Alexander Parvus, seines Zeichens Bürger 4. Klasse, saß an einem kalten Januarmorgen meinetwegen des Jahres 35 nach der großen, demokratischen Wende in der altersschwachen S-Bahn, die ihn vom ‚Common Housing Area‘ zum ‚Low Tech Working Area‘ fuhr. Allen Nichtfreunden von Anglizismen sei hiermit versichert, dass ich in dieser unsagbaren Geschichte sparsam damit umgehen werde – I swear! Zufrieden mit sich und seiner kleinen Welt hing unser Mann trivialen Gedanken nach. Eigentlich hatte er doch in seinem Leben alles erreicht! Nach seinem erfolgreichen Studium der ‚Experimental Indoctrinated Junk Science‘ und dem Abschluss als ‚Master of Elaborated Desaster‘ durfte er seine fünf freiwilligen sozialen Jahre für die oberstädtische Müllabfuhr in den Ressorts der 2. Klasse Bürger ableisten, um dann von der ‚Agentur für allgemeine Wohlfahrt‘ eine Arbeit als Softwaretester für einen lokalen Eierkochmaschinenhersteller zugewiesen zu bekommen. Dabei ging es vornehmlich darum, nach Prozeduren, die Testmanager verfassten, möglichst dumme Bedienungsfehler der recht simplen und weitgehendst automatisierten Gerätschaften zu simulieren. „Auf den ersten Blick mag eure Aufgabe primitiv und unwichtig erscheinen“, so versicherte der Großraumbüroälteste während des letzten Teammeetings, „aber gerade die kleinen Lichtlein sind es, die die Demokratische Plutokratie in bunten Farben schillern lässt.“ Eine Haltung, der sich unser unangepasster Held vorbehaltlos anschloss. Wie gerne wäre er doch Testmanager im Elfenbeinturm geworden! Aber ach, das war nur den Staatsbürgern 3. Klasse vorbehalten. Diese privilegierte Bevölkerungsgruppe bekam Mehrzimmerwohnungen in den Plattenbauten des ‚Gated Common Housing Areas‘ zugewiesen, wurde im Krankenhaus stationär in Fünfbettzimmern aufgenommen, durfte in Fahrgemeinschaften gebrauchte E-Autos verwenden, hatte sogar das passive Wahlrecht und erfreute sich noch vieler anderer grandioser Vorrechte. Früher war ein Aufstieg in solch exklusive Kreise mit überragendem Talent und einer exorbitanten ‚Demokratieabgabe‘ an die richtigen Kreise noch möglich, aber seitdem das ‚Gesetz für soziale Gerechtigkeit‘ von der Einheitsfront der demokratischen Parteien auf Empfehlung der amtierenden ‚Magna Mater‘ verabschiedet worden war, bewegte sich ein derartig schwindelerregender sozialer Aufstieg in den Dimensionen der Unmöglichkeit. Wie toll müsste es sein, wenn man Bürger erster Klasse wäre! Die haben echte Benziner mit Chauffeur und dürfen ohne Sondergenehmigung mit dem Flieger verreisen. Andererseits, es ist schon hart sich Tag und Nacht für die Demokratie so mächtig ins Zeug zu legen.
‚Das war wirklich gestern eine interessante Sendung im Staatsfunk: ‚Mit dem Lamborghini gegen Rechts und Links.‘
So tiefgründig ging es träumerisch durch den bescheidenen Denkapparat Alexanders des Beschränkten. Natürlich war dies eine unerfüllbare Phantasterei unseres Helden, da die entscheidende Voraussetzung für die Zugehörigkeit zur plutokratischen Elite die genetische Abstammung von zwei Angehörigen derselben darstellte.
‚Aber‘, so memorierte das mündige Bürgerlein eine Weisheit aus seiner Studienzeit, ‚eine subordinäre Haltung ist erste demokratische Bürgerpflicht. Wer einmal hated gegen die Obrigkeit, fügt sich nimmer ins Gesetz!‘
Seit einiger Zeit und unendlichen, kostenintensiven Forschungen fand die renommierte Hampelmann Stiftung auftragsgemäß heraus, dass Hasskriminalität eigentlich eine psychische Krankheit nach ICD-Catch 22 wäre, da nur sozial suizidal veranlagte Zeitgenossen vom jährlich veröffentlichten Kanon der erlaubten demokratischen Meinungsfreiheit rechts oder links abwichen. Auf Basis der dreiseitigen Studie beschloss dann die Legislative aus humanitären Gründen, überführte Hater nach Verbüßung ihrer Gefängnisstrafen lebenslang in dafür vorgesehene psychiatrische Einrichtungen zu internieren; von wegen staatlicher Fürsorgepflicht und so.
