Zugegebener Maßen hatte ich mir keinerlei Sorgen gemacht, als ich von der dreimonatigen Sperrung der A52 von Düsseldorf nach Essen las. Die Ruhrtalbrücke bedurfte dringend einer Reparatur und es war meiner Meinung nach nur vernünftig, den Verkehr vollends zu unterbinden, damit die Arbeiten zügig durchgeführt werden konnten. In den Medien wurde im Vorfeld außerdem davon berichtet, dass es zu keinen größeren Staus kommen werde, da für ausreichende Ausweichmöglichkeiten gesorgt worden war.
Nun, ab dem Breitscheider Kreuz auf die A3 zu fahren und später auf die A40 abzubiegen, erschien mir doch zu umständlich. Immerhin führten einige Wege auch direkt durch das Ruhrtal und da der Hochsommer gerade begonnen hatte, freute ich mich regelrecht darauf, nach der Arbeit über die verschlungenen Serpentinstraßen durch die Natur zu fahren.
Tatsächlich kam der Tag der Vollsperrung. Ich fuhr wohlgemut über die A52 bis zum Breitscheider Kreuz und bog dann in Richtung Kettwig ab. Die Zeitungen hatten nicht zu viel versprochen, der Verkehr floss – wenn auch gemächlich – dahin und ich fuhr fröhlich die Straße nach Kettwig hinunter. Inzwischen hatten sich einige Naturfreunde meiner Route angeschlossen und es war herrlich, auf der engen Asphaltbahn durch den Wald zu mäandern. Ich wähnte mich schon an der Ortseinfahrt von Kettwig, als die Fahrzeuge vor mir bremsten und ich dementsprechend auch meine Geschwindigkeit drosselte, bis wir schließlich standen.
Natürlich wusste ich um die Ampel, welche sich direkt an Ortsbeginn von Kettwig befand und diesen Rückstau wohl verursachte. Doch sind dies kaum Schwierigkeiten, die mich aus der Ruhe bringen konnten. Im Radio spielten sie den Hit einer jungen Newcomer Band und ich muss gestehen, dass er mir tatsächlich gefiel. Vielleicht wurde ich ein wenig unruhig, als ich mich fünfzehn Minuten später noch immer an der gleichen Stelle befand. Doch war es ein wundervoller Tag und da nicht zu erwarten stand, dass die Schlange vor mir urplötzlich losfahren würde, stieg ich aus, um mir die Beine zu vertreten.
Um mich herum schienen die Reisenden dies für eine gute Idee zu halten und auch sie kamen aus ihren Fahrzeugen heraus. Direkt vor mir entstieg eine junge Frau ihrem Wagen und reckte sie. Ich blinzelte zu ihr hinüber und als sie meinen Blick bemerkte, lächelte sie mir zu. Auch sie schien sich über die kurze Unterbrechung ebenso wie ich zu freuen.
Dagegen wirkte der Mann im hinteren Wagen mir ziemlich ungeduldig. Er lief an mir vorbei und versuchte zu ergründen, wann es weitergehen würde. Als er wieder an mir vorbeistampfte, fluchte er leise vor sich hin. Einen Augenblick war ich versucht, ihn zu beruhigen, ließ es dann aber doch sein. Er schien mir keinerlei Interesse daran zu haben, sich mit mir zu unterhalten. Nach einer Weile, in der ich mir die Beine vertreten hatte, entschied ich, dass es nun genug der Natur sei und setzte mich zurück in den Wagen. Auch die junge Frau hatte sich wohl genug gereckt und stieg zurück ihren Ford. Der Mann hinter mir saß schon längst wieder vor dem Lenkrad und trommelte ungeduldig mit den Fingern darauf herum.
Als es dunkel wurde, bekam ich Hunger. Ich kramte in meiner Tasche, fand aber nichts. Noch saß ich tief gebeugt über der Tasche auf meinen Beifahrersitz, als es an der Scheibe klopfte. Ich wandte meinen Kopf und sah die junge Frau, deren Lächeln nun etwas verlegen wirkte. Als ich mein Fenster herunterfuhr, fasste sie jedoch ein wenig Mut.
„Entschuldigen sie“, sagte sie. „Haben sie vielleicht eine Kleinigkeit zu Essen dabei? Ich habe schrecklichen Hunger.“
Nun, wie bereits erwähnt, konnte ich ihr damit nicht dienen. Doch schloss ich mich ihrem Bittgang die Reihe entlang an, in der Hoffnung, vielleicht auch etwas für mich abstauben zu können. Der Mann im hinteren Wagen würdigte uns keines Blickes und wir schlenderten weiter den Berg hinauf. Inzwischen erzählte mir die Frau, dass sie Oksana hieße und im zweiten Monat schwanger war. Wie sie darauf kam, mir das zu erzählen, war mir schleierhaft, doch versicherte ich ihr, dass ich mich sehr für sie freue und dies freute wiederum sie.
