Der Junge trat aus dem Haus auf die leere Straße hinaus. Er blickte sich kurz und hastig um. Die Straße schien leer zu sein. Müll türmte sich zu beiden Seiten an den Hauswänden und einige vereinzelte Straßenlaternen versuchten mit ihrem flackernden Neonlicht das allgemeine Grau zu durchdringen. Der Junge hob seine Hände und zog sich die Kapuze seines Pullovers über den Kopf. Er blickte beiläufig nach oben. Dann stutzte er. Er ließ die Hände sinken und starrte angestrengt in den von grauen Wolken verhangenen Himmel. Das konnte nicht sein.
Er sah noch immer hinauf, als ihn eine dunkle Gestalt, die wie aus dem Nichts hinter ihm erschienen war, mit einem Mal anrempelte. Erschrocken fuhr der Junge zusammen und klopfte hektisch seine Taschen ab. Es war noch alles da. Er sah der Gestalt hinterher, die noch einige Zeit die Straße entlanglief, bis sie schließlich in eine Seitengasse abbog. Der Junge seufzte und steckte die Hände in die Taschen seines Pullovers. Dann setzte er sich in Bewegung. Langsam ging er an den Häusern entlang, deren dunkle Fenster ihn aufdringlich anzustarren schienen. Der Junge zog die Schultern nach oben und versuchte sich abzulenken. Das, was er vorhin am Himmel gesehen hatte, war etwas gewesen, dass eigentlich nicht sein konnte. Für den Bruchteil eines Augenblicks hatte es so ausgesehen, als würde die Wolkendecke aufbrechen und ein kleines Stück blauen Himmels dahinter aufblitzen. Er hatte selbstverständlich aus Geschichten gehört, dass der Himmel nicht immer grau und wolkig gewesen war, und er hatte schon oft versucht, sich den blauen Himmel vorzustellen, aber gesehen hatte er ihn noch nie. Niemand hatte das. Nicht in den letzten zwanzig Jahren. In Gedanken versunken bog der Junge nach rechts ab und ging nun an den verrosteten Bahngleisen entlang. Ab und zu kam er an einem verlassenen Wagon vorbei. Er hatte gehört, dass Wagons früher einmal dazu gedient hatten, Menschen zu befördern. Er stellte sich vor, wie es sein musste in einem der Wagons zu sitzen, während die Welt hinter den Fenstern vorüberflog. Der Junge bog erneut ab und stieg nun einen kahlen Hang hinauf. Auf ihm lagen vereinzelt Felsbrocken herum und ab und zu stolperte der Junge über einen Stein. Während er den Hügel emporkletterte, spürte er in seiner Hosentasche deutlich den Grund für seinen Spaziergang. Das Buch. Er hatte es zufällig vor einigen Monaten gefunden. Es hatte im Müll gelegen. Der Einband fehlte, aber dennoch hatte der Junge es aufgehoben und mit nach Hause genommen. Dann hatte er es gelesen. Obgleich er viele der Wörter darin nicht mit Sinn füllen konnte und sie für ihn nur Laute, ohne Bedeutung, waren, las er das Buch wieder. Und wieder. Und wieder. Das Buch faszinierte ihn, denn es war seine einzige Verbindung zu der Welt, die es nun nicht mehr gab. Mittlerweile war das Buch ganz zerlesen und der Junge hatte Angst, dass es eines Tages vielleicht gänzlich zerfallen könne. Schließlich erreichte der Junge die Spitze des Hügels und damit auch sein Ziel. Er erlaubte sich ein leises Lächeln, als er seinen Blick auf das senkte, was sich vor ihm befand. Es erstaunte ihn jedes Mal, egal wie oft er an diesen Ort kam. Vor ihm befand sich ein kleiner Flecken Erde, der mit echtem, leibhaftigen Gras bewachsen war. Inmitten all dieses Gerölls erschien der kleine Flecken fast wie ein Wunder, wie eine kleine grüne Insel
inmitten eines Meeres aus Grau. Der Junge hob den Blick wieder. Hinter dem Hügel erstreckte sich in alle Richtungen, soweit man schauen konnte, die Stadt. Düster und leer lag sie da und der Junge wandte sich wieder von ihr ab. Er zog das Buch aus seiner Tasche und setzte sich ins Gras. Er sah noch einmal hinauf zu den Wolken, die noch immer eine trostlose und undurchdringliche Decke bildeten, dann begann er zu lesen. Und so saß er da, auf seiner kleinen grünen Insel, träumte von einer längst vergangenen Zeit und versuchte sich das Blau des Himmels vorzustellen.


© Versschleifer


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Kommentare zu "Das Buch"

Re: Das Buch

Autor: noé   Datum: 05.12.2013 11:49 Uhr

Kommentar: Und wieder flammt im Hinterkopf die Erinnerung an ein bestimmtes Buch auf, das ich sogar mehrmals gelesen habe, weil mich das Sujet so faszinierte, aber der Titel will mir nicht mehr einfallen; es ging darin darum, dass die Feuerwehr in einer ähnlich düsteren Restwelt ihr einziges Einsatzgebiet darin sah, illegale Bücherbesitzer aufzufinden, um ihren heiligsten Besitz unter öffentlicher Schande zu verbrennen. Ich glaube, es ist sogar verfilmt worden.
Du beschreibst das atmosphärisch dicht und gut.
Betrachte mich als Fan Deiner Literatur (egal, wie alt Du wirklich bist ;o)).
Adventgrüße von noe

Re: Das Buch

Autor: Versschleifer   Datum: 11.12.2013 22:27 Uhr

Kommentar: Ich denke das Buch, dass Du meinst ist "Fahrenheit 451", welches ich übrigens tatsächlich erst kurz vor dem Schreiben dieser Geschichte gelesen hatte.

Re: Das Buch

Autor: Scarlett   Datum: 11.12.2013 22:38 Uhr

Kommentar: Hallo Versschleifer,

Dieser Geschichte Gefaellt mir gut!

Re: Das Buch

Autor: noé   Datum: 11.12.2013 22:40 Uhr

Kommentar: Ge-NAU!! Danke, das ist es, genau dieses meinte ich.
Da kannste mal sehen, was Literatur für einen Einfluss haben kann. Aber ist das nicht toll, wenn auf solche Weise die Staffette weitergereicht wird?
adventlich, noé

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