‚Toleranz, Gerechtigkeit, Einheit und Nachhaltigkeit‘, so lautete das Motto der Demokratischen Plutokratischen Republik, die die alte BRD nach den großen Unruhen, ablöste. In jener Zeit waren Polizei und Bundeswehr nicht mehr in der Lage, weite Teile des Bundesgebietes zu kontrollieren. Neben schweren politischen Fehlern, die nun der geneigte Leser je nach Weltanschauung selber herausfinden mag, verursachte die zweite computergestützte ‚Industrielle Revolution‘ mit ihren Millionen Arbeitslosen einen völligen Zusammenbruch der schon arg lädierten Sozialsysteme. Wie sich leicht nachvollziehen lassen dürfte, neigt ein voller Bauch wenig zur Revolte, aber die Mägen waren leer. Ohne Zweifel hätte dies für die herrschende, bundesdeutsche Elite üble Konsequenzen nach sich gezogen, wenn nicht Donald, der Dritte seines Namens und ‚Lordprotector‘ der Konföderierten Staaten von Amerika, entschieden eingeschritten wäre. Dessen Intentionen waren weniger in der Art, die ihm feindlich gesinnte Elite zu retten, als vornehmlich die amerikanische Machtposition in Europa aufrechtzuerhalten und die verbleibende Industriekapazität des zerrütteten Landes lukrativ zu nutzen. Zusammen mit dem französischen Präsidenten auf Lebenszeit, Joseph Fouché, wurde in Brüssel, der Hauptstadt der Union abhängiger Staaten, der gleichnamige Vertrag ausgehandelt. Das Staatsgebiet der ehemaligen BRD zerfiel in mehrere, voneinander unabhängige Gebiete. Da gab es einmal den amerikanischen Sektor, der hauptsächlich aus diversen Stützpunkten nebst Umland – vor allem der Airbase in Ramstein inklusive der umgebenden Region, die ungefähr die Hälfte des ehemaligen Bundeslandes Rheinland-Pfalz umfaßte – bestand. In ehrwürdiger Tradition ließ Donald, der Dritte seines Namens, die Sperrgebiete mit diversen Mauern hermetisch abriegeln. Ferner wurden in den weitgehend verwüsteten Gegenden des Landes sogenannte ‚Autonome Regionen‘ eingerichtet. Das heißt im Klartext einfach, dass man Land und Leute sich selber überließ. Lokale Führer und Bandenchefs erhielten folgerichtig diverse ‚Wiederaufbauhilfen‘ von der DPR, die dazu beitrugen, die Sicherheitslage immens zu entspannen. Die Demokratisch Plutokratische Republik wiederum umfasste die Landstriche, deren technische Infrastruktur noch einigermaßen intakt war. Mit Unterstützung amerikanischer Truppen und den Streitkräften der Union wurde dann schließlich das beschriebene demokratische Friedensprojekt installiert. Ich könnte euch natürlich jetzt noch über Feinheiten wie ‚Freihandelsabkommen‘ oder sonstiges berichten, aber ich muss gestehen, dass ich euch eigentlich nur unterhalten will und mein Exkurs schon arg lang war. Falls ihr einen politischen Hintersinn seht, so ist der durchaus beabsichtigt, aber hütet euch vor Schubladen, gelle!