Das mit dem Essen entwickelte sich schwierig. Bis auf einen halben Apfel, den einer der Fahrer auf seinem Armaturenbrett achtlos hingelegt hatte und sich bereits bräunlich verfärbte, fanden wir nichts. Oksana meinte das wäre okay, wir könnten ihn ja teilen. Ich aber entgegnete, dass er ihr ganz allein gehören würde, immerhin sei sie ja schwanger. Sie lächelte glücklich und ich fühlte mich als hungriger Gentleman.
Die Vögel weckten mich. Ich hatte völlig verdrängt, wie früh sie im Sommer bereits mit dem Gezwitscher beginnen, doch die Dämmerung war bereits aufgezogen. Oksana schlief noch und der Kerl im hinteren Wagen hatte sich in die Büsche verdrückt. Der Grund dafür war mir klar und ich hielt es ebenfalls für eine gute Idee.
Als ich zurückkehrte, begrüßte mich Oksana fröhlich und ich erkundigte mich, wie sie geschlafen hatte.
„Ausgezeichnet“, sagte sie, aber sie lächelte nicht dabei. Sie hatte meinen Hintermann entdeckt, der aus den Büschen wieder herausgetreten war und mir einen äußerst zerknitterten Eindruck machte. Immerhin schien er mir jedoch nicht mehr so brummig wie am Tage zuvor; Oksana jedoch erinnerte sich sehr wohl noch an unserem Erlebnis des Vorabend, als er uns auf der Suche nach Nahrung ignoriert hatte. Überraschender Weise brummelte auch er uns einen „Guten Morgen!“ zu.
Oksana gestand mir, dass sie schon wieder Hunger hatte. Ich verdrängte in diesem Augenblick meine Gedanken an den Viertel Apfel, den ich ihr gerne überlassen hatte. Schwangere haben nun einmal seltsame Anwandlungen! Andererseits konnte ich ihre Nöte auch irgendwie verstehen.
Nun hat es so ein Wald leider an sich, dass für gewöhnlich ziemlich wenige Bäckereien dort zu finden sind und auch Vor-Kettwig bildete keine Ausnahme. Somit standen die Chancen ziemlich schlecht, nun am frühen Morgen etwas Essbares aufzutreiben.
Wie angenehm überrascht waren wir, als uns ein Mann mit einem Bauchladen entgegen kam und lauthals frische Brötchen und Kaffee anpries. Seine Werbung war so kräftig, dass alle Fahrer wach wurden und er innerhalb weniger Minuten alles verkauft hatte. Zwar befand ich zehn Euro für ein Brötchen und ein Kaffee etwas teuer, was jedoch nicht bedeutete, dass es mir nicht schmeckte.
Ein voller Magen lässt die Welt doch freundlicher erscheinen und mich überraschte es wirklich angenehm, dass dieser Verkäufer sowohl mittags als auch abends wieder erschien. Für das leibliche Wohl war nun gesorgt und wohlgemut warteten wir, dass es nun weitergehen würde.
Am folgenden Morgen gab es bei dem Verkäufer auch Croissants und frisches Obst, was wohlwollend von uns allen aufgenommen wurde. Wie leicht ernährt man sich doch einseitig! Einige unserer Truppe nutzten die Gelegenheit und bestellten Müsli und Eier für den nächsten Tag. Hatten wir auch gedacht, dass Jan, wie der Verkäufer hieß, uns nun nicht mehr überraschen konnte, so schaffte er es doch, uns am Wochenende sprachlos zurück zu lassen. Er hatte es sich in seiner Kreativität doch wirklich nicht nehmen lassen, uns Grillfleisch und den notwendigen Grill zu besorgen! Der Samstagabend verlief somit äußerst angenehm, dass sich auch Carlo, mein Hintermann, daran beteiligte und ich muss sagen, dass ich mich wirklich in ihm getäuscht hatte. Carlo wusste wundervolle Anekdoten zu erzählen, dass selbst Oksana über ihn lachen musste. Was bedeuten dagegen schon fünfzig Euro für zwei Stücke Grillfleisch?
Schwierig wurde es allerdings an dem Tage, als uns das Geld ausging. Jan schien ein wenig enttäuscht und meinte, er nehme auch Kreditkarte. Das freundliche Anerbieten rettete uns zwar über einige Tage hinweg, aber schließlich waren auch unsere Karten erschöpft. Ich sah Jan an, dass dies wirklich ein Problem war und auch mein Hinweis, dass wir eine schwangere Frau in unseren Reihen hätten, half nicht, eine Lösung zu finden. Doch dies war die Stunde von Carlo!
