Der lange Atem


Aufhänger

Wumm wumm wumm - dröhnte der unerbittliche Rhythmus der Tritte gegen seinen, sich schützend um den Kopf gewickelten Arm. Durch den fiebrigen Schmerz drang die emotionslose Stimme in sein Bewusstsein:
„Oh Mariomaus, du weißt, ich halte meine Versprechen“, sagte Clara Kersten zu ihrem Mann, bevor er in den roten Nebel der Bewusstlosigkeit versank.


Zusammenfassung

„Der Zeuge ist hiermit entlassen. Wir Unterbrechen die Verhandlung und setzen 15:30 Uhr mit der Befragung der Angeklagten fort“, sagte der ergraute Richter Krieger.
Für Mario Kersten hatte er nichts übrig. Ein Mann muss seinen Mann stehen, sonst taugt er für eine funktionierende Gesellschaft nicht. Das heißt er muss einen anständigen und ehrbaren Beruf ausüben. Er muss in die Kirche gehen und Haus und Hof klar Schiff halten. Vor allen Dingen muss er seine Familie auf Kurs halten und als Captain der Besatzung die Disziplin vorgeben. Und dazu zählt nicht, sich von seiner meuternden Frau in ein Krankenhaus befördern zu lassen, Himmelhergott.
Seine abschätzigen Gedanken wanderten zu dem Sohn der Kerstens, als er seinen aus Kirchholz gefertigten Füller samt Tintenfass sorgfältig in seiner Federmappe verstaute.
„Noch ein schwules Tunten-Weichei der kommenden Generation“, lauteten seine Gedanken.

Josephine Frey ging ohne Umschweife auf Mario Kersten zu. Als Reporterin für Die Morgenluft waren Interviews für sie Berufsalltag. Dieser Fall war es jedoch nicht.
Gewalt und Sorgerechtsentzug mit einer Frau in der Täterrolle ist ungewöhnlich, im ländlichen Franken sogar sehr ungewöhnlich.
Im Vorfeld hatte Josephine bereits Clara Kersten interviewt. Informationsgehalt null. Die Frau schüchterte Josi ein. In den Interviews kam es zu keinem Wortaustausch. Clara reagierte auf die Fragen von Josephine mit einem stummen Lächeln.
Josi lief ein kalter Schauer über den Rücken, als sie an die dominante Schwedin dachte. Sie konnte sich genau vorstellen, wie Mario Kersten seiner Frau in das Netz gegangen ist. Ihr langes blondes Haar und die klaren grauen Augen in denen Tiefe saß, bildeten die Pfeiler ihrer skandinavischen Anziehungskraft. Diese Erscheinung gepaart mit der sie umgebenden Autorität, wirkten auf einen Typen wie Mario, wie ein Stadionscheinwerfer auf Motten. Zack ins Netz gegangen.
Mario blickte zu Josephine rüber, bis sich ihre Blicke trafen. Daraufhin senkte er den Kopf und wand sich zum Gehen ab.
„Herr Kersten“, sprach Josephine den ausweichenden Mann an. „Wie beurteilen Sie den bisherigen Verlauf der Verhandlung?“
Mario Kersten hielt inne. Sein Blick wanderte zwischen den Boden des Gerichtsgangs und ihrem Gesicht hin und her.
„Meine Frau ist angeklagt, weil sie ihrem Mann, also mich, halb tot geschlagen hat. Wir haben eine gemeinsame Tochter. Wie soll ich die Verhandlung also finden?“, antwortete Mario nach einigen Augenblicken.
Josephine erkannte Traurigkeit in Marios Erwiderung. Sein Schicksal war bedauernswert. Solche Gefühlsregungen waren durch die Jobbeschreibung einer Lokalreporterin jedoch per se ausgeschlossen.
„Falls es zu einer Verurteilung kommt, steht ihrer Frau als Wiederholungstäterin eine Freiheitsstrafe in Aussicht. Das Sorgerecht würde dann alleinig an sie übergeben“
Im Militärjargon nennt man den wiederholten Angriff auf dasselbe Ziel Nachgreifen. Dies war auch der Hintergrund von Josis zweiter Aussage, erbrachte jedoch nicht den gewünschten Emotionsausbruch. Kein Stoff für eine gute Story Baby.
Stattdessen hielt Mario inne. Setzte zu einer Antwort an, schüttelte dann aber hölzern den Kopf. Sein ganzer Körper wirkte angespannt, als er sich zum Gehen abwand.
„Sie verstehen gar nichts“, sagte er mit erstickter Stimme.
Josephine erkannte, dass Mario Angst hatte.

