Der alte Indianerhäuptling

Die Sonne schien heiß vom Himmel herab. Trotzdem verlor das Land langsam die grüne Farbe. Bäume und Sträucher legten nach und nach ihre Blätter ab und standen bald kahl im Wind. Der Herbst verstrich allmählich in den Winter über. Der Frost kündigte sich an.

Mr. Tom White, der Anthropologe indianischer Abstammung, wühlte mit einem Spaten in der lockeren Erde herum und beobachtete dabei hin und wieder die nähere Umgebung. Alles war ruhig. Hier draußen schien er weit und breit wirklich der einzige Mensch zu sein. Kein Wunder, schoss es ihm durch den Kopf. Die Fremden hatten wirklich ganze Arbeit geleistet. Die einstmals hier ansässigen Indianerstämme waren alle auf geheimnisvolle Weise verschwunden, doch niemand wusste wohin.

Mr. White wühlte weiter. Obwohl er schon fast fünfundsechzig Jahre auf dem Buckel hatte, verfügte er über eine gute körperliche Kondition. Grabungsarbeiten dieser Art machten ihm für gewöhnlich nichts aus. Das Blut seiner Vorfahren, die Comanchen, die einst vor langer Zeit hier gelebt hatten, brach sich wohl immer wieder Bahn in freier Natur.

Er dachte darüber nach, dass er noch immer auf der Suche nach einer schwachen Stelle in Jackson Hill war, einer Stadt, die seine nicht war. Doch eine Flucht von hier schien unmöglich und bald würde man ihn, zusammen mit den anderen, von hier wegschicken. Danach könnte es zu spät sein und seine Probleme würden niemanden mehr interessieren.

Der Spaten traf plötzlich beim nächsten Stoß auf einen harten Gegenstand. Der alte Anthropologe hielt inne, legte das Grabungswerkzeug beiseite, kniete nieder und grub mit bloßen Händen weiter. Der trockene Boden war locker, fast wie Sand. Dann sah er diesen Stein, der noch zur Hälfte in der Erde steckte. Mr. White zog ihn vorsichtig heraus und betrachtete ihn neugierig.

Es handelte sich um einen recht häufig vorkommenden Feuerstein in dieser Gegend, der etwa eine Länge von zehn Zentimetern hatte und offenbar von Menschenhand grob gemeißelt und zugespitzt worden war. Vielleicht hatte er zu einem Speer, zu einer kleinen Steinaxt oder eventuell sogar zu einem Steinmesser gehört. Im Augenblick konnte Mr. White auch nichts genaueres darüber sagen, ob der Stein von den Apachen oder den Comanchen stammte; ganz sicher war er aber von einer der unzähligen Indianer-Gruppen, die in Urzeiten den teilweise wüstenähnlichen Prärielandstrich hier bevölkerten und alle längst zu Staub zerfallen waren.

Der Anthropologe fröstelte auf einmal. Und das lag bestimmt nicht nur am Wind allein.

Beim Betrachten des Artefaktes dachte White daran, wie umwerfend für ihn die ersten Stunden in der Anthropologie gewesen waren. Er erinnerte sich an die nächtelangen Diskussionen, die manchmal heftig geführten Streitgespräche und all die vielen Bücher, die ihm eine neue, geheimnisvolle Welt erschlossen hatten. Aber das war schon lange her und Indianer, wenngleich stark an die amerikanische Zivilisation angepasst, gab es hier damals noch in großer Zahl, als er noch ein junger Bursche war.

Mr. White dachte auch an seine jugendliche Zuversicht, die absolute Gewissheit, mit seinem zukünftigen Forscherberuf die Schlüssel zu jenen Türen zu besitzen, die sich anderen Menschen nie öffnen würden. Und doch stellte er sich manchmal die Frage: Welchen Nutzen hatte er für sich und die Zukunft daraus gezogen? Wann hatte sich die Gewissheit in Ungewissheit verwandelt? Ja sogar in Furcht? Irgendwann im Verlauf seines Lebens war jedenfalls der jugendliche Schwung bei seiner Arbeit verflogen. Vielleicht lag es daran, dass seine Erkenntnisse mehr Fragen als Antworten hergaben? Er stellte sich auch die zweifelnde Frage, ob er selbst irgendwann, irgendwo auf der lange Strecke seines zurückliegenden Arbeitslebens versagt hatte.

