Die Farben im Inneren


"Schließe deine Augen."
Ich sehe sie an. Ich weiß nicht was ich noch sagen soll. Bevor ich sie weiter schweigend ansehe, tue ich ihr gerne den Gefallen. Ich schließe meine Augen.
"Nun hör einfach nur noch auf deine innere Stimme. Du wirst sehen, was in dem eigenen Kopf alles vorgeht, wovon man überhaupt nichts mitbekommt, wenn man sich nicht die Zeit dafür nimmt."
Ich sehen nur schwarz, sonst nichts. Es ist ruhig, ich höre weder die Vögel, den Wind, selbst ihr Atem dringt nicht an meine Ohren. Ich sitze nun hier auf dem Boden, blind für meine Umwelt. Langsam versinke ich in meine Gedanken, ohne jedes weitere Zeit- und Raumgefühl.




"Wo bin ich?"
Die Worte fliegen mir durch den Kopf, während ich versuche etwas von meiner Umgebung zu erkennen. Ich sitze am Boden, zumindest denke ich das, denn ich sehe keinen Boden. Genau genommen sehe ich rein gar nichts ... nur Dunkelheit. Ich lausche, doch es ist nichts zu hören ... was ist das nur für ein Ort ... und was mache ich hier?
Ich versuche mich zu erinnern, was mir überraschend leicht gelingt. Ich habe meine Augen geschlossen, weil sie mir gesagt hat ich müsste meinen Gedanken lauschen. Doch was nun? Es kommt mir vor, als wäre das bereits mehrere Tage hier. Ich stehe auf und kann mit einigen Schwierigkeiten mein Gleichgewicht in der Finsternis halten. Ich laufe ein paar Schritte. Dann bleibe ich stehen ... ist das ein Traum? Bin ich nur eingeschlafen?
Ich sehe mich erneut um. Finsternis ... doch in weiter ferne sehe ich einen hellen Punkt. Vor lauter Neugier etwas von diesem Ort erkennen zu können, gehe ich darauf zu. Ich gehe nur langsam, da ich keinen Boden oder Hindernisse sehen kann. Ich erkenne schon aus der Ferne, das es kein normaler Lichtfleck ist, sondern eine Gestalt ... eine leuchtende Gestalt. Wenige Meter von der Person entfernt bleibe ich stehen. Ich kann nicht viel von ihr erkennen, sie leuchtet in wechselnden Farben und blendet mich, aber von den Umrissen her halte ich es für einen Menschen.
"Wer bist du?"
Es sieht mich an. Ich kann kein Gesicht erkennen, höre jedoch die Worte irgendwie in mir drin, als es antwortet ... in meinem Kopf.
"Ich bin du. Ich bin dein Gewissen ... dein Sein. Verstehst du das?"
Ich schüttle meinen Kopf in der Annahme, das das Wesen es sehen würde.
"Du bist hier in dir selbst, du hast es gschafft in deine Gedanken einzudringen und bist einer der wenigen Menschen, denen ihr Gewissen begegnet. Nur Menschen, die es wert sind und es auch verstehen würden, bekommen von uns das Sein erklärt."
Ich weiß nicht was ich sagen soll. Ich kann es nicht glauben, dass ich hier in mir selbst bin. Ist es in meinem `Ich` so dunkel? Und was hat es nun mit diesem Sein auf sich?
"Ich erkläre es dir. Schließlich bist du ja deswegen hier. Das Sein eines Menschen setzt sich aus den Gefühlen des Menschen zusammen, die er jemals empfunden hat, im Moment empfindet und sogar noch empfinden wird. Je nach Stärke des Gefühls, wird das eigene Sein geprägt. Jeder Mensch hat sein eigenes Sein, das sich aus unendlich vielen Gefühlen zusammensetzt. Kannst du mir soweit folgen?"
Das leuchtende Wesen setzt sich auf den Boden und ich beschließe mich ihm gegenüber zu setzen. Ich frage nicht mehr wo ich hier bin, es kommt mir sowieso alles viel zu unwirklich vor. Aber selbst wenn das hier nur ein Traum ist, mich interessiert schon, was es mit den Gefühlen der Menschen zu tun hat.
Und ich muss zugeben, dass hier konnte doch nur ein Traum sein.
"Soll das heißen, dass was ich für mich und andere Personen empfinde, prägt mich als Menschen?"
"So kann man es sagen!"
"Wenn ich jetzt für eine Person etwas anderes empfinde, als zuvor, sagen wir mal ich bin wegen eines Streites wütend auf jemanden, wandelt sich dann mein Sein? Immerhin tritt dann ein anderes Gefühl in den Vordergrund."
"Das passiert ständig. Dein Wesen, also dein Sein wird nie gleich bleiben. Es steht in einer ständigen Umwandlung, deswegen können wir es nur für einen einzelnen Augenblick klar erkennen, bevor es sich wieder ändert."
Ich denke nach. Das das Sein eines Menschen nie gleich bleibt ergibt Sinn, schließlich ändern sich auch die Gefühle und Gedanken immer und immer wieder ... doch wie genau soll ich mein Sein definieren? Ob ich meine Gedanken aussprechen und einfach fragen soll?
"Das kannst du ruhig tun, aber wie ich bereits gesagt habe. Ich bin du. Ich bin dein Gewissen, deswegen weiß ich genau was in deinem Kpf vorgeht. Und ich weiß auch , dass dir all das hier nicht real vorkommt. Aber wenn es die Sache für dich einfacher und verständlicher macht, kannst du deine Fragen auch gerne ausprechen."
Das Wesen hat eine sanfte Stimme, als wolle es mich beruhigen. Ich frage mich ob es lächeln würde. Das beste wird wohl sein, wenn ich wirklich versuche Antworten auf meine Fragen zu bekommen.
"Okay, wenn wir hier wirklich in meinem `Ich` oder in meinem Wesen oder wie auch immer sind ... wieso ist es hier so dunkel? Wieso sieht man nur Schwarz, egal wo man hinsieht?"
