Europa hieß da eine Maid,
   die in Phönizien einst erwuchs.
   Es war vor langer, langer Zeit,
   da wurd sie Opfer eines Trugs.

   Sie war umringt von lauter Gold
   und wohnte im Palast sogar,
   doch war das Glück ihr erst nicht hold,
   obwohl ihr Vater König war.

   Denn plötzlich kam der bittre Tag,
   an dem ihr Schicksal sich entschied.
   Als schlafend sie im Bette lag,
   da war’s ein Traum, der ihr’s verriet.

   Er wurd vom Himmel ihr gesandt
   und nie zuvor war dies geschehn.
   Der Traum verwirrte ihrn Verstand
   und doch war alles klar zu sehn.

   Zwei Frauen kamen auf sie zu
   und schrien ganz laut in einem Streit,
   doch beide gaben keine Ruh
   und warn zum Frieden nicht bereit.

   Recht seltsam war die Form der Fraun,
   die jeweils einem Erdteil glich,
   doch weckten beide ihr Vertraun
   und eine nannte Mutter sich.

   Die hatte Asiens Gestalt,
   hielt kniend sie nun fest und schrie:
   »Lass ab von grausamer Gewalt,
   mein holdes Kind bekommst du nie!«

   Die andre war ein fremdes Weib
   und auf das edle Kind erpicht.
   Sie zerrte stur an seinem Leib
   und blickte sanft in sein Gesicht.

   Die eine rief mit großem Zorn:
   »Der König hat dies Kind gezeugt;
   ich selbst allein hab es geborn
   und liebevoll es einst gesäugt.«

   Die Fremde riss es aus ihrm Schoß.
   »Ich nehm dich mit«, so sprach sie leis,
   »denn so beschied es dir das Los,
   denn so geschieht’s auf Zeus’ Geheiß.«

   Und dann verschwand sie mit der Maid.
   Die Mutter blieb erbost zurück
   und krümmte sich vor lauter Leid –
   auf ewig war zerstört ihr Glück.

   Der Jungfrau schien es sonderbar,
   dass sie auf ihre Flucht nicht drang.
   Obwohl sie eine Beute war,
   wurd ihr im Herzen gar nicht bang.

   Man hatte plötzlich sie entführt,
   doch fühlte sie sich nicht gequält.
   Sie wurd sogar vom Stolz verführt,
   denn Zeus wohl hatte sie erwählt.

   Wie zärtlich war des Weibes Blick,
   als fest in Armen es sie hielt.
   So beugte sie sich ihrm Geschick,
   als wär das Ganze nur gespielt.

   Alsbald erhellte sich der Raum,
   in dem verschwitzt im Bett sie lag.
   Da schreckte hoch sie aus ihrm Traum;
   ihr war, als träfe sie ein Schlag.

   Und schon vorbei war diese Nacht;
   die Sonne schien ihr ins Gesicht.
   Soeben war die Maid erwacht,
   doch gut erholt fand sie sich nicht.

   Europa wusste nicht so recht,
   was grad mit ihr geschehen war.
   Sie dachte nur: »Es war so echt,
   was ich geträumt – wie sonderbar!«

   Ihr Innres war vom Traum erbebt;
   sie starrte lange vor sich hin.
   Sie hatte ihn so klar erlebt
   und suchte eifrig seinen Sinn.

   Doch konnte sie ihn nicht verstehn,
   denn ihr Verstand war viel zu schlicht.
   Sie konnte noch die Weiber sehn,
   als stünden vor ihr sie ganz dicht.

   Sie saß nun aufrecht in ihrm Bett
   und war wie nie zuvor erregt.
   Sie blieb ganz steif dort wie ein Brett
   und war im Geiste bloß bewegt.

   Es war recht leicht, sie zu verstörn –
   so war sie nass vor lauter Schweiß,
   ihr Herz schlug schnell und war zu hörn.
   Da sprach beeindruckt sie ganz leis:

   »Wie himmlisch mag das Wesen sein,
   das diese Bilder mir gesandt,
   als schlummernd wie ein Engelein
   in Vaters Haus ich mich befand?

   Was war der Traum doch wunderbar!
   Wer war doch gleich die fremde Frau,
   die da zu mir so liebreich war
   wie auch zugleich so grob und rau?

