Einst gab es einen Engel, der fasziniert von den Menschen war. Er sah ihnen zu, er hörte ihnen zu, bekam nicht genug von ihnen. Doch ein Mensch hatte seine komplette Aufmerksamkeit. Ein kleines Mädchen von vielleicht 10 Jahren. Der Engel war so fasziniert von ihr, dass er ihr überallhin folgte. Wenn es dem kleinen Mädchen schlecht ging, half er ihr so gut er konnte. Wenn sie traurig oder einsam war, war er stehts an ihrer Seite. Auch wenn das Mädchen den Engel nicht sehen konnte, insgeheim hoffte er, sie würde seine Präsenz spüren. Sie würde fühlen, dass sie nicht mehr allein wäre. Am glücklichsten war der Engel, wenn das kleine Mädchen lachte. Ihr Lachen war so melodisch, dass dem Engel das Herz aufging und zu platzen drohte. Er fände es gut, wenn sie immer so lachen würde. Aber leider war das Mädchen die meiste Zeit traurig. Sie zeigte der Außenwelt eine Maske, doch unter dieser Maske weinte das Mädchen. Leider konnte der Engel nichts weiter tun, als bei ihr zu sein, zu hoffen, dass es ihr bald besser ginge. Die Jahre vergingen und aus dem kleinen Mädchen wurde eine wunderschöne Frau. Sie wurde von vielen gemocht, kam mit jedem zurecht, doch die Maske blieb bestehen. Der Engel konnte ihr diese Traurigkeit die ganzen Jahre nicht austreiben, er war ratlos. Was konnte er denn tun, um ihr zu helfen? Wie konnte er ihren seelischen Kummer lösen und diese lächelnde Maske loswerden? Er wollte komplett bei ihr sein, sie in den Armen halten, ihre Tränen trocknen, ihr zu einem Lachen verhelfen. Er wollte in ihr Leben eintauchen und wirklich und wahrhaftig mit ihr zusammen sein

Da fasste der Engel sich einen Entschluss, er wollte kein unsichtbarer Zuschauer sein, er wollte kein Engel mehr sein, er wollte einfach nur für das Mädchen da sein.

Der Engel wurde traurig, dann wütend. Er griff sich einen seiner Flügel und riss daran, aber nichts geschah. 

Er sah in den Himmel, mit weit aufgerissenen wütenden Augen. Er schrie, er wollte diese entsetzlich schweren Flügel loswerden. Er weinte, konnten Engel überhaupt weinen? Aber war er denn dann überhaupt noch ein Engel? Er konnte Wut empfinden, er konnte weinen, er konnte lieben, ja er liebte das Mädchen. Diese Erkenntnis überraschte ihn etwas, er hatte sich in einen Menschen verliebt. Dies war eine große Sünde, denn Engel durften keine Gefühle entwickeln, sie durften sich nicht in Menschen verlieben. 

Dann geschah es, der Engel fing an in der Morgensonne zu glitzern. Es war, als würde die Sonne durch ihn durchscheinend und ihr Lichtspiel mit ihm treiben. Was passierte nur? Dann fing sich das Glitzern in Blässe zu verwandeln, die seinen ganzen Körper befallen hatte. Der Engel sah sich seine Hand an, die allmählig verschwand. Er dachte an das Mädchen, er weinte, weil er nun nicht mehr bei ihr sein konnte. Er würde nie wieder ihr Lachen sehen, ob sie ihn wohl vermissen würde? 

Dann war er komplett verschwunden, bis nur noch die glitzernden Tränen im Sand übrig blieben.

 

Es klopfte an der Tür. Eine junge Frau öffnete sie und erblickte einen stattlichen jungen Mann. Ihre Blicke trafen sich. "Seine Augen", dachte sie. 

"Ich kenne diese Augen, ich habe von ihnen geträumt. Viele, viele Male habe ich davon geträumt und sie mir herbei gesehnt"

Sie wollte ihn berühren, sie wollte wissen, ob er echt war, doch sie traute sich nicht. Das Mädchen hatte Angst, er könne verschwinden, sich auflösen.