Der alte Forscher richtete sich behäbig auf und stand noch lange Zeit mit dem steinernen Fundstück in der Hand so da, ehe er langsam wieder in die Stadt zurückging, die ihm während seiner zurückliegenden Untersuchungen immer unheimlicher wurde. Das, was er hier tat, war nur eine Tarnung, um die Fremden von seiner wahren Mission abzulenken.

***

Am Abend, als es draußen noch kälter wurde und die Sonne schon längst verblasst war, ging Mr. White wie immer zum Essen ins Restaurant, das gleich zwei Häuser weiter neben seinem Hotel auf der gleichen Straßenseite lag. Zwei Stunden verbrachte er dort, aß gut und ging danach noch etwas spazieren, bevor er ins Hotel zurück marschierte. Auf dem Weg dorthin dachte er über diese Stadt nach, die sich Jackson Hill nannte. Diese kleine Stadt verbarg ein Geheimnis und stand mit irgend etwas in Verbindung, mit irgendeiner Macht im All. Er wusste es, doch er fürchtete sich davor, es auszusprechen. Diese Stadt war von Außerirdischen okkupiert worden, die rein äußerlich wie Menschen aussahen, sich genauso verhielten und von einem amerikanischen Normalbürger nicht oder nur sehr schwer zu unterscheiden waren.

Als der Anthropologe schließlich im Hotel vor seiner Zimmertür stand, bemerkte er, dass sie ein wenig offen stand. Das Licht brannte. Neugierig drückte er die Tür noch weiter auf und nahm an, dass sich das Zimmermädchen darin befinden würde. Doch da hatte sich Mr. White geirrt.

In seinem Zimmer warteten zwei Männer auf ihn.

Es waren zwei große, sympathische Kerle, die alles andere als unheilvoll auf Mr. White wirkten. Beide waren sportlich gekleidet und hätten genauso gut gerade von einem Tennisplatz kommen können. Einer der beiden rauchte Pfeife.
Er kannte jedoch keinen von ihnen.

„Hallo, Mr. White“, sagte der Mann mit Pfeife lässig und grinste dabei frech, „hoffentlich haben wir Sie nicht erschreckt.“

„Und ob Sie das haben! Was machen Sie überhaupt in meinem Zimmer und wie sind Sie hier reingekommen?“

„Das erklären wir Ihnen später. Wir würden uns nur gern mit Ihnen unterhalten, Mr. White – falls Sie Zeit für uns haben. Sie scheinen ja ganz schön beschäftigt zu sein, wie man sieht. Sie haben sich eine Menge Notizen gemacht. Höchst interessant, wirklich.“

Der Pfeifenraucher deutete mit der freien Hand auf die am Boden herumliegenden, beschrifteten Papierblätter.

„Wissen Sie, ich bin Anthropologe, schreibe und zeichne viel. Das gehört zu meiner Arbeit. Aber fühlen Sie sich ruhig wie zu Hause, meine Herren. Wenn Sie irgendwelche Fragen haben sollten, stehe ich Ihnen natürlich gerne zur Verfügung. Aber zuerst möchte ich wissen, wer Sie sind und was Sie hier zu suchen haben. – Wollen Sie mich etwa entführen?“

Der Kerl mit der Pfeife lächelte etwas und sagte dann: „Sie kommen der Sache schon ziemlich nahe. Nicht entführen, aber freiwilliges Mitkommen würde ich mal sagen. Zum Schiff natürlich, wohin denn sonst Mr. White? Sie haben es doch gesehen – oder etwa nicht?“

Mr. White nickte fast automatisch mit dem Kopf. Seine Gedanken, die sich plötzlich wie im Kreis drehten, kamen immer wieder auf das Raumschiff zurück, welches er vor genau zwei Tagen da draußen in der nächtlichen Wildnis, keine zwei Meilen vor der Stadt, gesehen hatte. Widerstand war sowieso zwecklos, denn die beiden Burschen vor ihm waren ihm kräftemäßig haushoch überlegen.

„Ich bin interessiert, meine Herren“, sagte der Anthropologe mit ruhiger Stimme und riss sich dabei innerlich zusammen. Ein mulmiges Gefühl stieg in ihm auf. Seltsamerweise spürte er dennoch keine Furcht, Das mochte wohl daran liegen, dass er sich inzwischen mit der Situation vertraut gemacht hatte und dass das hier viel zu unwirklich war, um sich tatsächlich fürchten zu können.