   In ihren Armen ging’s mir gut,
   doch ihre Tat war wahrlich schlecht.
   Ich spürte trotzdem keine Wut;
   es kam mir vor, als wär’s mir recht.

   Ihr Zauber lässt mich nicht mehr los.
   Ach, könnt sie meine Mutter sein!
   Ich wünscht, ich säß noch auf ihrm Schoß
   und wär ihr einzig Kindelein.

   Ich kann mich nicht dagegen wehrn;
   verwirrt ist immer noch mein Geist.
   Die Götter mögen mir erklärn,
   was dieser seltne Traum verheißt.«

   Die Jungfrau kam dann bald zur Ruh
   und sann auch nicht mehr weiter nach.
   Sie wandte sich ihrm Leben zu
   und so verließ sie ihr Gemach.

   Sie hatte lange nachgedacht
   und spürte schon den Druck der Zeit.
   Geschwind wurd sie zurechtgemacht
   und trug schon bald ein edles Kleid.

   Sie roch die frische Morgenluft
   und längst war ihr der Traum entrückt.
   Durchs Fenster wehte Blumenduft
   und rasch war sie davon entzückt.

   Und draußen lockte Sonnenschein.
   So brach sie auf mit großer Hast,
   sie wollte schnell zum Nymphenhain
   und lief beschwingt aus dem Palast.

   So manche Maid schloss ihr sich an.
   Sie rannten jetzt gemeinsam los.
   Die Fürstin eilte flink voran.
   Die Freude war bei allen groß.

   Denn so zu tollen, machte Spaß;
   sie frönten ganz der Heiterkeit.
   Die Trachten rauschten durch das Gras,
   denn jede trug ein Schleppenkleid.

   Das von Europa war sehr fein.
   Es war mit Bildern reich bestückt,
   aus goldnen Fäden pur und rein –
   so himmlisch war sie heut geschmückt.

   Nun kam die heitre Mädchenschar
   zu fünft zum kahlen Meeresstrand,
   bei dem auch eine Wiese war,
   die voll der schönsten Blumen stand.

   Die Jungfraun warn davon verzückt
   und schwärmten jubelnd alle aus.
   Es wurden Blumen rasch gepflückt
   und jede trug bald einen Strauß.

   Man häufte dann die Blumen an
   und kroch vergnügt auf allen viern,
   sodass man gleich damit begann,
   die schönsten gründlich zu sortiern.

   Man weilte heut im Nymphenhain,
   um all die Nymphen zu verehrn.
   Man wollte äußerst fleißig sein
   und sie mit Kränzen bald beschern.

   So knüpfte jede einen Kranz,
   um einen Baum mit ihm zu ziern.
   So war vertieft man voll und ganz
   und ließ sich noch durch nichts beirrn.

   Sie hatten Schönes nur im Sinn
   und warn von Sorgen ganz befreit.
   Sie spielten arglos vor sich hin
   und wie im Flug verging die Zeit.

   Europa war Phöniziens Zier
   und galt als Schönste in ihrm Land.
   So weckte sie nun plötzlich Gier
   und brachte Zeus um den Verstand.

   Er war jedoch noch klug genug
   und hatte einen schlauen Plan.
   So setzte er auf Lug und Trug
   und war davon berauscht im Wahn.

   Er hatte dreist die Maid erkorn,
   doch ihm war bang vor seiner Frau,
   denn schnell ereilte sie der Zorn –
   dies wusste er nur zu genau.

   Er wollte Hera nicht verstörn
   und konnte heimlich nur agiern.
   Es galt, die Jungfrau zu betörn,
   doch glaubte er, sie würd sich ziern.

   Er wusste nichts von ihrem Traum
   und hielt’s für schwer, sie zu entführn.
   Und so erhoffte er sich’s kaum,
   sie je mit Händen zu berührn.

   Er wollte keinen Kampf und Zwist;
   sein Plan war wenig rabiat.
   So schwor er ganz auf eine List
   und setzte um sie in die Tat.

   Er rief den Hermes zu sich her
   und dieser kam dann auch geschwind.
   Er brauchte ihn nun einmal mehr,
   den Gott, der schnell war wie der Wind.