„Bitte erheben sie sich für die Urteilsverkündung“, sagte Richter Krieger.
„Clara Kersten wird dem Tatbestand der schweren Körperverletzung, der Misshandlung von Schutzbefohlenen und versuchten Totschlags für schuldig erklärt. Sie wird hierfür zu einer Haftstrafe von 10 Jahren verurteilt. Aufgrund dessen, dass Sie Wiederholungstäterin ist, ist das Aussetzen zur Bewährung ausgeschlossen. Das Urteil ergeht im Namen des Volkes.“
Es herrschte völlige Stille im Gerichtssaal.
„Bitte führen Sie Frau Kersten zum Haftantritt ab“, sagte Krieger.
Clara saß regungslos auf ihrem Stuhl. Zwei Gerichtsdiener näherten sich ihr, um sie zu flankieren. Die junge Schwedin blieb sitzen. Die Männer forderten sie auf, ihnen zu folgen. Clara schien anteilslos abzuwarten.
Der jüngere Beamte versuchte sie and der Schulter zu packen. Sie wich dieser Bewegung blitzschnell aus, führte ihre Hand auf seinen Rücken und drückte ihn mit Wucht auf den Tisch der vor ihnen stand. Dabei schwang sie sich hoch und trat zugleich ihren Stuhl nach hinten. Ohne Dynamik zu verlieren, packte sie den vor sich entblößten Beamten in die Haare und riss ihn empor. Dabei griff sie ihm in die Brusttasche und zog den dort platzierten Kugelschreiber heraus. Die Taste des Stifts betätigend, presste sie den Stift gegen den Hals des Beamten. Sein Kollege stand dümmlich blickend daneben, unfähig die Geschwindigkeit mit der sich die Situation geändert hatte, zu begreifen.
Clara manövrierte ihren Gefangenen Richtung Scheibe, welche sie von dem Gerichtssaal abgrenzte. Sie drückte ihre Stirn gegen das Glas und blickte Mario direkt an. Ihn fröstelte als sich ihr Gesicht zu einem Grinsen verzog. Wie konnte er diese Frau trotz alledem lieben? Eine pervertierte Beziehung, doch es war so, sie faszinierte ihn.
Clara stieß den Beamten von sich, der daraufhin zu Boden ging. Der Mann schlug mit seinen Gliedmaßen um sich und versuchte mit weit aufgerissenen Augen Abstand zu gewinnen. Clara blickte zu dem jungen Mann and anschließend zu seinen Kollegen, welcher immer noch mit offenem Mund die Szene beobachtete.
Sie zuckte mit den Schultern, hob die Hände und ließ dabei den Stift fallen. Im Saal herrschte vollkommene Stille. Niemand rührte sich. Wie um die Situation aufzulösen, stieß Clara den Stift in Richtung der Beamten.
Der Ältere zog als erster seinen Schlagstockt und ging, gefolgt von seinen Kollegen auf Clara zu. Nun stand der Gerichtssaal in heller Aufregung.
„Ruuuuhe!“, brüllte Krieger. „Die Gefangenen S-O-F-O-R-T abführen“
Der alte Krieger blickte den Dreien im Folgenden nach. Ihm schauderte und das kam in Kriegers langer Karriere bisher nicht oft vor.


