Meine Finger zitterten leicht, als ich den Briefumschlag öffnete. Ich war wie immer nervös, obwohl ich mir den Wortlaut des Schreibens nur allzugut vorstellen konnte: "Wir bedauern, Ihnen mitteilen zu müssen ..." So oder ähnlich begannen sie alle, die zahlreichen Absagen, die ich schon erhalten hatte.
Doch in diesem Brief war von Bedauern keine Rede. Man wollte mich in einem persönlichen Gespräch näher kennenlernen.
Sofort griff ich zum Telefonhörer, um meine Freundin Martina anzurufen. Als sie sich meldete, platzte ich sofort mit meiner Neuigkeit heraus: "Stell dir vor, ich habe eine Einladung zum Vorstellungsgespräch bei der Buchhandlung Meyer in Hamburg bekommen. Übermorgen um 11.00 Uhr habe ich einen Termin bei Herrn Meyer persönlich. Ich bin ja so aufgeregt.."
Martina erwiderte: "Du wirst diesen Job kriegen. Wir überlassen nichts dem Zufall. Komm heute Abend vorbei. Dann überlegen wir ganz genau, wie dein großer Auftritt über die Bühne gehen soll.
Am Abend probte Martina mit mir ein typisches Vorstellungsgespräch. Dabei war sie sehr kritisch und hatte immer wieder etwas an mir auszusetzen.
Als sie endlich zufrieden war, kamen wir zu der großen Frage: "Was ziehe ich an?" Nach einigem Hin und Her einigten wir uns auf meinen schwarzen Hosenanzug, den ich mir im letzten Jahr für die Beerdigung meines Großonkels angeschafft hatte. Dazu wollte Martina mir ihre weiße Bluse leihen. Meine Einwände, ob ich in dieser Kombination nicht wie ein Pinguin oder zumindest wie ein Oberkellner aussehen könnte, ignorierte sie einfach.
Am Tag des allesentscheidenden Vorstellungsgespäches war ich unerwartet ruhig. Sorgfältig schminkte ich mich und zog wie vereinbart den Beerdigungsanzug und die weiße Bluse an.
"Nett und adrett siehst du aus" , sprach ich mir selber Mut zu, als ich die Halle des Hauptbahnhofs betrat.
Zehn Minuten später rollte mein Zug ein. "Vorsicht an der Bahnsteigkante" ertönte es aus dem Lautsprecher. Ich nahm diesen Hinweis beim Wort und achtete beim Einsteigen darauf, nicht daneben zu treten. Als ich an mir herunterblickte, durchfuhr mich ein Riesenschreck. Wo waren die schwarzen Halbschuhe, die ich heute morgen extra noch einmal nachpoliert hatte? Meine Füße steckten jedenfalls in meinen dicken Ernie- und Bert-Hausschuhen. Links grinste Ernie mich schadenfroh an, während Bert mich auf dem rechten Hausschuh mit einem vernichtenden Blick strafte. Recht hatten die Beiden! Wie konnte ich nur so dumm sein ?
Ein Zurück gab es nun nicht mehr.
"Mama guck mal, die Frau hat Puschen an", schrie plötzlich ein kleiner Junge und zeigte mit dem Finger auf meine plüschig verpackten Füße. Ich tat, als sei ich gar nicht gemeint und starrte aus dem Fenster.
"Lass dich jetzt nicht aus der Ruhe bringen. Mach das Beste draus. Trage deine Hausschuhe mit Anmut und Würde.", sagte ich mir selber immer wieder.
Ich fühlte mich komplett falsch angezogen und absolut unsicher. Der Beerdigungsanzug erzeugte irgendwie negative Schwingungen. Die Hausschuhe, die in einem leuchtenden Blau unter den Hosenbeinen hervorblitzten, machten mein ungewolltes Outfit zumindest einen Deut fröhlicher.
Für Fröhlichkeit sorgten die Hausschuhe dann auch bei Herrn Meyer. Es war ein ungewöhnliches Vorstellungsgespräch. Hauptsächlich redeten wir über mein lustiges Missgeschick und mussten immer wieder lachen. Die Anspannung löste sich, so dass ich wider Erwarten ungewöhnlich locker und selbstsicher wurde. Das Gespräch war ein voller Erfolg. Als Herr Meyer mir schließlich den Arbeitsvertrag aushändigte, sagte er lächelnd: "Dank Ernie und Bert war mir sofort klar, dass ich Sie den nötigen Humor für unsere Kinderbuchabteilung haben."


© Shalimar


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