   Der hatte Flügel an den Schuhn
   und war des Vaters treuer Sohn.
   Er sollte etwas für ihn tun
   und Zeus befahl’s in mildem Ton:

   »Begib dich rasch zu diesem Land,
   das unten links sich dort erstreckt!
   Es wird Phönizien oft genannt
   und ist mit Weiden reich bedeckt.

   Sieh hin! Die Herde grast gleich dort.
   Treib sie vom Berg zum Meer hinab!
   Geschwind, so heb dich rasch hinfort,
   so spute dich, die Zeit wird knapp!«

   Gehorsam flog der Sohn hinweg
   und tat, was Zeus ihm grad gesagt.
   Er wusste nicht zu welchem Zweck,
   doch hätt zu fragen nie gewagt.

   Und stets bemüht um Vaters Heil
   gehorchte er auch diesmal gern.
   Er war fast schneller als ein Pfeil
   und vom Olymp ein Stück schon fern.

   Er raste in Europas Land
   und fand sogleich das Vieh am Berg.
   Er trieb es schleunig bis zum Strand –
   und schon erledigt war sein Werk.

   Als Hermes rasch das Land verließ,
   begab sich Zeus dort selbst hinein.
   Und der verschlagne Gott bewies,
   wie sehr’s ihm half, so schlau zu sein.

   Die Maid, so setzte er klug an,
   die liebte Tiere und Natur.
   Erschien er ihr als forscher Mann,
   so ließe dies sie kalt und stur.

   Doch wäre er von einer Form,
   die seiner schönen Maid gefiel,
   so nützte dies ihm wohl enorm
   und brächt ihn näher an sein Ziel.

   So kam der große Augenblick
   und zeugte jäh von seiner Macht.
   Als wär’s ein großer Zaubertrick,
   wurd’s blitzgeschwind von ihm vollbracht.

   Er formte sich zu einem Stier!
   Dies war des Gottes größter Coup.
   »Was bin ich doch ein schönes Tier!«,
   so rief er laut sich selber zu.

   Er war so edel und so fein,
   er schien geeignet für den Trug.
   Sein Leib war gelb von goldnem Schein,
   die Wampen prangten satt am Bug.

   Als käm er aus dem Wunderland,
   schien jedes Horn wie ein Juwel.
   Gedrechselt wie von Künstlerhand
   warn beide glatt und ohne Fehl.

   Ihm schwollen Muskeln stolz am Hals
   und seine Augen strahlten blau.
   Er wär das Prunkstück jedes Stalls
   und stähl den andern Tiern die Schau.

   Und einen edlen Stier wie ihn,
   den zwäng man nicht aufs grobe Feld
   und ließe ihn den Pflug nicht ziehn –
   nicht ihn, den schönsten Stier der Welt.

   Er hatte alles klug durchdacht.
   So schloss er sich der Herde an
   und niemand schöpfte wohl Verdacht,
   worauf er gierig wirklich sann.

   So war der Stier jetzt nicht allein
   und schritt mit andern träg am Strand.
   Sie warn erschöpft und litten Pein,
   denn zügig warn sie weit gerannt.

   Von Hermes rüde hergehetzt
   verspürten sie ihrn trocknen Schlund.
   Sie brauchten kühles Wasser jetzt,
   doch das im Meer war nicht gesund.

   Das Salz darin war wie ein Gift.
   So standen durstend sie am Meer.
   Sie wollten heim zu ihrer Trift,
   doch jeder Schritt fiel ihnen schwer.

   Da zog es sie zum frischen Gras,
   das grün auf einer Wiese spross.
   Die Tiere fanden reichlich Fraß,
   doch keinen Bach, der lieblich floss.

   Sie stampften dann zur Mädchenschar
   und wurden gleich von ihr entdeckt.
   Der Fürstin schien es sonderbar,
   sie stand rasch auf und rief erschreckt:

   »Seht dort! Was macht denn hier das Vieh?
   Ich glaub, es hat sich arg verirrt.
   Es grast auf diesem Grund doch nie,
   es wirkt so müd und ganz verwirrt.«

   Das Vieh des Königs Agenor
   lief darbend und verstört umher.
   Dies kam den Jungfraun seltsam vor
   und es bestürzte jede sehr.

