Eigentlich ist es eher unüblich, ja, es gilt gar als unmoralisch, mit dem Tod makabere Spiele zu treiben. Üblich ist dagegen, Ängste mit herzhaftem Lachen zu mildern. Daher mache ich mich als relativ junger Alter (68) immer gern über Alte und das Alter lustig.
Nun gut, ich gestehe es sofort, ich neige dazu, Verlustängste zu missbrauchen. Nein, das wäre zu hart ausgedrückt. Sagen wir, mir meine mögliche Todesnähe und die Ängste meiner Mitmenschen nützlich zu machen.
Selbstverständich drohe ich nicht mit Selbstmord. Das wäre viel zu billig.
Zum Glück kommt mir und meiner Glaubwürdigkeit mein silbergraues Haupthaar und mein bereits leicht erhöhtes Alter zur Hilfe. Ich bin in einem, in dem viele und ich selbst, schon etwas eher mit dem Ableben zu rechnen haben.
Hinzu kommen ein wenig Bluthochdruck, Rheuma, gelegentliche Schmerzen auf der Herzseite sowie ab und zu die eine oder andere Erkrankung, die durchaus lebensverkürzende Wirkung haben könnte.
Einzelheiten will ich mir ersparen, da ich bisher immer behauptete, nichts mehr zu hassen, als altersbedingtes Gejammer über körperliche Verschleißerscheinungen.
Aus gesundheitlichen Gründen kann ich jedoch immer seltener ärztliche Wartezimmer und sonstige Senioren-Ansammlungen meiden, bei denen das einstige Männerthema eins jüngerer Jahre längst ständigem Gerede über Alterserkrankungen weichen muss.
Selbst ich rede inzwischen mit. Wenn auch immer noch mit gewissen Hemmungen.
Es gibt nun einmal keinen Smalltalk unter Alten ohne Wetterfühligkeit, Schmerzen, Krankheit, Blutwerte, Orthopäde und Hausarzt.
„Bei Rheuma, Gicht, Gelenk und Rücken/Kann Sonstiges kaum noch entzücken.“ Reimte neulich einer meiner Altergenossen, der zuvor auch lieber herzhaft über das Alter lachte.
Da man das Beste aus seinen jeweiligen Lebensumständen machen soll, habe ich mir zunächst angewöhnt, rücksichtsvoll und behutsamst anzudeuten, dass ich, ohne Zahlen zu nennen, nicht mehr der Allerjüngste bin. So kommen meine Bekannten, Freunde und Verwandten ganz von selbst darauf, dass sie mich bald plötzlich und unerwartet verlieren könnten. Dann erzähle ich zur Ablenkung einen Witz über Alte und deren Gewohnheit, die Beschwerden des Alters zu beklagen. Leider fällt mir gerade keiner dieser Witze ein.
Mein leises, halb unterdrücktes Stöhnen bei mehr oder weniger anstrengenden Bewegungen sowie bei eindrücklich berichteten Altesmühen, die ich noch zu erwarten habe, entwickelt bei meinen Mitmenschen schnell seine nützliche verlustängstliche Wirkung. Ja, es erhöht meinen derzeitigen Wert für die mir nahe stehenden Mitmenschen beträchtlich, da ich ohnehin kein stattliches Erbe hinterlasse, das über den Verlust hinwegtrösten könnte.
Auf die todsichere Wirkung dieser Taktik bin ich eher zufällig gestoßen.
Schon in jüngeren Jahren habe ich mir angewöhnt, bei Anstrengungen leise zu stöhnen. Später stöhnte ich etwas lauter. Diese spontanen Äußerungen hatten bei mir eine ähnliche Wirkung wie jenes laute Aufstöhnen, das Frauen beim Sex und Tennisspielerinnen beim Schlagen des Balles zur Steigerung ihrer Schlagkraft und Leidenschaft einsetzen.
Gerade jetzt brauche ich noch Leidenschaft, um Gelenk- und andere Schmerzen überwindend, mich zu bücken, morgengymnastische Übungen zu absolvieren oder ein paar Treppen mehr zu steigen.
Besonders das Stöhnen kurz vor dem eigentlichen Bücken hat auf gut erzogene jüngere Mitmenschen erstaunliche Wirkung, vor allen, wenn ich zwischen Gestöhn und Bücken eine kurze, kaum wahrnehmbare Pause einlege. Exakt in dieser Zwischenzeit haben sich gut Erzogene schon gebückt und mir den Gegenstand, der mir vor die Füße fiel, aufgehoben, während ich noch leicht nach vorn geneigt den Rücken haltend, mich schon für die Hilfeleistung bedanken kann.
So habe ich die vom Arzt verordnete Bewegung und schone mich zugleich vor weiterem Gelenkverschleiß oder gar Bandscheiben- und anderen Vorfällen. Das hilft zur Freude des Bundesgesundheitsministers auch noch Gesundheitskosten sparen.
Leider begegne ich immer seltener gut erzogenen Jugendlichen.
So muss ich zu Anderem greifen. Zum Herzen - zum Beispiel. Dieser Griff ist gut gegen Einsamkeit, da er zwangsläufig mitmenschliche Fragen auslöst. Mit besorgten Gesichtern fragen Kinder, Gattinnen, liebevollere Teile der Verwandtschaft und hilfsbereite Zeitgenossen in Bus und Straßenbahn: „Ist Ihnen nicht gut? Kann ich helfen? Möchten Sie ein Glas Wasser? Soll ich einen Arzt holen.“
Natürlich bemühe ich mich dann, nicht zu heftig den Kopf zu schütteln. Übertrieben viel Temperament würde nicht zur angedeuteten Herzbeschwerde passen. So lächele ich dankbar, habe damit sofort einen oder mehrere nette Gesprächspartner und trage zur gesellschaftlich erwünschten Kommunikation unter den Generationen bei.
Schwierig wird es, wenn ich auf Altersgenossen treffe, die das Repertoire schon länger und besser beherrschen und routiniert dagegen halten.
Das kann schnell in Senioren-Stöhn- und Schmerzwettbewerbe ausarten. Und die wirken selbst auf gut erzogene und überdurchschnittlich zu Mitleid neigende junge Menschen enttäuschend, bizarr und lächerlich.
Es ist eben alles eine Frage der richtigen Dosierung. Auch und gerade im Alter.


© Karl Feldkamp


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Beschreibung des Autors zu "Auf die Dosis kommt es an."

Ein Senior spielt mit der Verlustangst seiner Mitmenschen.

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