"Guten Tag" sagte er lächelnd. Seine Stimme war so schön, dass das Mädchen hätte weinen können. Ihr kam es vor, als würde sie einen längst vergessenen Freund wiedersehen.

"Guten Tag" sagte sie und lächelte schüchtern.

Die Beiden sahen sich weiter an, sie hätten den ganzen Tag vor der Tür stehen könne um sich anzusehen. 

"Mein Name ist Rich, ich war gerade in der Gegend und habe diese schönen Blumen vor dem Haus gesehen. Es sind meine Lieblingsblumen und ich konnte einfach nicht daran vorbeigehen".

Das Mädchen lächelte.

"Das sind Azaleen, ich ich liebe diese Blumen. Ich heiße Rebecca."

Das Mädchen bat den jungen Mann hinein und sie unterhielten sich weiter und verbrachten ab sofort viel Zeit zusammen.

Es dauerte nicht lange, da verliebten sie sich ineinander und das Mädchen war überglücklich ihn getroffen zu haben.

Es verging eine glückliche Zeit für die Beiden.

Eines Tages ging das Mädchen spazieren und wurde dabei überfallen. Als sie versuchte sich zu wehren, stieß der Angreifer ihr ein Messer in den Bauch. Das Mädchen sackte vor Schmerz und Schreck zusammen und der Angreifer entkam mit ihrer Tasche.

 

Als Rich sie fand, lag sie da, in einer Pfütze voll Blut.

Er rannte auf sie zu, schrie sie an. Als sie die Augen öffnete, sah sie, wie er weinte. Sie lächelte ihn an und legte ihm eine Hand ins Gesicht.

"Du brauchst nicht weinen, ich war sehr glücklich mit dir" 

"Das ist nicht fair. Ich habe alles für dich aufgegeben. Ich wollte immer nur eins und zwar dich lachen zu sehen."

In diesem Moment fiel eine einzelne weiße Feder vom Himmel auf das sterbende Mädchen. Rich erkannte sie sofort wieder und lächelte gequält.

"Wenn das der einzige Weg ist, dann geh ich ihn gerne."

Er nahm die Feder an sich, sie fing an in seiner Hand zu schimmern, wie weißer gefallener Schnee. Dann zerfiel sie zu glitzerndem Staub und der Engel bekam seine Flügel zurück. Das Mädchen sah ihn schweigend an, wollte seine Flügel berühren, doch dazu reichte ihre Kraft nicht mehr aus.

Der Engel lächelte das Mädchen an und umfasste ihre Hand.

"Ich danke dir. Du hast mir gezeigt, was es bedeutet zu lieben. Bitte behalte stehts dein Lächeln und denke dabei an mich."

Mit diesen Worten löste der Engel sich auf, genauso wie die Feder vor ihm. Übrig blieb nur ein Glitzern in der Sonne, das an den Engel erinnerte.

Das Mädchen stand auf, blutverschmiert, aber unverletzt. 

Sie schrie und weinte, brach erneut zusammen und schrie weiter. Sie trauerte um den Engel, der sie gerettet hatte und dafür für immer aus ihrem Leben verschwunden war.


Ende


© Lysann Blackmoon


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Kommentare zu "Wünsche"

Re: Wünsche

Autor: Varia Antares   Datum: 07.04.2022 14:30 Uhr

Kommentar: Liebe Lysann,

eine wunderschöne Geschichte. Ich muss beinahe weinen, weil sie so rührend ist.

Ja, aus Liebe tut man, was getan werden muss, und manchmal bringt man dafür ein Opfer.

LG
Varia

Re: Wünsche

Autor: Angélique Duvier   Datum: 07.04.2022 16:24 Uhr

Kommentar: Einfach wundervoll, Deine Geschichte, liebe Lysann!

L.G.

Angélique

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