   Fast alle Tiere liefen weg,
   denn Wasser fanden sie hier nicht.
   Nur rührte eins sich nicht vom Fleck
   und war aufs Trinken nicht erpicht.

   Es schien gesund und unversehrt
   und glich den grad gegangnen kaum.
   So schön es war und wohlgenährt,
   entsprang dies Tier wohl einem Traum.

   Die Mädchen staunten höchst gebannt
   und blickten alle auf das Tier,
   das fern von ihnen friedlich stand
   und sich entpuppte als ein Stier.

   Recht langsam kam er näher nun
   und ging geschmeidig mit Geschick.
   Als wollte er bloß Gutes tun,
   war zärtlich und ganz lieb sein Blick.

   Er hob den Kopf erhaben an
   und zeigte eitel seine Brust.
   Er rückte Stück für Stück voran
   und dies zu sehn, war eine Lust.

   Und schon vergessen war das Leid,
   das ihnen grad begegnet war.
   Der Stier vertrieb gekonnt die Zeit
   und alle fanden’s wunderbar.

   So friedvoll, wie er sich benahm,
   stolzierte dort kein wildes Tier.
   Anscheinend war er völlig zahm
   und durch und durch ein sanfter Stier.

   Er kam der Fürstin reichlich nah,
   doch wich sie bang zurück vor Schreck.
   Als wachen Geistes er dies sah,
   blieb prompt er stehn auf seinem Fleck.

   Und als er nett und brav dort blieb,
   da fasste endlich sie Vertraun,
   denn dieser Stier schien äußerst lieb
   und konnte wie ein Hündchen schaun.

   Sein Blick verzückte sie im Nu
   und zog sie stark in seinen Bann.
   So ging beherzt sie auf ihn zu
   und schmiegte zärtlich sich ihm an.

   Es regte wedelnd sich sein Schwanz,
   als wär er gar ein großer Hund.
   Da nahm sie ihren hübschen Kranz
   und hielt ihm diesen vor dem Schlund.

   Sie hängte ihn dann um ein Horn
   und sprach, sie sei von ihm entzückt.
   Da spitzte er gespannt die Ohrn
   und fühlte sich total beglückt.

   Er hatte listig längst erkannt,
   wie man die Gunst der Maid gewann.
   Er leckte schmeichelnd ihre Hand
   und sah sie voller Sehnsucht an.

   Sie kraulte ihn besonders zart
   und ließ sich immer mehr beirrn.
   Sie war zutiefst in ihn vernarrt
   und küsste ihm sogar die Stirn.

   Und sein Gebrüll, das jetzt begann,
   klang fast wie eine Melodie.
   Es zog die Jungfrau magisch an
   und reizte ihre Fantasie.

   Sein Hauch versüßte jede Luft,
   sogar auch die im Nymphenhain.
   Aus seinem Maul stieg holder Duft,
   der himmlisch roch wie Götterwein.

   Sie konnte nicht mehr widerstehn
   und fiel in eine leichte Trance.
   Der Stier bestimmte das Geschehn
   und ließ der Fürstin keine Chance.

   Sie wusste nicht, wie ihr geschah
   und was dem Stier solch Macht verlieh.
   Und eh Europa sich versah,
   sank sie dahin auf ihre Knie.

   Er hörte mit dem Brüllen auf,
   doch klang’s in ihren Ohren nach.
   So nahm das Schicksal seinen Lauf,
   denn die verwirrte Fürstin sprach:

   »So lasst doch diesen ganzen Kram!
   Wir spielen lieber mit dem Stier.
   Seht hin, er ist doch völlig zahm!
   Was steht ihr rum? So kommt zu mir!

   Er gleicht so gar nicht all den Stiern,
   die ich im Leben je gesehn.
   Natürlich kann ich mich auch irrn,
   doch scheint’s, als würd er mich verstehn.

   Vielleicht lässt er sich reiten gar.
   Ich glaub, er trägt von uns gleich vier.
   Wie wäre das doch wunderbar –
   zu galoppiern auf einem Stier!

   Er ist so stilvoll wie ein Pferd;
   es kommt mir vor, als hätt er Charme.
   Ich glaub, dass er mich sehr verehrt –
   so zärtlich ist sein Blick und warm.

