Dass die Hure von oben zu jeder Tages- und Nachtzeit lautstark außerehelichem Geschlechtsverkehr frönte, nervte Sybille mehr, als sie beschreiben konnte.
„Ruhe, verdammt!“ brüllte sie und stieß unwirsch mit dem Besenstiel gegen die Decke. „Also wirklich!“ Leise rieselten ihr weiße Flocken entgegen. Irgendwann käme sie nicht umhin, der Decke einen neuen Anstrich zu verpassen. Auch ein wenig Spachtelmasse könnte vermutlich nicht schaden.
Das Stöhnen ging weiter. Steigerte sich gar zu einem lustvollen Stakkato.
Noch einmal stieß Sybille rabiat gegen die Decke.
„Wenn dort oben nicht auf der Stelle Ruhe ist, rufe ich die Polizei! Es ist mitten in der Nacht! Manche Menschen müssen arbeiten!“
Sie hatte das Gefühl, als würde das Gekreische eher lauter als leiser.
Na bitte, sie hatte es nicht anders gewollt.
Kurz entschlossen schlüpfte Sybille in ihren angegrauten Morgenrock. Das würden sie ja mal sehen!
Im Treppenhaus schlug ihr ein kühler Luftzug entgegen. Das Licht flackerte unstet. Sybille raffte ihren Morgenmantel.
Das sich hier auch niemand für Reparaturen zuständig fühlte!
Wutentbrannt betrat sie die knarzenden Stiegen. Der Geruch von modrigen Holzspänen hing in der Luft. Ihr Blick fiel auf das rostige „Frisch gebohnert“-Schild.
Was hätte sie darum gegeben aus diesem Drecksloch rauszukommen.
Im dritten Stock war es beinahe finster. Offenbar hatte niemand die kaputte Deckenbeleuchtung ausgetauscht. Einzig das fahle Licht der Straßenlaternen, das durch das blinde Fenster am Ende des Korridors hereinfiel, erhellte den Gang. Geräusche einer B-Pornoproduktion drangen hinter der Tür am Ende des Flurs hervor. Sybille fröstelte. Sollte sie wirklich? Ein Seufzen im Frequenzbereich klassischer Opernsängerinnen nahm ihr die Bedenken. Was bildete diese Person sich eigentlich ein?
Entschlossen stapfte sie den Korridor hinab. Die Pantoffeln an ihren Füßen sogen den Klang ihrer Schritte auf.
Mahagonifarbener Lack blätterte von der Tür. Sybille schluckte. Unmittelbar vor der Wohnung hörte sie selbst das hektische Quietschen des Bettes. Dann wieder diese Schreie. Untermalt vom brunftigen Stöhnen eines Mannes. Ihn hatte sie unten nicht gehört. Ob das wirklich eine kluge Idee war? Aber jetzt war sie hier. Außerdem hatte sie ein Recht auf ihren Nachtschlaf.
Mit geballter Faust schlug sie gegen die Tür.
„RU-HE!“ Ihre Stimme drehte auf der zweiten Silbe nach oben ab.
„Das reicht jetzt! Andere Menschen wollen schlafen!“ Noch einmal schlug sie mit aller Kraft gegen die Tür. Ein Lacksplitter bohrte sich in ihre Faust.
„Das ist kein verdammter Puff hier!“
Sie zitterte vor Zorn. Alle Welt vögelte, als gäb’s kein Morgen mehr.
Das Geräusch auf der anderen Seite verstummte.
Einige Meter Gang aufwärts öffnete sich knarrend eine Wohnungstür. Gelbes Licht fiel durch den Spalt. Sybille wandte sich um. Sie konnte den Schattenriss einer schlaftrunkenen Asiatin ausmachen. Eine Strähne hatte sich aus dem gestreng nach hinten gebundenen Haar gelöst und hing ihr ins Gesicht. Sybille sah die Frau hinter ihrer Nerd-Brille nicken. Abermals schlug sie gegen die Holztür, diesmal mit der Handfläche. Gewehrschüssen gleich peitschten die Schläge durch das Treppenhaus.