Vorspiel

Mario hatte seine Tochter Nele beim Kindergeburtstag abgesetzt. Die Kinder würden die Zeit mit Zelten im Garten verbringen. Eltern? Nein Danke.
Für Mario heißt das, bis morgen Mittag Entspannung. Als alleinerziehender Vater ein rares Gut. Quality time mal anders.
Er liebte seine Tochter natürlich, aber er liebte auch seine Individualität. Wenn er an seine Zeit vor dem Elterdasein, vor der Partnerschaft dachte, so überkam ihm ein Gefühl der Freiheit. Ein Lächeln umspielte seine Lippen, als er die Stadtgrenze passierte. Raus in die Natur, rein in die Einsamkeit, umgeben von Ruhe.
Mario war dankbar für die Möglichkeit das Sommerhaus seines Schulfreundes Andreas nutzen zu dürfen. Hier konnte er entspannen, das wusste er aus seiner Erinnerung. Schon im Grundschulalter verbrachte er Zeit mit Andreas und dessen Familie im Sommerhaus.
Er erinnerte sich an die holprige Anfahrt durch den Wald. Der Subaru Justy 4x4 von Andreas Vater überwand die Strecke spielend. Die senkrecht anmutende Einfahrt zum Haus wurde von dem Wagen traditionell mit durchdrehenden Rädern bewältigt. Das brachte Andreas Vater Kopfschütteln seiner Frau und Grölen der Jungs ein.
Der Vorderteil des Hauses wurde von einer Buche behütet, die den Platz der Lichtung nutzte, um ihre immense Krone zu entfalten. Das zum See abfallende Gelände, legte das Erdgeschoss frei, an dem sich eine weitläufige Veranda mit Grillplatz anschloss.
Auch mit Clara hatte er hier Zeit verbracht. Ihr erster Aufenthalt nahm für ihn hierbei einen der vordersten Plätze in seiner Top-Ten-Liste der sexuellen Erfahrungen ein. Die rauhe Gangart des Aktes hatte ihm damals sowohl irritiert, als auch wie nichts zuvor angemacht.
Clara kam schnell zum wesentlichen, so war es auch in ihrer Beziehung. Sie führte, er folgte. Emotionale Zuneigung versuchte er von Clara immer wieder einzufordern. Einen trotzigen Laut ausstoßend, dachte er an eine Situation im Wohnzimmer des Hauses. Clara kam gerade von einem ihrer Abendspaziergänge zurück. Es war bereits dunkel. Mario war der Meinung, dass sie die Dunkelheit regelrecht suchte und daher Ihre Spaziergänge in Länge und Zeit darauf ausgelegte, in dieser Einsamkeit allein im Wald zu sein.
Als sie das Wohnzimmer an diesem Tag betrat, nahm sie keine erkennbare Notiz von der Szenerie. Mario hatte den Kamin entfacht. Das Feuer tauchte den Raum in Gesellschaft eines dutzend Kerzens in eine klischeehafte Atmosphäre. Mario thronte auf dem Sofa, umsäumt von Kissen. Erwartungsvoll blickte er zu Clara, welche am Sofa vorbei, Richtung Küche lief. Ein Knacken des Kamins symbolisierte das Ende der Szene.
Einen Moment später, stand das Wohnzimmer im gleißenden Licht. Blinzelnd sah er Clara, welche das Licht in der Küche eingeschalten hatte, gebeugt vor dem Kühlschrank. Noch unschlüssig, wie er mit der geänderten Situation umgehen sollte, sah er seine Frau am Herd. Daneben aufgereiht die Rinderfilets. Irritiert ging er auf sie zu.
„Weißt du, ich dachte wir könnten es uns auf der Couch gemütlich machen ...“, sagte er. In einer grazilen Bewegung drehte Clara ihren zum Herd gewandten Körper um die eigene Achse und sammelte dabei ein Filetstück von der Arbeitsplatte. Den Schwung aus der Drehung nutzend, schmetterte sie ihm das Filet in sein Gesicht. Marios Taumeln durch schnelle, berechnende Schritte ausgleichend, setzte sie sie ihm maschinenartig nach. Mit weiteren Schlägen bugsierte sie ihn Richtung Wand, wo er in Abwehrhaltung kauernd festsaß. Sie drückte ihm das Fleisch wie einen, in Chloroform getränkten Lappen, ins Gesicht. Dabei öffnete sie ihm mit der freien Hand die Hose und massierte daraufhin seinen Schwanz. Kurz unterbrechend riss sie sein Hemd auf, wobei die Knöpfe durch den Raum folgen. Der Druck auf ihren organischen Lappen blieb unverändert.
Dieses groteske Spiel empfand er als unglaublich erregend, jedenfalls teilte ihm das seine stählerne Latte mit. Sie liebten sich daraufhin auf Claras Weise. Mario versuchte danach nie wieder, seine Vorstellung von Sexualität auszuleben. Sie führte, er folgte.