   Ich lass ihn niemals mehr allein!
   Er guckt so treu wie mancher Hund,
   er ist so fabelhaft und fein,
   er strotzt vor Kraft und scheint gesund.

   Er wirkt wie ’n Mensch mit viel Verstand
   und ihm fehlt einzig nur das Wort.
   Erkunden wir mit ihm das Land;
   nun kommt, wir reiten auf ihm fort!«

   So sprach’s die Fürstin ganz vernarrt.
   Die andern standen bloß herum,
   warn alle wie zu Stein erstarrt
   und blieben vorerst gänzlich stumm.

   Sie nahm den Rest von ihrm Geflecht
   und schmückte ihren Freund noch mehr.
   Dies schien dem Stier nur allzu recht
   und freute ihn auch diesmal sehr.

   Er lud sie nun zum Reiten ein
   und legte brav sich vor ihr hin.
   Nichts konnte für sie schöner sein,
   nichts andres hatte sie im Sinn.

   Er streckte seinen Rücken lang
   und sein Gebrüll erklang erneut.
   Den andern wurd ein wenig bang,
   doch schien die Fürstin höchst erfreut.

   Europas ganzer Anhang schwieg
   und griff in keiner Weise ein.
   Als lächelnd sie ihn dann bestieg,
   blieb sie auf ihrem Stier allein.

   Das Tier stand gut ihr zu Gesicht
   und schien so edel wie ihr Blut.
   So übte gern ihr Tross Verzicht
   und hatte auch nicht ihren Mut.

   Sein Rücken glänzte gelblich hell
   so wie der Mond in mancher Nacht.
   Sie sackte sanft ins weiche Fell
   und war entzückt von all der Pracht.

   Das Glück schien ihr wahrhaftig hold,
   doch ihr verbarg sich noch der Trug.
   Genauso war’s von ihm gewollt,
   denn listig war sein Plan und klug.

   Sie hielt das Ganze für ein Spiel
   und war schon fast in seiner Hand,
   doch war er längst noch nicht am Ziel
   und immer noch in ihrem Land.

   Zunächst schritt er noch äußerst sacht
   und ging den Weg, den sie ihm rief.
   So keimte anfangs kein Verdacht,
   da er total gehorsam lief.

   Doch dann war sie ’s Befehlen leid
   und ließ ihrn Stier ganz frei spaziern,
   denn sorglos dachte bloß die Maid:
   »Was kann da Schlimmes schon passiern?«

   So lief der Stier, wie’s ihm gefiel,
   und wollte offenbar zum Strand.
   Sie akzeptierte jedes Ziel,
   wo immer es sich auch befand.

   Sie saß auf ihrem Stier bequem
   und hatte riesengroßen Spaß,
   doch bald schon gab es ein Problem
   und eh sie sich versah, geschah’s.

   Der Stier erhöhte seinen Schritt
   und galoppierte wie ein Ross.
   Die andern kamen nicht mehr mit
   und so düpierte er ihrn Tross.

   Es wehten wild ihr Kleid und Haar,
   denn viel zu schnell lief da ihr Stier.
   Sie sah sich plötzlich in Gefahr
   und blieb mit Müh nur auf dem Tier.

   Sie waren schon am kahlen Strand
   und bis zum Wasser war’s nicht weit.
   Er stampfte jetzt auf feinem Sand
   und weiter wankte bang die Maid.

   Er rannte plötzlich in das Meer
   und schwamm mit seinem Raub hinweg.
   Die edle Jungfrau staunte sehr
   und kannte weder Sinn noch Zweck.

   Sie wünschte sich, er nähm ein Bad
   und schwämme bald mit ihr zurück
   und alles, was er eifrig tat,
   geschähe nur zu ihrem Glück.

   Ihr Tross erreichte nun das Meer,
   doch niemand sprang beherzt hinein
   und schwamm der Fürstin hinterher.
   Man fing bloß hilflos an zu schrein.

   Die Jungfraun winkten ganz verstört,
   doch drehte dieser Stier nicht bei.
   Ihr Flehen wurde nicht erhört
   und so verhallte ihr Geschrei.

