Für den einen Moment

Wie weit wärt ihr bereit, für euren Lebenstraum zu gehen? Ich jedenfalls stürzte mich, ohne einen zweiten Gedanken, an einem strahlenden Frühlingsmorgen, in den Tot. Die ersten Blumen waren gerade erwacht und wuchsen, die Welt und ihr Probleme missachtend, wie jedes Jahr glücklich und gleichgültig aus dem tauenden Erdreich. Die Sonne strahlte, wie als würde sie jeden an den Anbruch eines neuen Jahres erinnern wollen und die Winde wehten sanft und warm durch die Gebirge. Das wenige Eis, dass sich bis jetzt hartnäckig an die Felswände geklammert hatte, würde bald seinen Kampf verlieren und die Vögel und Nager wuselten durch Himmel und Erde, in der Suche nach Nahrung, Partner oder Material für ein zukünftiges Zuhause. Rundum floss alles über von Leben.
Doch an mir zog alles mit rasender Geschwindigkeit vorbei. Das schwarze Gestein der Berge wurde zu einer flimmernden schwarzen Wand, nur unterbrochen von weißen, grünen und braunen Flecken. Die Tiere zischten an mir vorbei, ihre Rufe wirr und verzerrt. Der Wind pfiff mir in den Ohren, wie als würde er mich für meine Tat ausschimpfen. Gelegentlich wurde das ganze durch einen strahlend blauen Fleck Himmel, oder die blendende Helle der Sonne unterbrochen, ansonsten blieb die Welt wirr und verzerrt. Und ich fiel weiter.
Oftmals hatte ich mir ausgemalt, wie es wäre zu sterben; hatte versucht mir vorzustellen, wie es ist, wenn das eigene Leben wie ein Film an einem vorbeizieht. Doch mir war dieses Erlebnis wohl nicht vergönnt. Keine Kindheitserinnerungen kamen mir in den Sinn; ich sah nicht die Gesichter meiner Familie und Freunde vor mir, und hörte nicht ihre beruhigenden Stimmen. Alles war ich bekam, war das scheinbar nicht endende vorbeiziehen der Welt. Vielleicht hatte ich es einfach nicht verdient, noch einmal meine schönsten Momente zu erleben. Vielleicht war ich einfach zu bereit und gefasst auf das gewesen, was ich vorhatte zu tun. Mein Geist blieb klar, mein Körper angespannt und auf meine Umgebung achtend.
Wenn sich mein Blick vom blau des Himmels löste, um auf den Boden unter mir zu fallen, bemerkte ich wieder, dass die Zeit verging. Mit jedem verstreichenden Herzschlag, konnte ich mehr und mehr von der Welt unter mir erkennen. Vor einigen Sekunden noch verschwommene dunkle Flecken wurden immer detailreicher und klarer und schließlich konnte ich in ihnen Bäume und Felsen erahnen. Doch noch war ich immer noch hoch in der Luft. Nicht umsonst hatte ich Jahrelang den höchsten und steilsten Abhang gesucht.
Langsam kamen mir Zweifel an meinem Tun. Nicht, das ich noch hoffte es aufhalten oder ändern zu können, doch ich fing an, mich selbst zu hinterfragen. Ich hatte alles auf eine Karte gesetzt. War mein halbes, und doch sehr kurzes Leben lang durch die Welt gezogen, nur für diesen Moment. Und doch. Vielleicht war ich zu eilig gewesen, zu begierig, und hatte sämtliche Arbeit aus reiner Intuition heraus zusammen mit meinem Leben weggeworfen ? Doch nun blieb mir nichts anderes mehr übrig, als weiter zu fallen.
Ein großer dunkler Schatten glitt über mir hinweg und schirmte mich für einige Sekunden von den Strahlen der Sonne ab. Die Welt verdunkelte sich und ich fühlte ein Hochgefühl in mir aufsteigen, welches mit keinem mir bekannten Gefühl vergleichbar war. Gleichzeitig durchflutete mich eine große Erleichterung. Ich hatte es geschafft. Selbst wenn ich genau jetzt sterben würde, es war es wert gewesen. Und machen wir uns nichts vor. Mein Körper befand sich im freien Fall, kurz über dem steinharten Erdboden, was blieb mir anderes übrig, als zu sterben? Doch nun umarmte und hüllte ich mich in diesen Gedanken ein und hieß ihn als einen Freund willkommen. Ich hatte, was ich wollte, nun musste ich nur noch den Preis dafür bezahlen.