Auf einmal vernahm sie schwere Schritte auf der anderen Seite der Wohnungstür.
Rasch floh der Pyjama in die Stube zurück. Die Tür wurde ins Schloss gedrückt. Sybille stand neuerdings im Dunkeln. Ein Riegel wurde vorgeschoben.
Pack!
Unwillkürlich wich sie einen Schritt zurück. Vor ihrer Nase wurde die Tür aufgerissen. Das grelle Licht nahm ihr die Sicht. Sie blinzelte.
Ehe sie mehr als eine breitschultrige Silhouette erkennen konnte, packte eine mächtige Hand sie am Morgenrock. Sie wurde in die Wohnung gezerrt. Sybille öffnete den Mund, um zu schreien. Heraus kam nur ein klägliches Krächzen. Im nächsten Augenblick legte verschloss die Hand ihren Mund.
Unsanft stieß der Fremde sie in die Stube. Heißer Schweiß entströmte seinen Poren. Sybilles Herz raste. Sie wurde auf einen Stuhl gedrückt. Der Mann packte ihre Handgelenke. Dabei musste er allerdings ihren Mund freigeben.
„Was fällt Ihnen ein?“ fauchte Sybille. „Lassen Sie mich auf der Stelle los!“
Verzweifelt versuchte sie, sich dem Griff des Fremden zu entwinden. Gegen seine Kraft hatte sie jedoch nicht den Hauch einer Chance. Mit sicherem Griff fesselte er ihre Hände hinter der Stuhllehne.
Panik schwappte durch ihren Körper. Ihr wurde abwechselnd heiß und kalt. Was hatte sie getan? Sie kiekste. Der erbärmliche Versuch eines Schreis. Dennoch ein Fehler. Ehe sie es sich versah, presste der Unbekannte ihre Lippen auseinander und stopfte ihr einen Spüllappen in den Mund. Der Geschmack von Spülmittel und ranzigem Fisch ließ Sybille würgen.
Erst jetzt konnte sie den Mann sehen. Er hatte ein marineblaues Handtuch um seine Hüften geschlungen. Sein schwitzender Körper schien einer antiken Statue nachempfunden. Ganz nahe kam er nun an Sybilles Gesicht heran. Zentimeter trennten seine meerblauen Augen von den Ihren. Sybilles Herz setzte einen Schlag aus.
Was fand der wohl an der Hure von oben?
„Was bildest du kleine Schlampe dir eigentlich ein?“
Der Eishauch in seiner Samtstimme ließ ihr das Blut in den Adern stocken. Sie rang den Würgereiz nieder.
„Kommst du, Baby?“ Die Stimme flötete aus dem Schlafzimmer. „Mir ist kalt! Was machst du eigentlich so lang?“
Bevor Sybille wusste, wie ihr geschah, hob der Fremde sie mitsamt dem Stuhl hoch. Ihr Morgenrock glitt von der rechten Schulter. Ein schmuddeliger BH trat zum Vorschein.
„Wir haben Besuch“, stellte der Fremde fest, als er Sybille auf dem Schlafzimmerboden abstellte.
„Gott, Marco, bist du wahnsinnig geworden?“
Eilig bedeckte die Hure von oben ihren nackten Körper.
„Ich hab‘ gesagt, du sollst ihr eine Lektion erteilen. Nicht, du sollst sie hier reinschleppen!“
Der Mann fuhr sich über die verschwitzte Brust.