Während ich euch das Ohr abgelabert habe, erreichte unser braver Bürger sein Ziel, nämlich einen Zentralbahnhof mit dem Charme eines Gefangenenlagers. Voller Vorfreude auf seine intellektuell äußerst herausfordernde Tätigkeit verließ Parvus leicht drängelnd die wohlgefüllte S-Bahn. Er befand sich nun im ‚Transition Area‘, das nur durch das Passieren mehrerer Kontrollstellen verlassen werden konnte. Der niedere Bürger hatte sein Bürgerphone zwecks Identitätsfeststellung, sicherheitsrelevanter Datenerfassung gemäß der ‚europäischen Richtlinie zum verbesserten Datenschutz‘ und Abbuchung der Mobilitätszusatzgebühr dem Vollzugsbeamten vorzulegen. In der Regel verlief der Vorgang problemlos, falls dies jedoch nicht der Fall sein sollte, standen freundliche Aktivisten der ‚Deeskalierenden Staffeln Demokratischer Sicherheit‘ – kurz DSDS – des Commodore Dragomir Bolle bereit. Routiniert reihte sich nun Alexander Parvus in die für ihn vorgesehene Schlange – Buchstaben O und P – ein. Nach einer ungewöhnlich kurzen Wartezeit von nur 65 Minuten war denn auch seine Zeit gekommen. Lächelnd und mit einem fröhlichen Gruß auf den Lippen, so wie es im kleinbürgerlichen Katechismus der demokratischen Haltung geschrieben stand, überreichte unser Softwaretester sein Plastikteil – die Phones in Silber- und Golddesign blieben nur den beiden höchsten Klassen der demokratischen Gesellschaft vorbehalten – einem desinteressiert blickenden Uniformierten, der wortlos das Gerät per USB mit seinem Kontrollterminal verband. Überrascht und mit einem hämischen Grinsen registrierte der Vollzugsbeamte den Viertklässler zum ersten Mal bewusst. Dann besann sich unser Kontrolleur und verfuhr nach der vorgeschriebenen Standartprozedur.
„Kleinbürger, begeben Sie sich bitte für eine Routinekontrolle in den dafür vorgesehenen Wartebereich. Ihr Bürgerphone wird zu einem späteren Zeitpunkt den Sicherheitskräften übergeben. Vielen Dank für Ihre Kooperation.“
Als gehorsamer Bürger mit Haltung begab sich Alexander in die sich kurz hinter den Kontrollstellen befindliche, völlig leere und verdreckte Sicherheitszone. Leicht verwirrt und fieberhaft suchte sein viertbürgerlicher Geist nach möglichen Regelverletzungen, die das Interesse seiner Obrigkeit hätte erwecken können. Vielleicht war das die Konsequenz daraus, dass er vor drei Monaten eine Bemerkung seines Testmanagers aus Unachtsamkeit überhörte? Aber dieses unerhörte Verhalten wurde im üblichen Rahmen unmittelbar mit einer Ohrfeige und 120 Liegestützen geahndet – denn merke: Kleine Sünden bestraft der Herr sofort. Dann überlief es ihn eiskalt, hatte er nicht betrunken vor zehn Jahren als Studiosus eine halbe Zigarette, die er während einer Party von einem sich in Geberlaune befindlichen Elitestudenten der 2. Klasse geschenkt bekam, geraucht? Ein schweres Verbrechen gegen das Betäubungsmittelgesetz, das nicht unter fünf Jahren Zuchthaus geahndet wurde, da nikotinhaltige Rauschmittel nur den oberen beiden Bürgerklassen erlaubt waren. Aber nein, im Falle einer solchen Straftat hätte ein Sondereinsatzkommando sein bescheidenes Souterrainzimmerchen während seiner knapp bemessenen Freizeit gestürmt. Schließlich kannte er derartiges aus den Reality Soaps des demokratischen Staatsfunks. Nach einer guten halben Stunde ratlosen Wartens erschienen zwei schwarzgewandete Angehörige des DSDS. Der Ältere von beiden, seines Zeichens Hauptoberkorporal, betrachtete den einsam wartenden Viertklässler gleichmütig.
„Kleinbürger Parvus?“
„Kleinbürger Alexander Parvus, Sozialversicherung 1234-56789-0, Bürger 4. Klasse, Work-Live-Balance-Status: Expandable. Zu Ihren Diensten, meine Herren!“, antwortete Alexander gehorsamst gemäß dem kleinbürgerlichen Katechismus.