Einleitung

Mario lenkte seinen Wagen die Einfahrt zum Wochenendhaus empor. Die Treppe des Hauses war übersät mit Zweigen. Der Ort wartete auf den Frühjahrsputz. Mitte März wurde die Datsche gewöhnlich noch nicht genutzt. Das Anwesen strahlte in einer rauen Schönheit.
Mario wühlte den platzierten Schlüssel aus einem Blumenkasten am Fenster der Hausvorderseite und betrat die Datsche. Er warf seine Tasche ohne Umschweife im Flur ab, zog seine Laufschuhe an und trat erneut ins Freie.
Er folgte den bekannten Pfaden. Zunächst die die er mit Andreas erkundete, daraufhin die, welche er mit Andreas Eltern nutzte um Pilze zu suchen. Im Anschluss jene, die er durch Clara bei Wanderungen kennen gelernt hatte.
Im Folgenden trugen ihn seine routinierten Beine über unbekannte Wege. Der bayrische Wald barg besondere Ruhe und Erholung in seiner Weite. Einen Bogen schlagend, versuchte Mario seiner Laufstrecke die Form einer Runde zu geben. In gleichbleibenden Abständen warf Mario seinen Blick auf die Navigations-App seinen Handys.
Ohne Navi und Offlinekarten würde Mario so eine Tour nie bestreiten. Er lebte in der Großstadt und wollte, auch wenn ihm die Ruhe des Waldhauses anzog, nur vollkommen selbstbestimmt und zeitlich begrenzt vom Trubel der Gesellschaft getrennt sein.
Die abertausenden Bäume glitten an ihm vorbei, seine Beine arbeiteten sich im rhythmischen Takt die Waldwege entlang und folgten dabei der Melodie den die verwurzelten Trampelpfade vorgaben.
Die Melodie führte ihn zu einem kleinen Waldteich. Der Teich lag glatt dar. Das Wasser war klar, sodass man auf den Boden sehen konnte. Nadelbäume umrahmten das Gewässer.
Mario kniete nieder und wusch sich das Gesicht. Wie viele Leute wohl täglich an diesen See entlang kamen? Der Ort lag in vollkommener Stille. Ein kleiner Schwarm Barsche schwamm in Ufernähe vorbei. Mario warf ihnen eine Hand voll Schmutz entgegen, worauf die Fische hungrig zur Wasseroberfläche schnellten. Als er sich erhob, zog sich der Schwarm aufgrund seines Schattens eilig zurück. Seine Augen folgten den Fischen, bis diese im dunklen Wasser verschwanden.
Marios Blick glitt die Wasseroberfläche entlang. Im fernen Wasser, sah er die Spiegelung der gegenüberliegende Uferseite. Dicht standen dort die Bäume Spalier. Das kräuselige Wasser ließ die Waldgrenze wie eine Fata Morgana tanzen. Als er das unruhige Bild im Detail musterte, erkannte er zwischen den Bäumen einen Umriss.
Erstaunt fuhr sein Blick weiter zu der Stelle an der er die schemenhafte Gestalt vermutete. Er versuchte den Umriss erneut zu sichten, doch der Wald lag in vollkommener Einsamkeit vor ihm. Die Stille wirkte plötzlich beklemmend. Mario beobachtete sein Umfeld, indem er sich um die eigene Achse drehte.
Nichts – nur er, der Wald und die Lautlosigkeit. Mit einem schaudern, setzte er seinen Lauf fort. Sein Blick viel immer wieder über seine Schulter.
Den Rundkurs beendend, bewältigte er die letzten Meter der Auffahrt. Es dämmerte bereits. Zufrieden öffnete Mario die Tür der Datsche. Nach körperlicher Betätigung würden die nun folgenden Saunagänge bedeutend intensiver wirken.