Ich sehe mich um. Dunkelheit. Sieht es so in mir drin aus? Bin ich so dunkel und kalt? Nein. Das kann ich nicht glauben. Ich sehe mein Gewissen an und warte auf eine Erklärung.
"Keine Sorge, ich habe es hier so aussehen lassen, um dir die ganze Sache besser erklären zu können. Hätte ich nichts verändert würdest du den Ort noch weniger begreifen. Ich erkläre es dir in Schritten. Was für Gefühle glaubst du sind die Wichtigsten?"
Ich sehe das Wesen skeptisch an. Was die wichtigsten Gefühle sind? Das ist bestimmt eine Fangfrage. Haben nicht alle Gefühle die gleichen Auswirkungen auf das Sein des Menschen, oder habe ich da vorhin was falsch verstanden?
"Aber du hast doch gesagt, dass alle Gefühle den Menschen prägen ... wie kann es dann wichtigere und weniger wichtigere geben?"
"Das stimmt, okay das heißt du verstehst die Grundzüge schon einmal. Dann lass es mich anders formulieren: Welche Gefühle fallen dir ganz spontan ein?"
Also war es wirklich sowas wie eine Fangfrage, denke ich mir stolz. Aber welche Gefühle es gibt? Es gibt sehr viele, hunderte, tausende ... vielleicht sogar unendlich?
"Ganz spontan? Liebe, Hass, Eifersucht, und sowas. Wenn man genau darüber nachdenkt, dann sind Respekt, Glück und Vertrauen und alles ja auch Gefühle, es gibt kein Ende ..."
"Gut so, du verstehst es tatsächlich. Nehmen wir uns zuerst die Gefühle vor, die du eben genannt hast. Liebe, Hass, Eifersucht, Respekt, Glück und Vertrauen. Pass gut auf. Du wirst sehen, das diese Finsternis hier nichts mit deinem Sein zu tun hat."
Ich verstehe nicht, was es mir damit sagen möchte. Aber es beruhigt mich, das es in meinem `Ich` nicht so dunkel ist. Das Wesen sitzt ganz still da, sagt nichts mehr und sieht zu Boden. Ich überlege kurz, ob ich es ansprechen soll, lass es dann aber besser sein. Stattdessen denke ich nochmal an die Gefühle, die es mir `zeigen` möchte. Das erste war Liebe. Die Liebe ist für mich eins der wichtigsten und auch der stärksten Gefühle. Plötzlich höre ich etwas. Es klingt wie ... Wind. Aber wie konnte es in meinem Ich windig sein? Dann fliegt aus der Ferne ein Licht auf uns zu, mein Gewissen dreht sich zu mir. Eine kleine, rot leuchtende Lichtkugel nähert sich mir und fliegt dann langsam um mich herum.
"Das ist die Liebe. Ich halte die Stärke deines Gefühls noch in dieser Kugel gefangen, da du sonst den Überblick verlieren würdest. Aber gut so, du erkennst deine Gefühle in dir selbst wieder. Denk weiter nach!"
Danach kommt der Hass und die Eifersucht. Ich beachte die beiden Lichtkugeln nicht, die auf mich zufligen, sondern beobachte weiterhin die Liebe, bis die anderen beiden auch um mich herum kreisen. Und dann waren da noch der Respekt, das Glück und das Vertraunen. Ich sehe mich um. Ich erkenne die Kugeln schon aus weiter Ferne, bis schließlich alle sechs Gefühle um mich herumfliegen und nun munter ihre Farben verändern.
"Nun gut, das hast du soweit raus. Bevor ich dir all deine Gefühle offenbare, zeige ich dir vorher, wie sie aussehen, wenn sie nicht in solch einer Form gefangen gehalten werden."
Das Wesen nimmt die Liebe in die Hand und hält sie mir vor das Gesicht.
Dann drückt es zu und die Kugel explodiert förmlich. Ein helles, rotes Licht bereitet sich mit unglaublicer Schnelligkeit aus und verdrängt die Dunkelheit. Die plözliche Helligkeit brennt ein wenig in den Augen, doch ich habe mich schnell daran gewöhnt. Ich nehme mir die anderen Kugeln und eine nach der anderen explodiert. Der ganze Ort ist bunt und leuchtet, Farbschleier wirbeln durch die Luft und ein leises Rauschen dringt an meine Ohren. Es sieht wunderschön aus. Ich stehe auf, kann in den ganzen Farben mein Gewissen nicht mehr wiederfinden. Ich versuche nach den Gefühlen zu tasten, doch die Farbschleier rutschen mir durch die Finger.
"Das Licht das du hier siehst, spiegelt die Arten der Gefühle wieder, das Rauschen die Stärke. Du bist nun einer der wenigen, die sich selbst und ihr eigenes Sein definieren können. Du kannst es auch anderen zeigen, doch nicht jeder wird es verstehen. Nur wer das Rauschen im Lachen anderer und das Leuchten einer Träne sieht, der wird die Macht der Gefühle kennen lernen. Pass auf, ich befreie nun all deine Gefühle aus deinem Sein."
Ich sehe das Wesen immer noch nicht, doch ich kann die Stimme hören. Dann stürmen von allen Seiten neue Gefühle auf mich ein, ich kann mich nicht auf ein einziges konzentrieren, da sie noch immer ihre Farben ändern. Das Rauschen wird immer lauter, ein leichter Druck setzt sich auf meine Ohren. Dann verschwindet der Boden unter meinen Füßen, kurz bekomme ich Angst zu fallen, doch ich falle nicht. Ich schwebe inmitten meiner eigenen Gefühle. Das ist einfach unglaublich ... es muss ein Traum sein, aber er gefällt mir. Dann sammeln sich die Farben an einem Punkt vor mir, verdichten sich zu einer Kugel. Alles um mich herum ist wieder Schwarz, vor mir diese riesige Kugel, die immer größer wird und wie wild ihre Farbe ändert. Ich sehe mich kurz selbst in dem Licht, dann fliegt die Kugel genau auf mich zu ... und trifft mich mit voller Wucht.