Sybille musterte ihre Nachbarin. Nie zuvor hatte sie die blonde Frau gesehen. Dem Gequieke nach zu urteilen, musste sie schon eine Weile hier im Haus wohnen. Ein halbes Jahr zumindest. Die Hure war zierlicher als sie gedacht hatte. Woher sie diese Lautstärke nahm? Kirschroter Lippenstift um ihren Mund zeugte davon, wobei sie und der schöne Marco unterbrochen worden waren. Sturmgrauen Augen starrten unverhohlen zurück.
„Baby! Stell dir mal vor, Paul, kommt nach Hause! Was sollten wir dem denn erzählen?“
„Ich dachte, dein Mann ist auf Geschäftsreise“, erwiderte der Angesprochene nüchtern.
Die Blondine zuckte mit den Achseln. „Ja, aber man weiß ja nie.“ Der Zungenschlag wies sie als Slawin aus.
Marco grinste. Sein Lächeln ließ Sybille den fahlen Geschmack in ihrem Mund vergessen. „Sei doch nicht so verkrampft, Mäuschen!“
Die Hure strich sich die Haare aus dem Gesicht. Flattrig zündete sie sich eine Cartier an. „Und was sollen wir deiner Meinung nach jetzt mit ihr anstellen?“
Dieser Unterton. Er trieb Sybille eine Gänsehaut über den Rücken.
„Wir können Sie ja wohl kaum behalten!“
Marcos Stirn legte sich in Falten.
Mäuschen zog an dem Nuttenstengel. Langsam stieß sie den Rauch aus.
„Aber so einfach gehen lassen können wir sie jetzt auch nicht mehr. Die wird uns einen Riesen Ärger machen!“
Sie verzog ihre Lippen zu einem Schmollmund.
Sybilles Herz schlug ihr bis zum Hals. Waren die beiden total wahnsinnig?
Marco nickte nachdenklich. „Wo sie nun schon mal hier ist – du wolltest ihr doch eine Lektion erteilen!“
Der Filter der Cartier hatte das Rot des Lippenstifts angenommen. Mäuschen räkelte sich in den dampfigen Laken. Sie sahen aus, als wären sie Schauplatz einer Schlacht gewesen. Die Hure betrachtete Sybille. Ein klammes Gefühl griff in Sybilles Brust.
Marcos Statuenleib näherte sich ihr. Sybille spürte ein Kribbeln. Der Mann ergriff ihr Kinn und drehte ihren Kopf erst zur einen Seite, dann zur anderen. Schließlich sah er ihr in die Augen. Sybille begegnete seinem Blick mit Zorn.
Als wäre sie ein dreijähriges Kind, sprach Marco zu ihr: „Wenn du versprichst, keinen Ärger zu machen, nehme ich dir jetzt diesen Lappen aus dem Mund.“
Sybilles starrte ihn an. In ihr arbeitete es fieberhaft. Ihr war so übel, dass sie sich am liebsten auf der Stelle übergeben hätte. Letztlich nickte sie. Marco lächelte sie an und streichelte ihr über das brünette Haar.
„Na also. Wir sind doch alle vernünftige Menschen, nicht wahr?“
Er nahm den Lappen aus Sybilles Mund. Diese rang einen letzten Würgereiz nieder. Ihr Blick fiel auf den Whiskey neben dem Bett.
„Könnte ich vielleicht einen Schluck? Dieser Geschmack –!“
„Mäuschen, magst du unserem Gast ein Glas bringen?“
Die Angesprochene warf ihm einen vielsagenden Blick zu, schälte sich jedoch aus den Laken. Hoch erhobenen Hauptes ging verließ sie den Raum. Die Spitzen ihrer kleinen Brüste wiesen anklagend gen Himmel. Ihr Körper war ohne Makel, wie Sybille sich widerstrebend eingestehen musste. Ihr Blick fiel auf den eigenen verwaschenen Morgenmantel.