Mario ging durch das Haus in den Keller, um die Sauna anzuwerfen. Auf dem Rückweg steuerte er das Bad an, um zu duschen. In seinen Bademantel gehüllt, lag er auf der Couch. Abgekämpft und zufrieden, schwelgte er in Erinnerungen.
Hier hatte Nele ihre ersten Schritte getan. Er wusste genau, wie er an diesem Morgen aus der 8 Kilometer entfernten Ortschaft St. Andreasberg kam. Beladen mit Vorräten für die nächsten Tage, hörte er ein quietschen vor sich, direkt unterhalb seines stark eingeschränkten Sichtbereichs. Taumelnd konnte er seine Laufrichtung links neben sich wenden. Als er mit der Wand kollidierte, regnete es Lebensmittel. Mit einem überraschten Laut, wurde der Vorgang von Nele kommentiert, die auf torkligen Beinen vor ihrem Vater stand. Grinsend setzte Mario die Reste seines Einkaufes ab und nahm seine Tochter auf den Arm.
Seine Gedanken flogen zu einer weiteren Szene.
Im weitläufigen Abstand zum Anwesen von Andreas seiner Familie, gab es bis vor einigen Jahren, ein weiteres Gehöft. Bewohnt wurde es dem alten Obemeyer. Einen ruppigen Originalfranken, der die auf Besuch verweilende Familie Kersten, keines Blickes würdigte.
Im Gegensatz zu seinem Herrchen, besaß der deutsche Schäferhund weitaus mehr Interesse an Neuankömmlingen. Mit irrsinnigem Engagement sprang die dumme Töle, zu Begrüßung gegen den Zaun. Stehts so unverhofft, dass Mario vor Schreck das Mark gefror. Er konnte sich vor dem passieren des Grundstücks drauf einstellen, der Hund erwischte ihn immer wieder kalt. Jedes Mal.
Clara hingegen, ließen diese Begegnungen völlig kalt. Eines Tages griff sie blitzschnellüber den Zaun, um das Ohr des Hundes zu packen. Mit einem kräftigen Ruck, hob sie das Tier leicht an. Der Köter quittierte mit einem gedehnten Jaulen und ergriff die Flucht. Nach wenigen Augenblicken trat Obermeyer vor die Tür.
„Wer da?“
Keine Antwort. Clara setzte ihren Weg unbeirrt fort. Mario schwieg.
„Was haben Sie gerade mit meinem Hund gemacht?“
Obermeyer trat auf die Straße und versperrte der Familie den Weg. Mario hielt sich im Hintergrund und wusste nicht, wie er mit der Situation umgehen sollte.
„Halten Sie Abstand von meinem Haus und Hof! Göre!“, sagte Obermeyer und fixierte Clara. Die Konversation, bzw. Obermeyers Monolog, wurde als Blickduell fortgesetzt. Mario in seiner Zuschauerrolle, stand abseits hinter seiner Frau und konnte in Obermeyers gerötetes, in Zornesfalten geworfenen Gesicht blicken.
Die Sekunden verstrichen, bis sich Obermeyers Gesichtsausdruck plötzlich änderte. Seine Augen weiteten sich und er trat hastig und stolpernd die Flucht an. Herrchen wie Hund. Mario fand nie heraus, was Clara in diesem Moment getan hatte, sofern es da etwas abseits des Starrens gab.
Für einige Zeit hatten sie nun Ruhe vor dem Köter. Leider ist das Gedächtnis eines Schäferhunds, wie ein Nudelsieb. Mit fortschreitender Zeit, kehrte auch das Selbstbewusstsein des Tieres zurück. Alsbald kläffte das Mistvieh genauso urplötzlich los, wie vor der Ohrenmassage.
Clara ging in kurzen Abstand am Zaun entlang, wie um das Tier herauszufordern. Ihre Hand glitt am Zaun entlang, was den Lattenrost eine monotone Klangfolge entlockte. Claras andere Hand schwenkte in Hüfthöhe aus. Tat sie das wirklich? Mario konnte es nicht mit Sicherheit sagen. Alles geschah sehr schnell. Danach konnte sich Mario nicht mehr erinnern, den Hund wieder gesehen zu haben.