„Hinsichtlich einer Routinekontrolle eskortieren wir Sie nun zum für Sie zuständigen Amtsgericht. Zu Ihrer Sicherheit möchten wir Sie bitten, diese rote Plakette an Ihrem Anzug zu befestigen und Ihre Arme zwecks anlegen von Handfesseln vorzustrecken. Im Falle einer undemokratischen Verweigerungshaltung sind wir im Rahmen der Direktive 1933 der Magna Mater befugt, äußerste physische Gewalt anzuwenden. Vielen Dank für Ihre Kooperation!“
Zur sichtbaren Enttäuschung der freundlichen Ordnungskräfte tat Parvus wie ihm befohlen und ließ sich widerstandslos zum schwer gepanzerten DSDS-Fahrzeug eskortieren, in dessen Gefangenenbereich er dann auch recht unsanft bugsiert wurde. Zu seinem Erstaunen befand sich als weiterer ‚Fahrgast‘ sein Chef und Testmanager Adalbert Regressio, gekleidet mit silbern etikettiertem Tweet, in der spartanisch ausgestatteten Kabine. Ehrfurchtsvoll betrachtete Alexander den schlecht geschneiderten Maßanzug seines Chefs. Als Bürger 4. Klasse war es dem tapferen Testerlein nur erlaubt, einfache und graufarbige Konfektionsware zu tragen.
„Guten Morgen Herr Regressio, zu Ihren Diensten!“
„Spinnen Sie Parvus? Ist Ihnen eigentlich klar, was hier gerade passiert? Dieser Morgen ist alles, aber bestimmt nicht gut!“
„Sehr geehrter Herr Vorgesetzter, wenn mir eine Bemerkung erlaubt sein dürfte?“
„Reden Sie Parvus!“
Unser Kleinbürger blickte seinen Herrn verschwörerisch an.
„Mein Chef, die Herren vom DSDS haben mir verraten, dass dies hier nur eine Routinekontrolle ist. Also keine Sorge Herr Testmanager!“
„Die hellste Birne im Kronleuchter waren Sie ja noch nie. Ich wurde gezielt vor meiner Wohnungstür verhaftet und jetzt kommen Sie mir nicht mit Missverständnis. Am besten Sie halten jetzt den Mund und sammeln sich für das Bevorstehende!“
Tief enttäuscht von seinem Vorgesetzten, denn Pessimismus war nach kleinbürgerlichem Katechismus zutiefst undemokratisch, schwieg Alexander wie ihm geheißen.
Nachdem sich das Fahrzeug noch mit einigen Parvus unbekannten Blau- und Rotettiketierten gefüllt hatte, ertönte der Lautsprecher im Inneren des Gefangenentransporters:
„Bürger und Kleinbürger. Sie werden nun zu Ihrem für Sie zuständigen Amtsgericht verbracht. Wir möchten Sie bitten, während der Fahrt und bis zur Urteilsfindung durch den für Sie zuständigen AI-Richter zu schweigen. Im Falle einer antidemokratischen Verweigerungshaltung sind wir berechtigt, gemäß der Direktive gegen unnötige Polizeigewalt äußerste physische Sanktionen auszuüben. Diese können beispielsweise darin bestehen, den Schutzhaftbereich des Gefangenentransporter mit Betäubungsgas zu fluten oder Sie während des Prozesses mittels eines Schlagstockes zu sedieren. Vielen Dank für Ihre Kooperation.“
In seiner Verwirrung vermochte der Viertklässler keinen vernünftigen Gedanken zu fassen, bis er sich nach circa einer dreiviertel Stunde im Sammelgerichtssaal für niedere Bürgerklassen befand. Dieser Tempel der Justitia besaß eine gewisse Ähnlichkeit mit einer recht heruntergekommenen Turnhalle einer bedürftigen Schule. Einem hohen Podest gegenüber, das mit einem Lautsprechersystem und einer recht schlecht gefertigten Puppe im schwarzen Talar ausgestattet war, befand sich eine Art Pferch, in dem sich die Delinquenten drängelten. Obwohl, wir ihr vermutlich schon geschnallt habt, die Bevölkerung im besten Untertanengeist abgerichtet war, bewachten schwerbewaffnete Aktivisten des DSDS, kommandiert von einem Unterleutnant 5. Grades, das menschliche Vieh.
Aus den Lautsprechern ertönte einige Minute nach dem Zusammentrieb der Angeklagten voluminös eine blecherne Stimme:
„Bürger der dritten und vierten Ordnung, es spricht die für Sie nach der reformierten Zivilprozessordnung zuständige künstliche Intelligenz: AI-J.U.D.G.E-D.R.E.A.D-08-15.