Das ganze hatte vor vielen vielen Jahren in einem staubigen alten Zimmer, auf einem noch staubigeren alten Sessel begonnen. Genau genommen, bei meinem Großvater, welcher in ebendiesem Sessel thronte und mir, wie so oft an kalten Wintertagen, Geschichten von seinen Reisen erzählte. Der Großteil dieser Geschichten handelten von fremden Landschaften und Leuten. Manche witzig, manche traurig und einige lehrreich. Doch einige wenige seiner Geschichten waren anders, fremder, wilder, unglaublicher. Dies waren die Geschichten, auf die ich immer sehnsüchtig hoffte; wegen denen ich bereit war ewige Beschreibungen von Landschaften und Bekanntschaften über mich ergehen zu lassen.
An jenem Wintertag, an dem alles anfing, handelte Großvaters Geschichte von Drachen. Wilden majestätischen Geschöpfe, die nur in den höchsten und steilsten Bergen Zuflucht fanden. Dort glitten sie, an warmen Frühlingstagen von den Aufwinden getrieben, von Gipfel zu Gipfel. Ihre Farben gingen vom dunklen Erdbraun, bis zum hellstem Himmelsblau; jede Farbe, die nur irgendwie in der Natur vorkam, wurde von den Drachen vertreten. Sie waren die fantastischen und wundersamsten Kreaturen unseres Planeten.
Doch, es gab ein Problem mit den Drachen: Noch nie hatte ein Mensch einen von ihnen mit eigenen Augen gesehen. Nein, das stimmte nicht ganz. Der Wahrheit entsprach eher: Noch nie hatte jemand einen Drachen gesehen und daraufhin lebendig von ihm berichten können. Doch die Drachen ermordeten ihre Zeugen nicht.
Jede Welt hat seine eigenen Totenbegleiter. Bei den einen, sind es hell leuchtende Engel, bei den anderen dunkel gekleidete Sensenmänner. Doch hier, sind es die Drachen. Zumindest für jene, die im Gebirge stürzen. Ob sie nun wirklich kamen, um den sterbenden zu begleiten; ob der Tod sie anzog; oder ob das ganze nur ein nettes Märchen war, war mir egal. Von dem erstem Moment an, als ich meines Großvaters Geschichte hörte, wollte ich nur noch eines: Eins dieser Wesen mit eigenen Augen sehen.
Nach dem Tod meines Großvaters nahm mein Leben eine Wende. Ich wurde Rastlos, betrank mich zu oft und legte mich mit den falschen Leuten an. An einem Morgen, als ich mit schmerzendem Kopf neben dem Dorfbrunnen aufwachte, bekam ich die Einsicht, dass mich nichts mehr zu verlieren hatte. Also zog ich los, um einer Geschichte meines Großvaters hinterherzujagen. Ich folgte den Gerüchten der Drachen. Ich sprach mit Kinder, alten Männern, Hausfrauen und Menschen am Rande des Todes. Ich reiste durch 7 der 12 Kontinente und stand 5 mal selbst dem Tod gegenüber. Doch nie sah ich auch nur die Flügelspitze eines Drachen. Und dann, führte mich mein Weg eines Tages, in dieses Gebirge.
Ich kann nicht genau sagen, was mir die Gewissheit brachte, doch, als ich am Rande jener Klippe stand, wusste ich einfach, das meine Reise zu Ende war. Mein gesamtes Leben, war nur für diesen einen Moment gewesen. Es gab für mich keinen Grund, nicht zu springen. Und so sprang ich.


© Claudia Riegger


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Beschreibung des Autors zu "Für den einen Moment"

Wie weit wärt ihr bereit, für euren Lebenstraum zu gehen? Ich jedenfalls stürzte mich, ohne einen zweiten Gedanken, an einem strahlenden Frühlingsmorgen, in den Tot.
Kurze Geschichte, die eines Abends entstand.

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