Der Pfeifenraucher nickte seinem Kollegen vielsagend zu und alle drei verließen zusammen das Hotel.

Sie stiegen in einen schwarzen Wagen und fuhren zur Stadt hinaus. Die beiden Fremden hatten die Vordersitze eingenommen und ließen Mr. White allein auf dem Rücksitz. Nach etwa zwanzig Minuten Fahrt bog der Wagen in einen kleinen Feldweg und blieb zehn Meter weiter in der Dunkelheit stehen. Der Fahrer stellte den Motor ab und schaltete das Licht aus. Kurz darauf verließen die drei Personen das abgestellte Fahrzeug und gingen schnurstracks auf einen offenen Weidezaun zu.

Mr. White entdeckte sie sofort. Die fünf bis sechs Meter große Kugel, die wie ein überdimensionaler Wasserball aussah. Das Ding bewegte sich leicht auf und ab in der Mitte einer kleinen Wiesensenke. Als sie dicht vor dem metallisch glänzenden Gebilde standen, öffnete sich sofort eine automatische Tür, und helles Licht strömte ihnen aus dem Innern entgegen. Nachdem alle eingestiegen waren, schloss sich die Tür wieder mit einem leisen Zischen. Wenige Augenblicke später erhob sich die Kugel in die Luft und Mr. White hatte das Gefühl, in einem rasenden Fahrstuhl nach oben zu sitzen. Obwohl er darum bemüht war, sich nichts anmerken zu lassen, konnte er es nicht verhindern, dass sein Herz wie verrückt in seiner Brust hämmerte und sein Blut in den Ohren rauschte. Aber er hatte nicht die geringste Angst. Er wunderte sich nicht einmal darüber und nahm alles hin, weil ihm gar nichts anderes übrig blieb.

***

Irgendwann gab es einen sanften Ruck und die Kugel drehte sich langsam einmal um ihre eigene Achse, bis sie offenbar von irgendwas erfasst und arretiert wurde. Dann kam sie gänzlich zur Ruhe. Alles ging fast geräuschlos vor sich.

Der Pfeifenraucher drehte sich auf der Stelle herum und schaute Mr. White mit seltsam starren Blick an.

„Ich möchte Ihnen etwas zeigen, was Sie sicherlich vorher noch nie gesehen haben. Erschrecken Sie bitte nicht, schließlich sind es ja die anderen, denen Sie schon die ganze Zeit wie vom Teufel besessen auf der Spur waren.“

Der Fremde stand auf und bat Mr. White, ihn zu begleiten.

Die Tür der Kugel öffnete sich wieder mit einem leisen Zischen und der Anthropologe verließ zusammen mit den beiden anderen Männern das Innere des Flugkörpers. Sie kamen durch eine Seitentür auf den Korridor eines riesigen Raumschiffes, das innen hell erleuchtet war. Mr. White empfand die Luft hier drinnen etwas dünner, als auf der Erde. Die Fremden marschierten mit ihm zusammen durch viele Gänge, passierten unzählige Türen und wuchtig geformte Schotts. Sogar Fahrstühle konnte Mr. White ausmachen und weitläufig angelegte Decks beobachten, auf denen bizarre Miniraumschiffe parkten.

Ganz plötzlich blieben die beiden Männer vor einer verschlossenen Tür stehen und der Pfeifenraucher drückte auf einen Knopf. Leise summend verschwand sie in einer hohlen Wand und ein bewaffneter Posten trat ins Bild.

„Der gehört zu uns. Es hat alles seine Richtigkeit“, sagte der Begleiter des Pfeifenrauchers zu dem Wachposten, der nur kurz nickte und sich wieder davon machte.

Hinter dem Eingang befand sich ein großer Raum, der große Ähnlichkeit mit einem Kinosaal hatte. Es gab etwa zwanzig Reihen mit bequemen Sesseln. Dort, wo man auf der Erde eine weiße Leinwand erwarten würde, befand sich jedoch ein flimmernder Energievorhang, der sanft zu pulsieren schien.

Die beiden Fremden setzen sich in die vorderste Reihe und wiesen dem Anthropologen an, ebenfalls Platz zu nehmen.

