Als Arthur Döll das Wartezimmer der Arztpraxis betrat war es exakt elf Uhr vormittags. Verwundert bemerkte er, dass der Raum komplett leer war. Das heißt nicht ganz. Es standen Stühle und Bänke darin herum, drei Jahre alte Modezeitschriften lagen aus und vertrocknete Zimmerpflanzen kämpften ums Überleben, also das, was man für gewöhnlich in einem Wartezimmer erwartet. Es war eher in der Hinsicht leer, dass sich keine Menschen darin befanden, was Arthur Döll reichlich verwunderte, da der Arzt ihm am Telefon den Eindruck vermittelt hatte, als könne er seinen Termin nur gerade so noch irgendwo reinquetschen. Er betrat langsam das Wartezimmer und ging auf die Tür zu, die ins Sprechzimmer führte. Daran war ein handgeschriebener Zettel geheftet, der verkündete: „Bin grad nicht da. Komme in 3-5 Stunden wieder.“ Darunter war noch ein kleinerer zweiter Zettel geheftet, auf dem stand: „Bitte nehmen Sie Platz, Herr Döll.“ Arthur Döll kratzte sich ratlos am Kopf. Dann bemerkte er wie klischeehaft es war sich am Kopf zu kratzen, wenn man ratlos ist und ließ es bleiben. Nach einer Weile fing er wieder damit an, da ja ohnehin niemand da war, der ihn hätte sehen können. Arthur stand noch eine Weile herum, da er hoffte, dass die Tür sich vielleicht doch öffnen würde, aber nach einigen Minuten musste er sich eingestehen, dass er wohl oder übel so lange würde warten müssen, bis der Arzt zurückkam. Er setzte sich leicht resigniert auf einen der Stühle im Wartezimmer und richtete sich auf seine mehrstündige Wartezeit ein. Seufzend dachte er an all die Dinge, die er noch vorgehabt hatte. Das dauerte allerdings nicht besonders lange, da er nur vorgehabt hatte sich einen Tee zu machen und dann zu gucken, was denn so im Fernsehen lief. Seine Gedanken schweiften langsam ab. Er dachte an etwas, dann an etwas anderes, schlief ein Stündchen, wachte auf, hatte eine Idee, vergaß sie wieder und im Nu war die Hälfte der Zeit um. Nach weiteren Minuten des stillen Wartens begann er sich die Frage zu stellen, weshalb er wegen eines kleinen, vermutlich harmlosen, Ausschlages so eine lange Wartezeit auf sich nahm. Dann beschloss er, dass er nun bereits zu lange wartete, um noch einen Rückzieher machen zu können und blieb sitzen. Nach weiteren zwei Stunden öffnete sich die Tür des angeblich leeren Behandlungszimmers und ein älterer Herr streckte seinen Kopf ins Wartezimmer. Er hatte wirre weiße Haare und dazu einen buschigen, tieforangenen Backenbart. Er schaute sich für einige Sekunden verwirrt im Zimmer um und erblickte dann Arthur Döll, der mittlerweile eine Miene zur Schau trug, als würden ihm alle Weisheitszähne gleichzeitig, ohne Betäubung gezogen werden. „Gute Nacht, Sie müssen Herr Döll sein. Kommen Sie bitte rein.“, bat er und zeigte auf das Behandlungszimmer. Arthur Döll trat ein und erblickte einen schlichten Schreibtisch neben einem Fenster. Der Schreibtisch war vollgestellt mit allerlei Papieren, Zeitschriften und Legoteilchen. Der Arzt deutete auf den Stuhl, der vor dem Schreibtisch stand.
„Setzen Sie sich schon mal und warten Sie hier. Ich hab zu tun.“, sagte er und stellte sich ans Fenster. Döll setzte sich leicht verwirrt auf den Stuhl und begann sich in dem bemerkenswert kahlen Raum umzusehen. Bis auf den Schreibtisch und das Fenster befand sich kaum etwas darin, außer einem großen alten Schrank. Nach zehn Minuten drehte sich der Arzt unvermittelt um und setzte sich voller Elan an seinen Schreibtisch. „Dann wollen wir mal!“ sagte er und fegte mit einer großen Geste die Hälfte der, sich auf dem Tisch befindlichen Dinge auf den Boden. „Was fehlt Ihnen denn?
Arthur Döll, der von der Verhaltensweise des Doktors leicht irritiert war, stotterte ein wenig herum, bis ihm wieder einfiel weshalb er überhaupt beim Arzt war.
„Ich hab da seit ein paar Tagen so einen komischen Ausschlag an meiner Hand. Es ist vermutlich nichts, aber ich ... ich dachte sicher ähh ... ist ... ist“ Arthur brach verwirrt ab, denn der Arzt hatte angefangen in der Nase zu bohren und betrachtete nun das, was er zu Tage gefördert hatte.
„Sehr schön.“, sagte er, wobei nicht klar war, ob er Arthurs Ausschlag, oder den Popel in seiner Hand meinte. Er schmierte ihn an seinem Kittel ab und sah auf.
„Dann machen Sie jetzt mal den Mund auf und sagen Sie ,Aaaaaa‘.“
Arthur öffnete den Mund und tat, wie ihm geheißen.
„Sehr schön.“, wiederholte der Arzt und begann seinen Schreibtisch nach dem Stethoskop abzusuchen, das er um den Hals trug. Als er es schließlich gefunden hatte, bat er Arthur tief einzuatmen und hörte intensiv die Tischplatte ab.
„Es tut mir leid,“, sagte er, kopfschüttelnd, „aber da ist absolut nichts zu hören. Ich fürchte ich kann nichts mehr für Sie tun.“
Mit diesen Worten wandte er sich wieder dem Fenster zu und begann Arthur angestrengt zu ignorieren, bis dieser schließlich ging. Als Arthur Döll auf die Straße trat verspürte er das dringende Bedürfnis, sich einen neuen Arzt zu suchen.


© Versschleifer


2 Lesern gefällt dieser Text.



Diesen Text als PDF downloaden




Kommentare zu "In der Arztpraxis"

Re: In der Arztpraxis

Autor: noé   Datum: 05.12.2013 11:11 Uhr

Kommentar: Was für ein phantastischer Verwirrtext! Der Stil erinnert mich so ein bisschen an die Perry-Mason-Romane von "damals", absolut relaxt-locker-flockig, voller Understatement, toll! Bitte weiter so!!
Adventgrüße von noe

Kommentar schreiben zu "In der Arztpraxis"

Möchten Sie dem Autor einen Kommentar hinterlassen? Dann Loggen Sie sich ein oder Registrieren Sie sich in unserem Netzwerk.