   Und als Europa sie noch sah,
   verging ihr rasch die ganze Lust,
   denn was so schlimm mit ihr geschah,
   wurd ihr auf einmal voll bewusst.

   Sie sah sich schmählich reingelegt,
   doch war’s zu spät, als sie’s begriff.
   Sie schrie vor Angst ganz aufgeregt
   und er fuhr fort nur wie ein Schiff.

   Er raubte sie ihrm Vaterland
   und jetzt begann für sie die Qual.
   Sie blickte noch zum Meeresstrand
   und sah ihn da zum letzten Mal.

   In ihr Gewand blies Meereswind,
   als wär’s ein buntes Segel gar.
   So fuhr hinweg das Königskind,
   dem nie zuvor so bange war.

   Sie war im Schwimmen nicht geübt,
   doch er schwamm schnell wie ein Delfin.
   So schluchzte ständig sie betrübt,
   denn sie vermochte nicht zu fliehn.

   Sie war umringt vom Mittelmeer
   und saß da ohne Speis und Trank.
   Ihr Herz wurd krank und sorgenschwer,
   als bald die Sonne vor ihr sank.

   Und auch bei voller Dunkelheit
   ging’s weiter ohne Rast und Halt.
   Sie fühlte tiefe Traurigkeit
   und dann wurd ihr noch bitterkalt.

   Noch griff sie kräftig um ein Horn,
   doch langsam wurd sie müd und schwach.
   In ihr entkeimte großer Zorn
   und hielt so eben sie noch wach.

   Europa wurde gar nicht nass,
   da er das Meer geschickt durchschnitt.
   Sie fühlte dennoch großen Hass,
   da sie genug schon auf ihm litt.

   Da sah sie in der Ferne Licht
   und wusste gleich, woher es kam.
   Es strahlte schwach ihr ins Gesicht
   und dämpfte kurz nur ihren Gram.

   Gesäumt von gelbem Fackelschein
   lag ihr zur Rechten Zyperns Strand.
   Sie wünschte sich, nun dort zu sein;
   der Stier jedoch ging nicht an Land.

   Der Fürstin half auch kein Geschrei,
   denn das Gestade war zu fern.
   Er schwamm dort einfach stur vorbei,
   als würd ihr Leid ihn gar nicht schern.

   So darbte sie als seine Fracht
   und ihre Hoffnung schien gering.
   Sie fror auf ihm die ganze Nacht,
   die quälend langsam nur verging.

   Allmählich klärte sich ihr Blick,
   denn endlich kam der neue Tag.
   Die Sonne schien ihr ins Genick,
   als sie erschöpft auf ihm nun lag.

   Er trug sie immer weiter fort,
   als triebe er ein böses Spiel.
   Ihr half kein Weinen und kein Wort;
   er schwamm dahin, wie’s ihm gefiel.

   Es stieg die Sonne Stück für Stück;
   bald rann ihr überall der Schweiß.
   Sie wünschte sich die Nacht zurück,
   denn langsam wurd ihr mächtig heiß.

   Sie wurde arg vom Durst geplagt
   und gegen Mittag litt sie schwer.
   »Schon bald«, so dachte sie verzagt,
   »verdurste ich und stürz ins Meer.«

   Fast jeder Knochen tat ihr weh;
   die Hitze dörrte sie ganz aus.
   Sie hasste längst die hohe See
   und wünschte sich, sie wär zu Haus’.

   Als dann der Abend endlich kam,
   tat ihr der kühle Wind recht gut.
   Und als sie Vogelsang vernahm,
   erwuchs in ihr gar neuer Mut.

   So hob sie mühevoll ihr Haupt
   und sah vor sich ein fremdes Land.
   Sie hatte dies nicht mehr geglaubt
   und traute kaum noch ihrm Verstand.

   Europa hatte es geschafft –
   sie traf am Ufer lebend ein.
   Sie hatte nicht einmal die Kraft,
   aus purer Freude kurz zu schrein.

   Er lief zu einem klaren Bach
   und ließ die Jungfrau endlich gehn,
   doch fühlte sie sich äußerst schwach
   und konnte kaum noch aufrecht stehn.

   Sie war gerettet vor dem Tod
   und sackte müd auf ihre Knie.
   Vom Schicksal allzu sehr verroht
   soff gierig sie wie manches Vieh.