Gemäß der Demokratisch Plutokratischen Grundordnung verlese ich nun die weisen Gerechtigkeitsregeln der Magna Mater:

- Bürgerinnen und Bürger der ersten Ordnung sollen in Ihren sphärischen Kreisen des öffentlichen Wohls nicht mit trivialen Gerichtsverfahren belästigt werden. Sie sind durch handverlesene Ersatzmänner aus der übrigen Bürgerschaft zu ersetzen. Eine potentielle Bestrafung wird an den ausgewählten Freiwilligen vollzogen.
- Bürgerinnen der Kategorien zwei bis vier und Bürger der zweiten Ordnung haben das Recht auf Verteidigung. Sie sollen einem humanoiden Gericht, bestehend aus Richter und Staatsanwalt, vorgeführt werden.
- Bürger der dritten und vierten Ordnung werden aus Gründen geschlechtlicher Gleichberechtigung von eigens für sie konzipierten künstlichen Intelligenzen abgeurteilt.

Im Namen des Volkes ergeht für die anwesenden Bürger dritten und vierten Grades folgendes Urteil: Aufgrund der Meldung Ihres Arbeitgebers, dass die von Ihnen besetzten Arbeitsplätze nicht mehr benötigt werden, verlieren Sie gemäß §218, Absatz 567 des ‚Gesetzes zur Sozialverträglichkeit des Arbeits- und Kündigungsschutzes‘ Ihre bisherigen Bürgerrechte sowie sämtliche beweglichen und unbeweglichen Vermögenswerte.
Im Namen des Volkes ergeht für anwesende Bürger der dritten Ordnung folgendes Urteil: Gemäß §294, Absatz 567 des ‚Gesetztes zur Festigung der sozialen Gerechtigkeit‘ erhalten Sie den Status eines ‚einfachen Bürgers‘ mit Hartz VII-Lizenz zur Grundversorgung durch staatliche Suppenküchen. Ihr sozialer Status wird von ‚almost hardly expandable‘ auf ‚lumpenproletariat‘ korrigiert. Error162. Verlassen Sie jetzt das hohe Gericht durch den für Sie vorgesehenen Ausgang zur weiteren Verarbeitung. Vielen Dank für Ihre Kooperation.“
„Danke Eure Gnaden für das gerechte Urteil.“
So erklang es einmütig, wie im kleinen Katechismus vorgesehen, aus dem Anklagepferch.
„Die mit den silbernen Plaketten jetzt da entlang!“
Gelangweilt deutete der Unterleutnant mit seiner Reitpeitsche auf den Ausgang, der mit einer großen, römischen Eins gekennzeichnet war. Die wenigen Silberlinge waren dann auch schnell verschwunden.
„Im Namen des Volkes ergeht für anwesende Bürger vierter Ordnung, die in einer staatlich sanktionierten Partnerschaft im Sinne der Richtlinie 2678 leben, folgendes Urteil: Gemäß §51, Absatz 33 des ‚Gesetzes zur geschlechterneutralen Familienförderung‘ erhalten Sie den Status eines einfachen Bürgers mit limitierter Existenzberechtigung und die Auflage eines nicht zeitlich unbegrenzten freiwilligen sozialen Dienstes auf den Gütern der Bürger der Klasse eins. Verlassen Sie jetzt das hohe Gericht durch den für Sie vorgesehenen Ausgang zur weiteren Verarbeitung. Vielen Dank für Ihre Kooperation.“
„Danke Eure Gnaden für das gerechte Urteil.“
„Die Blauen, Ausgang drei, jetzt ab.“
Dieses Mal dauerte es einige Zeit länger, bis die Anweisung des Unterleutnants ausgeführt wurde. Der völlig konfuse Parvus war jetzt nur noch von seinen roten Genossen umgeben.
„Im Namen des Volkes ergeht für anwesende Bürger vierter Ordnung, die nicht in einer staatlich sanktionierten Partnerschaft im Sinne der Richtlinie 2678 leben folgendes Urteil: Aufgrund §666, Absatz 999 des ‚Paktes zur sozialen und gerechten Steuerung von Migration‘ werden Sie in Ihr sicheres Herkunftsland abgeschoben, dieses wird aus dem nachfolgenden Pool autonomer Gebiete per Zufallsprinzip ermittelt:
1. Die Vereinigten Emirate von Almanya. Akkreditierte Bürgervertreter: Iman-al-Iman Hayreddin Barbarossa und Emir Ali der Abtrünnige alias Harry Hirsch.