„Nun werden Sie uns kennen lernen, Mr. White. Das wollten Sie doch schon immer – oder? Wir haben Sie seit Ihrer Ankunft in Jackson Hill beobachtet und wussten schon bald, wonach Sie suchten. Sie hatten zuerst nur einen Verdacht, doch dann sind Sie auf unser Geheimnis gestoßen, dass diese kleine Stadt durch uns infiltriert worden ist. Ihr Pech, muss ich schon dazu sagen, denn wir können Sie nicht einfach so wieder gehen lassen, ohne Gefahr zu laufen, von der übrigen Menschheit entdeckt zu werden. Nicht das wir euch fürchten, im Gegenteil, Mr. White. Wir sind eine friedliche Rasse, trotz unserer hochtechnisierten Hyperzivilisation. Unsere Waffen sind denen der Menschen weit überlegen. Nur eure Atombomben könnten uns gefährlich werden, weil ihr sie möglicherweise sogar in selbstmörderischer Absicht einsetzen würdet und damit euren eigenen Planeten in eine tote Wüste verwandeln könntet. Das wollen wir natürlich nicht, denn wir streben danach, dass uns die Erde unversehrt in die Hände fällt. Wissen Sie, wir hatten schon Raumschiffe, da sprangen die Vorfahren des Homo sapiens sapiens noch auf den Bäumen herum, Mr. White. Als wir euren Planeten schließlich entdeckten, waren wir uns darüber einig, eine ganz besondere Strategie der Eroberung anzuwenden, die ich Ihnen aber nicht näher erklären möchte. Sie würden das sowieso nicht verstehen. Sie haben aber gleich die Gelegenheit dazu, diese Art des „humanen Vorgehens“ selbst am eigenen Körper zu erfahren. Also machen wir es kurz und fangen an.“

Die Energiewand vibrierte plötzlich. Mr. White hielt den Atem an, weil er merkte, dass er auf einmal ins Bodenlose fiel. Er versuchte instinktiv weiter zu atmen, aber da war keine Luft, sondern nur ein gigantischer, pechschwarzer Tunnel, größer als Erde und Mond zusammengenommen. Der alte Forscher fiel und fiel mit dem Kopf voran nach unten, auf ein unendliches Meer von hell strahlenden Lichtern zu.

Der rasante Sturz beschleunigte sich noch, bis er urplötzlich endete und Mr. White eine gewaltige Armada von Raumschiffen erblickte, die sich alle am Rand des dunklen Tunnels befanden. Sie näherten sich diesem Rand und nahmen Kurs auf Billionen von Sternen, die sich auch ihm in einem dahinter liegenden Universum offenbarten. Mr. White wusste: Das war nicht das Universum, in dem die Menschen existierten.

Der Anthropologe wollten schreien, als sich der dunkle Tunnel schlagartig weitete und die äußeren Ränder ins schier Grenzenlose verschwanden. Er hatte das Gefühl, ganz ohne Raumanzug im All zu schweben, das ihn zu verschlingen drohte. Plötzlich tauchte vor seinem Gesicht, wie aus einem trüben Nebelschleier kommend, das schemenhafte Bild eines alten Indianers auf. Dann verlor Mr. White das Bewusstsein.

Eine unendliche Stille breitete sich in ihm aus.

***

Der Himmel war von unzähligen Sternen bedeckt. Fern im Osten, wo eine flache Hügelkette den dunklen Horizont säumte, sah der alte Indianerhäuptling die ersten schwachen Strahlen der Morgensonne heraufziehen. Sein Stamm der Comanchen lag noch im tiefen Schlaf. In der Ferne heulte ein einzelner Kojote.

Der alte Indianerhäuptling stand aufrecht mit erhobenen Hauptes vor seinem Wigwam und hielt einen etwa zehn Zentimeter langen, grob gemeißelten Feuerstein in seiner rechten Hand, den er immer wieder mit wehmütigem Blick betrachtete. Es war ein Andenken aus einer fernen Welt, der Erde, die er nie wieder sehen würde, das wusste Mr. White nur zu gut. Die Fremden aus dem All waren verschwunden und hatten ihm dieses steinerne Artefakt von seinem Heimatplaneten anscheinend als greifbare Erinnerung mitgegeben.

Ohne ein Wort zu sagen, verließ er das Indianerdorf und vergrub den spitz geformten, messerscharfen Feuerstein etwa eine halbe Meile entfernt davon irgendwo im sandig trockenen Prärieboden. Danach kehrte er zurück ins Dorf, setzte sich vor den Eingang seines Zeltes und blickte hinauf zu den schimmernden Sternen einer Welt, die seine nicht war.


ENDE

(c)Heiwahoe


© Heiwahoe


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