Sie wandte sich Marco zu. „Was haben Sie jetzt mit mir vor?“ Es gelang ihr nicht, das ihre Stimme vollkommen im Griff zu behalten. Der Mann warf ihr einen Blick zu, der alles bedeuten mochte.
„Lassen Sie mich gehen. Ich werd‘ mit niemandem darüber reden. Ich verspreche es!“
„Nein“, bestätigte Marco. „Das wirst du nicht.“
Eine Gänsehaut breitete sich auf Sybilles Körper aus.
Mäuschen kehrte mit einem Glas zurück. Marco füllte es bis zum Rand.
„Trink! Du bist unser Gast“, sagte er grinsend. Er setzte das Glas an Sybilles Mund. Begierig schluckte sie. Flüssiges Gold durchloderte ihre Adern. Sie wollte ihm sagen, dass es genug sei, doch Marco setzte das Glas nicht ab. Sie hatte keine Wahl, als es Schluck für Schluck bis zur Neige zu leeren. Whiskey rann ihr die Mundwinkel hinab.
„Besser?“ fragte Marco höhnisch.
Sybille nickte. Ihre Panik war einem schummrigen Gefühl gewichen.
„Ich finde“, wandte Marco sich an Mäuschen, „wir sollten sie waschen.“
„Waschen?“ stießen Mäuschen und Sybille wie aus einem Munde hervor.
„Du wolltest ihr doch eine Lektion erteilen.“
Er packte den Stuhl. Mitsamt Sybille hob er ihn hoch. Als wöge sie nichts. Unwillkürlich lehnte sie den Kopf an seine Brust. Dieser Geruch. Sybille fühlte sich zu schwach, um sich zur Wehr zu setzen.
Marco trug sie ins Bad. Dort setzte er den Stuhl ab, fasste sie unter den Armen und hievte sie in die Badewanne. Mäuschen stand hinter ihm und beobachtete das Geschehen schweigend.
„Dieser Bademantel ist eine Schande.“ Marco schüttelte den Kopf. „Mäuschen, die Schere.“
„Schere?“ lallte Sybille und brach in hysterisches Gekicher aus. „Nein, nein, nein, das gehdochnich. Daskannsuochnich –“
Mäuschen eilte davon. Mit einer Geflügelschere kehrte sie zurück.
Rasch zerschnitt Marco den fadenscheinigen Morgenrock. Vor Sybilles Augen drehte sich alles. Sie fühlte sich zu schwach, um Widerstand zu leisten. Schön war er ohnehin nicht mehr gewesen, das musste sie zugeben. Sie bemühte sich verzweifelt, den Wasserhahn zu fixieren. Beharrlich widersetzte er sich.
Marco zerschnitt auch die Ärmel und zerrte an den Stofffetzen. Mit einem Mal saß Sybille in Unterwäsche dar.
Der Mann betrachtete sie nachdenklich.
„Nein, so geht das nicht.“
Mit zwei raschen Schnitten durchtrennte er Sybilles BH und ihren Slip. „Nein, nein, nein!“ jammerte sie. „Alsowirklich! Dasisnichokay! Daskannsuabawirklichnich!“
Der heiße Wasserstrahl auf ihrem Kopf besiegte den widerspenstigen Hahn.
Sybille schloss die Augen. Eine Sequenz von Bildern rauschte an ihr vorbei. Das kleine Mädchen, das vom tatkräftigen Griff der Tante zurückschreckt. Zwei Minuten und die Tante ist mit ihr fertig. Geduscht, gekämmt, bettgehbereit. Mama und Papa haben das nie so schnell geschafft.
Währenddessen schäumte Marco ihre Haare ein. Seine Finger massierten ihre Kopfhaut. Sie ertappte sich dabei, wie sie einen leisen Seufzer ausstieß.
„Komm, Mäuschen, steh nicht rum wie ein Ölgötze. Hilf mir!“
Sybille fühlte, wie zwei Hände ihre Füße ergriffen. „Alsowirklich“, flüsterte sie.
Wo war sie da nur reingeraten? Sie lehnte sich zurück.