2. Obersächsiche Alternative Deutscher Volksgenossen. Akkreditierter Bürgervertreter: Vater-des-Vaterlandes Heino Schickelgruber von der schwarzen Legion.
3. Niederbayrischer Kirchensprengel der Heiligen der letzten Stunden. Akkreditierter Bürgervertreter: Seine Heiligkeit Prophet Angelo Torquemada.
4. Volksrepublik Bremerhaven. Akkreditierter Bürgervertreter: Generalsekretär Genrich Jagoda.
5. Protektorat Essen-Steele. Akkreditierter Bürgervertreter: General Porfirio Diaz von den ‚Bandolero Angels‘.
6. Königssteiner Föderation. Akkreditierter Bürgervertreter: Autokrator Stenka Rasin von der Koza Nostra Rus.
Ihr summarisches Urteil wird aus humanitären Gründen und zur moralischen Vorbereitung auf das freudige Ereignis nach fünf Minuten verkündet: 4:59, 4:58 …“
Allmählich realisierte unser gefallener petit bourgeoise seine missliche Lage. Trotzdem, das konnte nur ein Missverständnis sein! Versprach nicht gestern der Bereichsleiter Hermann Stinnes, ein wohlproportionierter Zweitklässer im edlen Maßanzug, fröhlich lachend der gesamten Abteilung eine wundervolle Überraschung anlässlich der von den Mitarbeitern finanzierten Feier zur Beendigung des aktuellen Projekts. Am besten, er verfuhr nach den Haltungsnormen des kleinen Katechismus und ließ alles seinen Gang gehen. Vermutlich würde es sich bald aufklären, denn die Obrigkeit irrte sich, so wie es geschrieben stand, nie.
„Herzlichen Glückwunsch, ehemalige Kleinbürger. Sie werden in die ‚Obersächsische Alternative Deutscher Volksgenossen‘ abgeschoben. Wir wünschen Ihnen eine gute Reise in Ihre Heimat und freuen uns mit Ihnen. Verlassen Sie jetzt das hohe Gericht durch den für Sie vorgesehenen Ausgang zur weiteren Verarbeitung. Vielen Dank für Ihre Kooperation.“
„Danke Eure Gnaden für das gerechte Urteil.“
Was denkt ihr auf welchen Ausgang nun unser freundlicher Unterleutnant wortlos deutete? Bingo: Die Nummero zwei! Damit habt ihr euch schon fast televisionsmäßig für hochdotierte Quizshows qualifiziert. Vielen Dank für eure Kooperation! Am Rande möchte ich bemerken, dass ich natürlich auch gerne Islamistische Blutsäufer, fundamentalistische Hexenjäger, Mao/Stalinisten und sonstige schlimme Finger im Folgenden durch den Wolf gedreht hätte, aber das Schicksal entschied sich eben für die faschistischen Volksgenossen – es kann nur einen geben! Es liegt wohl in der Natur der Dinge, dass manche Arten von Misanthropen auch das bekommen, was sie letztendlich verdienen; natürlich werden andere nicht einmal als solche erkannt.
Aber zurück zu unserer herzerwärmenden Geschichte über die Abenteuer des braven Kleinbürgers Parvus. Im Gegensatz zu den sonstigen Abläufen in der DPR wurde Alexander der Glücklose mit unbürokratischer Schnelligkeit in einen Zug mit luxuriösen Viehwagons verfrachtet. Rasch landeten dann auch er und seine Schicksalsgenossen im großen, an der Grenze konzentrierten, Internierungslager ‚Neue Heimat‘ der Volksgenossen. Dort wurden die unglücklichen Reisenden von Mitgliedern der schwarzen Legion und ihren weißen Schäferhunden in Empfang genommen. Es hieß von den getreuen Tieren, dass manche der Vierbeiner ihren Herrchen durchaus intellektuell ebenbürtig, wenn nicht gar überlegen waren. Mit der beißfreudigen Unterstützung der gelehrigen Tiere und dem großzügigen Einsatz von Gummiknüppeln verteilten die aufmerksamen Ordnungshüter ihre Schützlinge in die einzelnen, Gefängnishof ähnlichen Wartebereiche. Von dort ging es für unseren gebeutelten Helden nach einigen Stunden Wartezeit in ein kleines Zimmerchen, in dem ein braun uniformierter Beamter des Völkischen Amtes für Migrationsverhinderung und ein mit seinem Dienstrevolver spielender Angehöriger der schwarzen Legion hinter einem wuchtigen, eisernen Schreibtisch saßen.
