigen Armen etwas von sich und musterte sie nachdenklich. Dann lächelte er sie jedoch an und sie merkte wieder wie sehr sie dieses Lächeln vermisst hatte.
„Ich konnte meinen Vater überreden, dass er mich auch mal alleine zu euch reiten lässt. Und wie ich sehe komme ich keine Moment zu spät, meine kleine Nia.“
„Nein, du kommst genau richtig, Phil! Ich hab dich so vermisst!“
Bei diesen Worten schloss er sie wieder fest in seine Arme.


© Tamara


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