   Sie trank so viel wie nie zuvor
   in einer solch geringen Zeit.
   Da blickte kurz die Maid empor
   und sah kein Tier mehr weit und breit.

   Stattdessen kam ein edler Mann,
   der einem jungen Gotte glich.
   Er sah die Jungfrau musternd an
   und sprach zu ihr höchst feierlich:

   »Ich bin ein Fürst des Abendlands
   und Kreta ist mein Inselreich.
   Du schöne Maid des Morgenlands,
   du kommst fast einer Göttin gleich.

   So heiß ich dich willkommen hier.
   Ich bin zutiefst von dir entzückt
   und fühle mich gewogen dir,
   ja würde gern durch dich beglückt.

   Denn eine Maid von solchem Leib
   benötigt einen reichen Herrn.
   Ich wünsch mir dich als neues Weib
   und glaub, du kannst mir’s nicht verwehrn.«

   Sie war noch längst nicht bei Verstand
   und akzeptierte diese Schmach.
   Sie gab ihm ihre zarte Hand,
   womit sie sich nun ihm versprach.

   Dies fiel der stolzen Maid nicht leicht,
   doch ihre Not war viel zu groß.
   So hatte Zeus sein Ziel erreicht
   und so erfüllte sich ihr Los.

   Er sprach: »Du kannst mir voll vertraun
   und solltest jetzt ein wenig ruhn.
   Ich werde morgen nach dir schaun
   und habe heute noch zu tun.«

   Nach diesen Worten ging er fort
   und ließ die Fürstin ganz allein.
   Sie fand bald einen sichren Ort
   und schlief dort augenblicklich ein.

   Am nächsten Morgen wurd sie wach,
   doch gut erholt fand sie sich nicht.
   Sie ging zu einem nahen Bach
   und wusch sich flüchtig ihr Gesicht.

   Sie bäumte sich dann tapfer auf
   und lief am Bach erst hin und her.
   Sie folgte schließlich seinem Lauf
   und schnell erreichte sie das Meer.

   Sie suchte nun ihr Heimatland
   und sandte weite Blicke aus
   und dort, wo grad die Sonne stand,
   erhob sich fern ihr Vaterhaus.

   »O Vater«, rief sie ganz verstört,
   »ich bringe dir nur Sorgen ein.
   Du bist mit Fug und Recht empört;
   ich bin’s nicht wert, dein Spross zu sein.

   Weil ich die Pflicht frivol vergaß,
   bleib ich für immer dir verlorn.
   Ich wollte bloß ein wenig Spaß
   und stehe hier jetzt voller Zorn.

   Ich schlimme Tochter war so dumm
   und ließ mich von dem Stier beirrn.
   Ich ritt auch noch auf ihm herum
   und ließ beschämend mich düpiern.

   Was war das für ein schlimmer Wahn,
   dem ich so sorglos da verfiel?
   Was hab ich bloß dem Stier getan,
   dass er mich wählte für sein Spiel?

   So ist doch schuld nur dieses Vieh!
   Es hat mich allzu bös versucht,
   ja es betrieb wohl auch Magie –
   so sei auf ewig es verflucht!

   Ich kann doch wirklich nichts dazu
   und war auch immer äußerst brav.
   Ich legte lieblich mich zur Ruh,
   doch ’s Übel packte mich im Schlaf.

   Ein Traumbild neckte meinen Geist
   und brachte mich um den Verstand.
   So bin ich um die Welt gereist
   und kam in dieses fremde Land.

   Wie könnte es auch möglich sein,
   dass mich ein Untier dreist verführt
   und mich am Tag bei Sonnenschein
   vor aller Augen kühn entführt?«

   Sie stand allein in einer Bucht
   und fühlte dennoch sich bedroht.
   So dachte sie an eine Flucht,
   doch sah sie nirgendwo ein Boot.

   Um sich dem Fürsten zu entziehn,
   empfahl sich ihr nur ein Versteck.
   Sie wollte eisern ihm entfliehn
   und rannte kopflos einfach weg.

   Sie duckte zwischen Felsen sich
   und trotzte so dem Edelmann.
   Sie fühlte sich ganz unglücklich
   und fing beinah zu schluchzen an.