„Migrant, drei Schritte vor! Wir führen hier eine erste Untersuchung durch, ob Du als aufrichtiger Volksgenosse oder Wirtschaftsflüchtling wagst, in unsere großartige Gemeinschaft einzudringen. Unsere Identitäten sind geheime Kommandosache, deshalb wirst Du mich mit 'Volksgenosse Chef ' und den Legionär mit 'Herr Offizier' anreden. Untersturmwachtmeister Müller würden Sie bitte aufhören, mit Ihrer Dienstwaffe zu spielen, das macht mich nervös!“
„Subinspektor Heimlich, die Waffe ist nicht geladen! Das gehört jetzt zur psychologischen Migrantenbetreuung; neue Anweisung von oben.“
„Meinetwegen! Wo war ich stehen geblieben, ach ja. Wir stellen in mehreren Befragungen fest, ob Dir erlaubt sein wird, einen Antrag auf ein Antragsformular zur vorläufigen Duldung als Volksgenosse stellen zu dürfen. Nach einem positiven Duldungsbescheid und bei guter Führung wirst Du nach fünf Jahren dem Volksgemeinschaftsarbeitsdienst für 20 Jahre überstellt. Danach bekommst Du Deine unbefristete Volksgenossenurkunde, darfst Dir eine bezahlte Arbeit suchen und einen deutschen Schäferhund halten. Solange Dein Ausweisungsverfahren, äh, ich meine natürlich Immigrationsverfahren läuft, bewohnst Du eine Gemeinschaftsbaracke im Internierungslager und wirst in den persönlichen Fabriken des Vaters-des-Vaterlandes, unseres herrlichen Anführers Heino Schickelgruber, für Kost inclusive Logis arbeiten; die Ruhepause zwischen zwei Zyklen in den Fabriken beträgt acht Stunden. Bei Erlangung der vorläufigen Duldung erhöht sich die Ruhepause als Gratifikation auf insgesamt neun Stunden. Nach Ablauf der Duldung erfolgt entweder die Ausweisung ins ehemalige Freiluftendlager für Atommüll in Witzleben oder eine Überstellung an die Außenlager des Volksgemeinschaftarbeitsdienstes. Hast Du das verstanden Migrant?“
„Jawohl, Volksgenosse Chef!“
„Ich und der Herr Offizier werden Dir jetzt einige Fragen stellen, die Du schnell und präzise zu beantworten hast. Am Ende der Sitzung erfährst Du, ob wir Dich sofort nach Witzleben abschieben oder Dir die außerordentliche Gunst gewährt wird, im Internierungslager zu residieren.“
Subinspektor Heimlich öffnete eine voluminöse Umlaufmappe und begann seine peinliche Befragung.
„Name und Beschäftigung in der DPR!“
„Kleinbürger Alexander Parvus, Sozialversicherung 123456789-0, Bürger 4. Klasse, Work-Live-Balance-Status: Expandable. Zu Ihren Diensten, Volksgenosse Chef!“
Allmählich wurde es dem unfreiwilligen Emigranten leichter ums Herz, so unterschiedlich zur DPR ging es bei den teutonischen Volksgenossen nicht zu.
„Migrant, ich habe nach Deiner ehemaligen Arbeit gefragt. Noch so eine freche Antwort und es geht ab nach Witzleben!“
Mit serviler Stimme beeilte sich unser tapferer Kleinbürger seinen Inquisitor zufriedenzustellen.
„Verzeihen Sie vielmals, sehr geehrter Volksgenosse Chef. Softwaretester für Eierkochvollautomaten!“
„Der weiß, wie man mit seinen Herren redet. Wenn der kein Eindringling wäre, könnte man ihn glatt als Latrinenbursche für die Schwarzhundertschaften zwangsrekrutieren!“
Alexander fühlte sich geschmeichelt.