„Das sollte fürs Erste genügen.“
Verwirrt schlug Sybille die Augen auf, als Marco begann, sie mit einem Handtuch trocken zu rubbeln.
„Jetzt müssense mich aber gehen lassen“, lamentierte sie. Ihr Blick fiel auf den Klamottenhaufen neben der Wanne. „Wassollichnjetzbloß anziehen?“
„Klappe“, meinte Marco. Sein Griff fühlte sich verändert an, als er sie aus der Wanne hob.
„Was sollen wir denn jetzt mit ihr machen?“
Sybille sah, dass Marco Mäuschen einen Blick zuwarf, den sie nicht zu deuten verstand.
„Genau! Was machihrdennjetzmitmir?“
Ihr Kopf war schwer. Sie ließ ihn an Marcos Brust sinken. Der schaffte sie ins Schlafzimmer zurück und warf sie aufs Bett.
„Hey!“ ächzte Sybille. „Daskannsudochnichmachn!“ Sie kicherte. „Alsowirklich!“
Das Bett wackelte, als Mäuschen sich ans Kopfende setzte.
„Du hast schöne Haare“, bemerkte sie, als sie mit den Fingern hindurch fuhr.
Verwundert blickte Sybille zu ihr auf. „Wirklich? Findsu?“
Marco ließ sich auf der anderen Seite nieder.
„Muss ich eifersüchtig werden?“
„Ach du!“ entgegnete Mäuschen und stupste seine Nase. „Bist natürlich der Schönste im ganzen Land.“
Sie beugte sich über Sybille hinweg und küsste ihn mit geöffneten Lippen auf den Mund.
Sybille wusste nicht, wohin sie hätte schauen sollen. Also sah sie zu.
Mäuschen schlug die Augen auf. Sie sah Sybille direkt an. Diese senkte den Blick.
„Neidisch?“
Sybille ignorierte die Frage. „Lasst mich gehen!“ bat sie. „Ich sag auch niemandem was.“ Sie versuchte sich aufzurichten.
Marco musterte sie nachdenklich.
„Das könnten wir machen“, erwiderte er und drückte sie aufs Bett zurück.
„Ich versprech’s euch!“
Er schüttelte den Kopf. „Das genügt nicht.“
„Was wollt ihr dann?“
„Dir eine Lektion erteilen“, flüsterte Mäuschen und ein maliziöses Funkeln blitzte in ihren Augen auf. „Nicht wahr, Schatz?“
Marco nickte.
Sybille fröstelte. Hilflos ausgeliefert und splitternackt lag sie auf dem Bett der Hure. Ihre Brustwarzen richteten sich auf.
„Sieh mal einer an“, wisperte Marco. Er beugte sich nieder. Sybille schrak zusammen.
„Hey! Das –“ Der Rest blieb ihr im Halse stecken. Ein Schauer zerfetzte sie. Marco biss zu.
„Nein, nein, also wirklich! –“
Ehe sie noch etwas sagen konnte, verschlossen Mäuschens Lippen ihr den Mund. Marcos kräftige Hand drückte ihre Schulter nieder, sodass sie nicht entfliehen konnte. Sybille kniff die dörrenden Lippen zusammen. Mäuschens Atem stieg ihr in die Nase. Ihre Zunge erbat Einlass. Marcos Lippen wanderten zu Sybilles anderer Brustwarze. Sie seufzte auf. Mäuschen nutzte den Moment. Sybille wollte sich wehren. Wollte sie wirklich, aber dann verschmolz Mäuschens süßlicher Geschmack mit den Nachwehen des Whiskys.
Marcos Hand legte sich auf ihr Knie. Langsam fuhr sie Sybilles unberührte Schenkel hinauf. Ein Sturm brauste durch ihren Leib. Obwohl nackt wie am Tag ihrer Geburt, wurde ihr warm.
Sie versuchte sich zu konzentrieren. Der Alkohol in ihrem Blut machte es nicht eben leichter.
Sie musste hier weg. Wildfremde Menschen! Also wirklich! Diese Frau war eine Hure. Ein Flittchen.
Sybille wand sich, doch Entkommen gab es keins.
Marcos Mund wanderte weiter. Ein sanfter Schauer ging auf die Ödnis in ihrem Inneren nieder. Erste Triebe schlugen aus. Das Land erbebte.
Er nahm die Hand von ihrer Schulter. Sybille rührte sich nicht.
Mäuschen wandte sich ihrem Hals zu. Die köstliche Musik heißen Atems umstreichelte Sybilles Ohrmuscheln.
Rasch wuchs sich der Schauer zu einem Regenguss aus. Über das Brachland ergoss sich eine Flut.
Sybilles Herz raste. Der Frühling liebkoste jede Faser ihres Körpers.
Zugleich fühlte sie jene fernen Fingerspitzen, die sie vergessen geglaubt.
Der Gedanke an den Bruder füllte ihre Augen mit Tränen.
Mäuschens Finger fuhren die Linien ihres Gesichts nach. Wangen, Lippen, Nase.
Die Augen hielt Sybille geschlossen. Schluckte.
Stirn, Brauen, Lider. Kaum mehr als die Andeutung einer Berührung.
Es knospte der Lenz. Verhieß eine Blütenexplosion.
Die Flut stieg. Schwappte bedrohlich ans Ufer des Erträglichen.
Sybille biss die Zähne zusammen. In ihr zog sich alles zusammen. Dehnte sich aus. Zog sich zusammen. Dehnte sich aus.
Sie ächzte leise.
Die Knospen standen kurz davor zu erblühen.
Mäuschen zog Marco zwischen Sybilles Beinen weg. Behutsam senkte sie ihren Kopf hinab.
Sybille erzitterte. Sie schlug die Augen auf. Erblickte das Meer über ihr. Dann versiegelte Marco ihr mit dem Salz ihres eigenen Meeres die Lippen.
„Hoahh!“ entglitt es ihr.
Der Frühling kam.
Unaufhaltsam.
Wonne versprechend.
„Hoaahh!“
Brandender Regen.
„Hoaaahh!“
Heiße Flutwellen.
„Hoaaaahh!“
Boden bebte.
„Hoaaaahh!“
Wankte.
„Hoaaaaahh!“

