Er musste für eine Woche in die französische Provinz, um für eine kleinere Firma eine neue Software zu installieren, anzupassen, auszuprobieren und die vorhandenen Daten zu übertragen. Es war eine Routinearbeit, die ihn nicht sehr beanspruchte, aber dennoch seine ständige Anwesenheit erforderte. Die meiste Zeit arbeitete zwar der Computer allein, aber er musste immer wieder eingreifen, etwas verändern, Entscheidungen treffen und kontrollieren, ob alles richtig lief. Die Firma hatte ihm einen kleinen Raum zur Verfugung gestellt und er saß von acht Uhr früh bis sieben Uhr abends allein vor dem Bildschirm. Weil er nicht weg konnte und weil er auch möglichst bald fertig werden wollte, verzichtete er darauf zum Mittagessen zu gehen. Er brachte sich Sandwichs mit und die Firma stellte ihm Kaffee und Getränke zur Verfügung. Die einzige Ablenkung in den langweiligen Phasen, in denen er nur warten musste, waren die Zeitung und ein paar Fachbücher, die er sich mitgenommen hatte und das große Fenster mit Blick in eine ruhige Nebenstraße. Von seinem Bürostuhl aus sah er das erste Stockwerk des gegenüberliegenden Hauses. Die Ablenkung, die sich dort bot, hielt sich allerdings auch in Grenzen, weil er immer nur auf Fensterläden sah, die meistens geschlossen waren. Es waren mannshohe Fenster, die am Fußboden begannen und mit einem eisernen Geländer einen kleinen Balkon bildeten. Die Läden waren aus Holz, besaßen Lamellen und ließen sich in der Mitte falten. Sie waren genauso grau wie der Stein, aus dem das Haus gebaut war. Es war ein typisches französisches Wohnhaus vom Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts. Die Straße, die Haustür und die Fenster im Erdgeschoss konnte er nur sehen, wenn er an sein Fenster trat.

Er fing am Montag früh mit seiner Arbeit an und die Frau fiel ihm am Montag Nachmittag so gegen vier Uhr auf. Es war eine junge, hübsche Frau mit langer, blonder Mähne, die um diese Zeit einen der verschlossenen Fensterläden öffnete, sich weit aus dem Fenster beugte, der Sonne zuwandte und sich ausgiebig räkelte. Sie trug ein eng anliegendes, tief ausgeschnittenes schwarzes Gewand mit dünnen Trägern, das vermutlich ein Nachthemd war, aber ebenso gut ein Abendkleid hätte sein können. Ihr Dekolletee war hinreißend, ihre Frisur ziemlich derangiert und ihr Blick glücklich und verschlafen zugleich, so weit er das aus der Distanz beurteilen konnte. Sie blickte ein, zwei Minuten in Richtung der Sonne, dann auf die Straße, erst in die eine, danach in die andere Richtung und dann sagte sie etwas über ihre Schulter hinweg in den Raum hinein. Er war neugierig geworden und an das Fenster getreten, um diese attraktive Frau besser beobachten zu können. Aber da machte sie das Fenster schon wieder zu, ließ aber den Laden offen. Eine halbe Minute später öffnete sich die Haustür, ein junger, gut aussehender Mann streckte den Kopf heraus, schaute ebenfalls die Straße hinauf und hinunter, trat dann rasch ins Freie und ging eilig davon, ohne sich nochmals umzusehen.

Das Ereignis machte ihn nachdenklich und er begann das Haus zu beobachten. Er stellte an den nächsten Tagen fest, dass jeden Morgen pünktlich um halb neun ein Mann das Haus verließ, offensichtlich der Ehemann. Ein schmaler, schmächtiger Mann mittleren Alters mit Anzug, Nickelbrille, Halbglatze und Aktentasche, wenig auffallend, wenig attraktiv. Die blonde Frau trat mit ihm vor die Haustür. Sie trug einen weißen, flauschigen Morgenmantel und gab ihm zum Abschied einen Kuss auf die Wange. Am späteren Vormittag ging sie, adrett gekleidet, aus dem Haus und kam etwa gegen elf Uhr mit einem vollen Einkaufsnetz zurück. Wieder sehr pünktlich, um zwölf, kam ihr Mann und blieb etwa anderthalb Stunden. Als er wieder zur Arbeit ging, ohne Aktentasche, trat er allein aus dem Haus und wurde nicht mit Kuss verabschiedet. Um halb drei kam ein anderer Mann, klingelte rechts oben, wartete ein paar Sekunden, dann öffnete er die Tür und trat ein. Es war am Dienstag ein kleiner, älterer, etwas dicklicher Typ, der keineswegs so attraktiv war wie der junge Mann vom Vortrag. Um vier Uhr fand wieder das Ritual mit dem Fensterladen statt, der Mann ging, nachdem die Frau hm vermutlich gesagt hatte, dass niemand auf der Straße sei. Gegen sechs kam der Ehemann zurück und gegen sieben hörte er mit seiner Arbeit und damit auch mit seinen Beobachtungen auf. Am Mittwoch und am Donnerstag lief alles nach dem selben Schema ab, er konnte fast die Uhr danach stellen, nur die Männer waren jeweils andere.

Eigentlich wäre er mit seiner Arbeit am Donnerstag fertig gewesen, alles war eingerichtet, das Programm lief, die Daten waren übertragen, die Kontrollen positiv abgelaufen und alle Regularien erledigt. Stattdessen baute er einen kleinen, harmlosen Fehler ein, der es ihm ermöglichte, am Freitag noch einmal in seinem temporären Büro zu erscheinen und bis Mittag zu arbeiten. Er beendete seine Arbeit um halb zwei, nachdem er beobachtet hatte, dass der Ehemann gegangen war, verabschiedete sich von seinem Auftraggeber und verließ das Haus. Er ging die Straße hinab, bog die erste Querstraße nach links ab und dann nochmals nach links und war in der ruhige Nebenstraße. Er ging zu dem grauen Haus mit den grauen Fensterläden und war etwas erstaunt, als er auf dem Klingelknopf rechts oben den Namen las:Deneuve. Er erinnerte ihn an einen alten Film. Fünf Minuten vor halb drei drückte er auf die Klingel und wartete.

Belle de Jour

© yupag chinasky


© www.yupag-fotoart.de


0 Lesern gefällt dieser Text.

Diesen Text als PDF downloaden




Kommentare zu "Belle de Jour"

Es sind noch keine Kommentare vorhanden

Kommentar schreiben zu "Belle de Jour"

Möchten Sie dem Autor einen Kommentar hinterlassen? Dann Loggen Sie sich ein oder Registrieren Sie sich in unserem Netzwerk.