„Vielen, herzlichen Dank Herr Offizier!“
„Untersturmwachtmeister Müller, darf ich fragen, warum Sie jetzt vom Protokoll abweichen und den Migranten zu weiteren Frechheiten animieren?“
„Psychologie! Im Handbuch für den treudeutschen Legionär steht, dass dies die Arbeitsfreude steigert!“
„Würden Sie sich bitte auf Ihre vorgeschriebene Rolle beschränken. Wo waren wir, ach ja. Bist Du und Deine Vorfahren bis ins dritte Glied von original Biodeutscher Abstammung mit Gütesiegel?“
„Jawohl, Volksgenosse Chef!“
„Tatsächlich? Trägst Du oder einer Deiner Verwandten Kopftücher?“
„Kopftücher? Ich verstehe die Frage nicht, sehr geehrter Volksgenosse Chef.“
„So eine Frechheit, eigentlich sollte ich jetzt Schluss mit Dir machen und Dich den Schäferhunden vorwerfen! Aber ich will noch einmal Gnade vor Recht ergehen lassen – ich bin manchmal zu gut für diese Welt. Du hast hier mit ‚Jawohl, Volksgenosse Chef‘, ‚Nein, Volksgenosse Chef‘ oder ‚Ich bekenne mich schuldig, Volksgenosse Chef‘ zu antworten Migrant.“
„Nein Volksgenosse Chef.“
Lauernd betrachtete der zuvorkommende Beamte seinen Kunden.
„Bist Du oder einer Deiner Verwandten mosaischen oder gar muslimischen Glaubens?“
„Nein, Volksgenosse Chef.“
Misstrauisch begutachtete der Migrationsverhinderer den auskunftsfreudigen Parvus.
„Das werden wir noch prüfen!“
Überraschend spannte der bisher untätige Müller seinen Revolver und richtete den auf unseren entsetzten Kleinbürger.
„Nein, bitte nicht, Herr Offizier.“
„Müller, was soll denn das schon wieder?“
Der Untersturmwachtmeister drückte ab und mit einem lauten Klick schlug der Revolverhahn in eine leere Kammer.
„Müller, sind Sie verrückt geworden, das gibt ein Disziplinarverfahren! Wenn Sie wenigstens geschossen hätten, gäbe es mildernde Umstände!“
„Beruhigen Sie sich Subinspektor. Ein kleiner Scherz zur Auflockerung, das gehört jetzt offiziell zur psychologischen Migrantenbetreuung.“
Generös blickte der große Psychologe den äußerst erleichterten wirkenden Parvus an.
„Beim nächsten Mal sei es Dir gestattet, vorschriftsmäßig zu lachen, Migrant!“
„Vielen Dank, großer Herr Offizier!“
„Können wir jetzt fortfahren, Müller? Gut Migrant, isst Du oder einer Deiner Verwandten undeutsche, fremdländische Gerichte wie etwa Kebab, Lasagne, Pizza, Knoblauchwurst oder Fischfrikadellen?“
„Nein, Volksgenosse Chef.“
„Gut Migrant, das wars fürs Erste. Obwohl ich wegen Deiner aufmüpfigen Art Bedenken habe, will ich Dir doch eine Chance geben. Die Zweite der folgenden zehn Sitzungen findet frühestens in sechs Monaten statt, damit Du Zeit hast, Dich im Lager einzugewöhnen. Untersturmwachtmeister Müller, noch Fragen an den Migranten?“
Statt eine Frage zu stellen, gedachte Müller seinen gelungenen Scherz zu wiederholen. Als die Waffe auf Alexander den Glücklichen zeigte, lachte der befehlsgemäß. Zum außerordentlichen Erstaunen der Prüfungskommission entlud sich der Revolver mit einem lauten Knall und tötete Parvus auf der Stelle.
„Ooops, war ich das etwa? Da war wohl noch eine Patrone drin.“
Unangenehm berührt erwachte Alexander Parvus, Beamter des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, aus seinem Alptraum, den er schon fast bereits wieder vergessen hatte. Mit einem Seufzer drehte er sich auf die andere Seite und schlief weiter den Schlaf des vermeintlich Gerechten.


© 2019 H.K.H Jeub


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Beschreibung des Autors zu "In Dystopia: I have a dream"

Danke fürs Lesen und ein angenehmes Wochenende.
LG
JU

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Kommentare zu "In Dystopia: I have a dream"

Re: In Dystopia: I have a dream

Autor: Alf Glocker   Datum: 25.06.2021 14:44 Uhr

Kommentar: erfrischend!
lg alf

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