   Sie sagte sich, sie träume bloß,
   und kniff sich kräftig in ein Ohr,
   doch schmerzte dies so gnadenlos,
   dass sie die Hoffnung ganz verlor.

   Gezwängt in eine Felsenkluft
   schien sie dem Tode schon recht nah.
   So rang sie fast um Atemluft,
   als sie die Felsen sich besah.

   Sie wünschte sich in ihrer Qual,
   sie läg verblichen schon im Grab,
   denn ihr erschien zutiefst real,
   was dort beklemmend sie umgab.

   Die Klippen standen schroff und starr,
   das Meer ertoste schauerlich.
   Dies neue Land schien ganz bizarr,
   so völlig fremd und unheimlich.

   »O Vater«, rief die Jungfrau nun,
   »noch nie war größer meine Not.
   So kann ich nur noch eines tun –
   ich wähle ehrenvoll den Tod.

   Ach, brächte man mir dieses Vieh!
   Ich würde es zerfleischen dann,
   ja grausam wüten wie noch nie
   und fing dabei zu jubeln an.

   Ich risse ihm die Hörner aus
   und grillte es am Spieße mir.
   Es wäre mir ein Freudenschmaus
   und fort wär dieses Unglückstier.

   O nein, hinweg mit all der Wut!
   Sie ändert nichts an meinem Leid.
   Der ganze Zorn tut mir nicht gut
   und schickt sich nicht für eine Maid.

   Als Frau, die edlem Blut entstammt,
   denk ich doch nicht mehr länger nach.
   Ich würd von Vater nur verdammt,
   ließ ich mich ein auf eine Schmach.

   Zu groß wär meine Seelenpein,
   verschenkte ich mich diesem Mann.
   So bleibt mir nur dies Felsgestein,
   die ganze Zeit schon zieht’s mich an.

   Ich spring von dort ins tiefe Meer,
   das mich auf ewig dann verschlingt.
   Zwar fällt mir dies wohl ziemlich schwer,
   doch tu ich’s, weil’s die Not erzwingt.

   Zu edel ist mein Jungfraunleib,
   mir bleibt auch keine andre Wahl.
   Ich dien ihm nicht als Nebenweib
   und niemals wird er mein Gemahl.

   Ich gebe mich so leicht nicht her
   und möchte keine Sklavin sein.
   Da stürz ich lieber mich ins Meer
   und klettre gleich aufs Felsgestein.«

   Da stieg die arme Maid hinauf
   und blickte angstvoll in die Flut.
   Sie hielt sich viel zu lang dort auf
   und so enteilte ihr der Mut.

   Sie traute ihren Augen nicht,
   als plötzlich Aphrodite kam,
   und traute auch ihrn Ohren nicht,
   als sie verblüfft ihr Wort vernahm:

   »Ich grüße dich, du edle Maid;
   wie schön, du bist nun endlich hier!
   Selbst ich erblasse fast vor Neid,
   du bist der Anmut höchste Zier!

   Der Stier, der deine Gunst erschlich,
   das war der Zeus im Liebeswahn!
   Doch schuldig bin im Grunde ich,
   ja ich hab dir dies angetan.

   Ich habe dir den Traum gesandt
   und ihn in dich verliebt gemacht.
   So kam er in dein Vaterland
   und hat dich schnell mir hergebracht.

   So nimmt dein Schicksal seinen Lauf
   und alles wird am Ende gut.
   Der neue Erdteil nimmt dich auf
   und schenkt dir neuen, frischen Mut.

   Der große Zeus hat dich erkorn
   als Gattin für die Ewigkeit.
   So lass doch endlich deinen Zorn
   und deine tiefe Traurigkeit!

   Du bist die Sonne in der Nacht
   und hast dem Abendland gefehlt.
   Durch dich erblüht’s zu neuer Pracht;
   sei du die Frau, die es beseelt!

   Vorüber ist dein schlimmes Leid,
   so denk nicht mehr daran zurück!
   Du wirst berühmt für alle Zeit
   und ewig währen soll dein Glück.

   So finde langsam deine Ruh,
   du wunderschönes Mädelein!
   Der Erdteil heißt ab jetzt wie du –
   sein Name soll Europa sein.«


© Arne Arotnow


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