Nicht viel später, erzählte ihn Andreas beiläufig, dass der alte Obermeyer mitsamt seiner Hütte verbrannt ist.
„Im Suff“, so sagte man sich unten in der Stadt.
Als Mario aus dem Nebel seiner Erinnerungen emporstieg, war die Sauna auf Temperatur. Er setzte den Wasserkocher auf, um nach der Sauna Tee aufgießen zu können.
Auf den Weg zum Keller roch er einen süßlichen Duft, der den leicht muffigen Geruch des gut gepflegten, aber in die Jahre gekommenen Kellers überlagerte. In der Sauna lag der Duft von aberhunderten Aufgüssen, trockenem Holz, gemischt mit Wärme. Eine Wohltat, Erholung, Freiheit, Genuss, Liebe. Liebe zu Clara. Lustvolle Vereinigung, Schweiße, Küsse am ganzen Körper. Dabei der Geruch, ihr Geruch, blumig orientalisch, süß. Wie ein Deja-vu manifestierte sich die Erinnerung in sein Gedächtnis.
Dieser Geruch wie an einem heißen Sommertag, eine exotische Fantasie, auf einen orientalischen Basar. Ein Gewürzstand, der den Geruch von Zimt versprühte, gemischt mit dutzenden anderen Gerüchen. So roch sie, so roch der Keller. Es war gespenstisch. Er hatte diesen Duft lange Zeit nicht mehr wahrgenommen. Ihn jetzt hier zu riechen, versetzte Mario sofort in ihre Gegenwart. Sein Puls stieg, vor Erregung ebenso wie vor Angst.
Er dachte an ihre letzte Begegnung in trauter Zweisamkeit. Auf dem Parkplatz. Er auf den Boden, sie über ihm als Peiniger.
Ein Pfeifen zog ihn zunächst langsam, dann mit rasender Geschwindigkeit in die Gegenwart zurück, einen Warp-Sprung gleichend. Er taumelte in die Realität. Sein Atem ging schwer. Der Wasserkocher, als Wecker zweckentfremdet, rief nach ihm.
Langsam versetzte sich Mario zur Tür. Er umgriff den Knauf und prallte mit Schwung gegen das Holz. Mario entwisch ein Laut der Überraschung. Die Tür ließ sich nicht öffnen. Er rüttelte nun kräftig an der Tür. Es geschah nichts. Die Tür bewegte sich keinen Millimeter. Sein ganzes Körpergewicht nutzend, warf er sich mit der Schulter gegen das Holz, sodass sein Schädel dröhnte. Mario bearbeitete den Ausgang mit einer Serie von Tritten. Keine Wirkung.
Ihm ran der Schweiß in Strömen am Körper entlang. Sein Atem ging schwer und seine Brust fühlte sich an wie einbandagiert. Diese verdammte Hitze. Er musste hier raus. Mario wirbelte herum und überflog den kleinen Raum. Den Aufgusskübel erblickend, setzte er sich in Bewegung.
Er nutzte den Eimer als Hammer und malträtierte das Glas der Saunatür unbeholfen. Die Scheibe wurde von der Tür umrahmt. Die Größe könnte genügen, um Mario als Fluchtweg zu dienen. Nach einer Folge von Schlägen, ging er keuchend zu Boden.
Die Bandagen um seine Brust hatten sich nun viel enger geschnürt. Er musste sich beruhigen. Immer in Bodennähe bleiben. Hier war es kühler. Mario musste nachdenken und seine Kräfte einteilen. Jede Bewegung wog nun zehnfach.
Was war hier los? Wieso ließ sich dieser, als Sicherheitstür verbaute Ausgang nicht öffnen? War sie im Spiel? Das war unmöglich. Clara verbrachte ihre Zeit in der JVA-Lichtenberg. Der Prozess und ihre anschließende Inhaftierung, lagen über 5 Jahre zurück.
Mario schüttelte sich. Er musste einen Ausweg finden. Sein Blick flog durch den Raum. Er erspähte einen roten Punkt. Der Not-Aus-Schalter! Bei Gott!