Ich öffne meine Augen. Sie sitzt mir noch immer gegenüber. War es also doch nur ein Traum? Bin ich einfach nur kurz weggenickt? Sie sieht mich an, starrt mir tief in die Augen. Sie hat etwas seltsames in ihrem Blick.
"Du hast es geschafft. Ich sagte dir doch, das nur die wenigsten wissen, was in ihnen selbst vorgeht!"
Sie lächelt. Wovon redet sie da? War es doch Wahrheit, oder hatte sie zufällig einen ähnlichen Traum? Ich versuche was zu sagen, finde jedoch keine Worte. Ihr Blick wurde wieder fröhlicher. Eine Träne läuft ihr die Wange runter. Ich betrachte den Tropfen, wie sich tausende von Farben darin spiegeln. Ich konnte die Farben `spüren`, ich hörte selbst das Rauschen ihrer Gefühle.
Wieso war ich mir nie in dierser Hinsicht klar darüber, aber jetzt wo ich es weiß, wer ich bin, was ich bin und wie ich bin, vergesse ich es niemals.


© Philipp Gallus


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Kommentare zu "Die Farben im Inneren"

Re: Die Farben im Inneren

Autor: FrankOlafPaucker   Datum: 09.04.2011 15:34 Uhr

Kommentar: Interessant geschrieben. Und wie Philipp Gallus am Schluss schreibt, dass wir alle mal tief in unseren Gedanken versinken sollten, dem kann ich nur aus vollstem Herzen beipflichten. Leider tun die meisten von uns das viel zu selten. Hat mir gut gefallen. Frank Olaf Paucker

Re: Die Farben im Inneren

Autor: FrankOlafPaucker   Datum: 09.04.2011 15:34 Uhr

Kommentar: Interessant geschrieben. Und wie Philipp Gallus am Schluss schreibt, dass wir alle mal tief in unseren Gedanken versinken sollten, dem kann ich nur aus vollstem Herzen beipflichten. Leider tun die meisten von uns das viel zu selten. Hat mir gut gefallen. Frank Olaf Paucker

Re: Die Farben im Inneren

Autor: Philipp Hegmann   Datum: 09.04.2011 19:17 Uhr

Kommentar: Freut mich , wenn das Ende zum nachdenken anregt.
Phil

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