Mit einem Mal Stille.

Mühsam gelang es Sybille die Augen aufzuschlagen. Sie sah hinab.
Blickte in Mäuschens sturmgraue Seelenspiegel.
Erschrak.

„Opportunistin!“ stieß Mäuschen hervor.
Ein endloser Augenblick verstrich.

Endlich gewahrte Sybille das Lächeln in ihren Augen.
Mäuschen senkte erneut ihren Kopf hinab.

„Hoooaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaahh!“
Sybilles Lustschrei zersplitterte die Nacht in tausend spitze Scherben.

In diesem Augenblick hämmerte es gegen die Tür.
Es war unverkennbar die piepsige Stimme einer pyjamatragenden Asiatin, die rief:

„Luhe! Veldammt! Odel hole ich Polizei!“


Elyseo da Silva,

Köln, 27. Februar 2013


© Elyseo da Silva


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Beschreibung des Autors zu "Mäuschen und sie"

Sybille ist vom Sexlärm der Nachbarin genervt. Kurzerhand beschließt sie, nach oben zu gehen und für Ordnung zu sorgen. Dann aber entwickelt sich alles gänzlich anders, als Sybille erwartet hatte...

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Kommentare zu "Mäuschen und sie"

Re: Mäuschen und sie

Autor: Lee   Datum: 25.03.2013 0:12 Uhr

Kommentar: Gute Wahl der Sprache..Kreativ in der Benennung.
Einfach eine gut erzählte Geschichte..abstruss,schmutzig und feinsinnig zugleich;-)!Lee

Re: Mäuschen und sie

Autor: Elyseo da Silva   Datum: 25.03.2013 7:31 Uhr

Kommentar: Danke, Lee, es gab auf einer Lesung und auf meinem Blog durchaus sehr kontroverse Diskussionen um diese Geschichte, insofern freut es mich erst recht, dass sie Dir gefällt! Herzliche Grüße, Elyseo

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