„Wie kann man nur ...“, sagte Mario und bewegte sich fluchend auf den Taster zu. Mit Nachdruck hieb er auf den Schalter ein. Einen kurzen Moment schien die Zeit still zu stehen, doch der Ofen tickerte gnadenlos weiter.
Mario stand mit offenem Mund da und wusste nicht, wie er diesen fiebrigen Alptraum entrinnen sollte. Er glitt zu Boden. Seine Gedanken flogen, er konnte sie jedoch nicht in geordnete Bahnen lenken.
Immer schneller ging sein Atem, die Bandagen um seine Brust waren gnadenlos. Er wippte vor und zurück. Kein Ausweg. Vor und zurück. Die Zeit verging. Tick-tack und vor und zurück.
In Panik verfallend, sprang er auf und versuchte die Sitzbank zu zerreißen. Mit einer der Latte könnte er erneut auf die Tür los gehen. Wie ein wildes Tier zog und riss er an der Sitzfläche, bis er, nahe an der Besinnungslosigkeit, erneut zu Boden ging.
Er lag in seinem eigenen Schweiß, seinen dröhnenden Kopf Richtung Tür gewandt. Sein Sichtfeld drehte sich, wie im Vollsuff. Hinter der Tür sah er eine flüchtige Bewegung. Oder auch nicht? Einen blonden Zopf? Clara? Hilfe oder Ende? Er konnte nicht mehr denken.
In ein Delirium abdriftend, nahm er kichernd den beschwerlichen Weg Richtung Tür auf sich. Die Zeit verging zäh wie ein Kaugummi. Jede Bewegung unglaublich schwer. Er wollte sich an der Tür hochziehen, doch diese gab nach. Himmelherrgott sie gab wahrhaftig nach!
Wie ein ertrinkender sog Mario die kühle Luft der Außenwelt ein. Er fühlte sich wie ein intergalaktischer Reisender, der sich aus dem Nichts des Alls, mit letzter Kraft in die Atmosphäre der rettenden Raumstation zog.
Regungslos lag Mario da. In seinem Kopf ein einziges Nichts, das Weltallnichts. Mit jedem Atemzug mit dem er Sauerstoff in seine Lungen beförderte, kehrte das Denken in seinen Körper zurück. Was war hier gerade passiert? Wieso ließ sich diese verdammte Tür nicht öffnen?
Mario rappelte sich auf. Das Pfeifen des Wasserkochers war nicht mehr zu hören. Kochte er bereits leer vor sich hin? War die alte Platte des betagten E-Herds bereits am ausglühen?
Mario zog sich die Treppe hinauf. Es roch verbrannt oder bildete er sich das in seiner drehenden Realität nur ein? Mario warf sich gegen die Kellertür am Ende der Treppe. Die Tür gab nicht nach. Sein Kopf donnerte durch das Massenträgheitsmoment gegen das Türblatt.
Er befand sich in einer Zeitschleife. Eine Alptraumversion von Und Täglich grüßt das Murmeltier.
Der Geruch des Rauches war nun unverkennbar präsent. Mario blickte sich um – im Kopf das Lachen seiner Frau. Er rüttelte an der Tür. Nichts.


Nachspiel

Andreas stand auf der Lichtung der Hütte. Die Dunkelheit wurde durch das Blaulicht der Einsatzfahrzeuge durchbrochen. Vor ihm lag die Ruine der Datsche. Der eingefallene Haufen Geröll, glühte zu Teilen noch. Es gab ein Knacken, was den Haufen weiter in sich zusammenfallen ließ.
„Der Brand ist unter Kontrolle. Mehr können wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht sagen“, sprach Hauptbrandmeister Patzer zu Andreas gewandt.
Beide blickten zu dem parkenden Auto von Mario. Andreas zog ein letztes Mal an seiner Zigarette.


© Karsten Kakuwitsch


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