Das Geschenk

Arschkalt! Es war arschkalt, und das war erst der Beginn der Saison. Lange zwei Wochen würde es dauern bis der letzte, erlösende Tag da wäre. Im Lager stapelten sich die Briefe und es wurden jede Minute mehr. Mit einem dumpfen „plöp“ tauchten sie in Zehnerpacks auf und fielen zu Boden. Im scheinbaren Chaos, das sie anzurichten schienen, gab es jedoch ein System – raffiniert ausgeklügelt von der Logistikzentrale. Hunderte Mitarbeiter waren damit beschäftigt, die Post aufzumachen, den Inhalt zu erfassen und in das Register einzutragen, in dem dann abgeglichen wurde, ob der Absender berechtigt war, seine Wünsche erfüllt zu bekommen.
Rote Stiefel, rote Lederhose, rotes Jacket – so sah der Chef aus. Glatt rasiert und mit einer schicken Kurzhaarfrisur betrat er die Zentrale, heute, am 6 Dezember, dem ersten Tag nach seinem einjährigem Urlaub. Man könnte meinen, ein Jahr Urlaub wäre das Schönste auf der Welt, doch dem ist nicht so. Ganz und gar nicht. Stellen Sie sich vor, Sie müssten ein ganzes Jahr auf das warten, was Ihnen am meisten Freude bereitet, auf das, wofür sie geboren - in diesem Fall erfunden – wurden. Dann ist es eine Qual, eine regelrechte Tortur, so lange warten zu müssen. Und so war es auch bei dem Chef dieses Unternehmens. Schon seit vielen Jahrzehnten bereiste er jeden Winkel der Erde, um braven Kunden, ihre wohlverdienten Präsente zu überreichen. In seinem großen Firmenschlitten, angetrieben von 16 Renntierstärken und ausgestattet mit einem effizienten Hybrid-Elektromotor – man muss ja mit der Zeit gehen -, brauste er über den Himmel und hinterließ einen glitzernden, goldgelb glänzenden, umweltfreundlichen Sternenstaub.
Im Büro angekommen, setzte er sich hinter seinen dunkelroten Schreibtisch und schaltete den Laptop an. Das werden schöne drei Wochen, dachte er sich, endlich kann ich wieder Freude und Lachen in Kindergesichter zaubern. Heute ist noch mein Halbbruder dran mit dem Geschenkeverteilen, aber das ist nur ein Vorgeschmack, was passt schon in eine Socke? Nichts! Eben darum freuen sich alle auf Weihnachten und nicht auf meinen Bruder.
Der Laptop-Bildschirm leuchtete auf und eine weißer Desktophintergrund erhellte sein Gesicht. „Frohe Weihnachten – noch 18 Tage“ war die Zeile am linken unteren Rand. In der Mitte war ein Motorrad zu sehen, eine Harley Davidson, an dem eine leicht bekleidete Frau stand, nur in einen roten Bikini gehüllt, in der rechten Hand ein Geschenk. Nach einem kurzen, unkonzentrierten Moment wendete der Chef die Augen von der Frau und klickte den Arbeitsplatz-Icon an. Das würde ein langer Tag werden, er musste sich beeilen.
Draußen war es schon längst dunkel, als er den Laptopdeckel zuklappte und das Licht im Büro ausknipste. Auf den Gängen war niemand zu sehen. Alles war wie ausgestorben. Müde aber zufrieden schlenderte er durch den leeren Betrieb. Wie er das alles vermisst hatte in den vielen Monaten ohne Arbeit. So sinn- und zwecklos wie die Tage vergingen. Er hatte sich an vielen Hobbys versucht, aber keines konnte ihn wirklich begeistern. Laufen hatte ihn für längere Zeit beschäftigt, er trainierte zuerst nur ein paar Mal pro Woche, dann kam der erste Wettkampf, 10 Km die er auch schaffte, aber es war unbefriedigend, stumpf, langweilig. Zwar joggte er noch ab und zu, aber nur noch um sein Gewicht zu halten. Das Problem war, dass er leicht korpulent erfunden wurde, was ihm zuerst auch keine Probleme bereitete, aber mit den Jahren kamen immer mehr Beschwerden und nachdem der Arzt ihm gesagt hatte, dass er mehr Sport treiben soll und weniger Schoko Weihnachtsmänner verputzen, entschied er sich für das Laufen.
In der Briefzentrale legte er seine Aktentasche zur Seite und schaute sich die Briefe genauer an. In den ganzen letzten Jahren war es ihm nie in den Sinn gekommen, einen von ihnen zu lesen. Ineffizient sei das, hat man ihm in der Verwaltung gesagt, Zeitverschwendung, er solle sich lieber um die wichtigen Entscheidungen kümmern.
„Hallo Weihnachtsmann, ich wünsche mir eine PS3 und ein Iphon 4S. Ich war auch immer brav. Ehrlich!“
Ich wünsche mir einen neuen Laptop … Ich wünsche mir, dass Fabrice DSDS gewinnt … Ich wünsche mir eine Million Dollar … - das waren die häufigsten Wünsche. Nur selten wünschte sich eine Kind kleine Sachen. Die Zeiten hatten sich geändert, es wurde alles größer, schneller und teurer. Niemand wünschte sich mehr Fahrräder oder Lego-Bausätze.
So ging er noch ein paar Briefe durch, mit immer fast den selben Wünschen von modernen Technik und digitalen Schnickschnack, als er einen gelben, karierten Zettel in die Hand nahm. Ganz oben stand: Von Ronny an den Weihnachtsmann. Die Schrift war etwas krakelig und die Buchstaben folgten nur schwer einer erkennbaren Linie. Er las weiter: Lieber Weihnachtsmann, ich wünsche mir dieses Jahr nichts mehr, nachdem du mir die letzten Jahren schon so viele Sachen geschenkt hast, wollte ich dir dieses Jahr etwas Ruhe gönnen und dich ein bisschen überraschen, indem ich dir etwas schenke. Du bist bestimmt jedes Jahr unterwegs und beschenkst die ganze Welt, dabei denkt aber keiner an dich. Deswegen habe ich dir ein Gedicht geschrieben. PS: Ich hab das Gedicht noch von meiner Mama korrigieren lassen, hoffentlich sind keine Fehler mehr drin, sie hat nur Mittlere Reife.

Weihnachtsmann du bist sehr nett
und dein Bauch ist rund und fett.
Du bringst die Geschenke mir,
darum will ich danken dir.
Danke, für das Weihnachtsfest,
das uns alle lachen lässt.
Das Gedicht ist nur für dich,
lies es laut und denk an mich.

Ein Lachen huschte über das Gesicht des Chefs. Er faltete den Brief zusammen und legte ihn in den Umschlag zurück. Er schaltete das Licht aus und verließ das Gebäude mit einer tiefen, erfüllenden Zufriedenheit. Das wird ein gutes Jahr werden – ganz bestimmt.


© koollook


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Kommentare zu "Das Geschenk"

Re: Das Geschenk

Autor: Mark Gosdek   Datum: 01.02.2014 13:58 Uhr

Kommentar: Wirklich wunderbar, das Gedicht wird sich der Weihnachtsmann die nächsten zehn Monate wohl immer wieder durchlesen :-)

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