Er öffnete den Kofferraum und nahm einen Bündel Scheine heraus. Damit bezahlte er für uns alle und sprunghaft stieg sein Ansehen in unserer kleinen Gemeinde. Oksana meinte zwar, es würde sie wundern, warum er Geldscheine im Kofferraum mit sich herumfuhr, aber das Lachsbrötchen, in welches sie biss, schien die Frage auszuradieren.
Fortan zahlte Carlo jede unserer Malzeiten. Zwischenzeitlich hatte der Mann fünf Wagen hinter mir gemeint, dass wir ohne eine gewisse Ordnung nicht mehr leben konnten und wir gründeten einen Verein, der unsere Wartezeit organisieren sollte. Carlo wurde unser Geschäftsführer und gerührt meinte er, dass er noch niemals mit einem Amt betraut worden sei, woraufhin er bei Jan Champagner bestellte, um dieses Ereignis würdig zu feiern.
Die Newcomer Band hieß „Stop!“ und ich war erfreut, als ich ihren zweiten Hit im Radio hörte. Auch Oksana mochte sie, Carlo hingegen lehnte sie ab.
„Zu lasch! Keine Power!“
Trotzdem ließ ich mich davon nicht beirren und Oksana, die langsam etwas rundlicher wurde und nicht mehr hinter ihrem Lenkrad Platz nehmen konnte, setzte sich zu mir auf den Beifahrersitz und wir hörten gemeinsam „Stop!“.
Carlo hatte einen wunderbaren Kofferraum. Er schien nicht leer zu werden und bescherte uns ein angenehmes Leben. Das wir ein idyllisches Weihnachtsfest verbringen konnten, verdankten wir nur ihm. Inzwischen waren wir wirklich gute Freunde geworden und dies war auch gut so. Ich konnte seine Hilfe wirklich gebrauchen, als Oksana kurz vor Karneval ein kleines Mädchen zur Welt brachte. Wir nannten sie Hope und Carlo öffnete zur Feier des Tages wieder seinen Kofferraum.
Nun, was soll ich lange erzählen? Letztes Jahr heiratete Hope den Jungen aus dem vierten Auto vor Oksana und die stolze Mutter überließ den beiden ihren Wagen als Hochzeitsgeschenk. Sie zog nun bei mir auf den Beifahrersitz. Abends kam Carlo zu uns herüber und meinte, der Kofferraum wäre nun langsam leer und da die Sache ohnehin verjährt sei, könne er uns auch von seinem erfolgreichen Bankraub in Ratingen erzählen. Er schien ein wenig bedrückt, doch wir trösteten ihn, so gut wir konnten. Immerhin habe er doch eine Menge von seinem Geld gehabt und die rastlose Konsumgesellschaft könne es sicherlich verschmerzen. Jan hatte uns verlassen und kreuzte mit seiner Jacht nun irgendwo an der Cote d´Azur. Den Bauchladen hatte er seinem Sohn überschrieben und der Junge machte seine Sache wirklich gut.
Gestern hörten Oksana und ich im Radio, dass „Stop!“ aus Altersgründen auseinander gegangen seien. Wie die Zeit vergeht!
Heute aber geschah das Unglaubliche! Vor uns bewegte sich etwas und tatsächlich schien Bewegung in die Kolonne zu kommen. Eiligst lösten wir unseren Verein auf und ich drehte den Schlüssel im Zündschloss. Glücklicherweise saß Oksana neben mir. Sie ist so klug! Tatsächlich konnte sie sich noch daran erinnern, wie man das machte.
Mich beschlich ein mulmiges Gefühl. Nun sollte ich wieder hinaus in die Fremde; die Freunde verlassen und ich wusste wirklich nicht, was mir da draußen alles geschehen konnte. Aber ich war schon immer ein Glückskind. So oft ich es auch versuchte, der Wagen sprang nicht an, ebenso wie alle anderen.
„Komm“, sagte Oksana daraufhin und schmiegte sich an mich. „Vielleicht spielen sie im Radio einen Oldie von „Stop!“.“
Sie hatte natürlich Recht und kannte mich so gut. Ich kann es mir einfach nicht abgewöhnen, mich um Nebensächlichkeiten zu kümmern.


© Mark Gosdek


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Kommentare zu "Wahres Glück"

Re: Wahres Glück

Autor: Bücherdiebin   Datum: 08.10.2014 23:07 Uhr

Kommentar: Wunderbar geschrieben!! Und eine absolut faszinierende Idee hattest du da, die mich schmunzeln lies ;)

Re: Wahres Glück

Autor: Mark Gosdek   Datum: 09.10.2014 8:30 Uhr

Kommentar: Vielen Dank, freut mich sehr, dass Dir die Geschichte gefällt.:-) Mark

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