in vielen Städten dieser Welt
da bin ich nie gewesen -

doch in Lissabon -
da war ich schon

fuhr auf dem Tejo
fühlte mich so
als hätte ich immer dort gelebt
und mein ganzes Wesen, es strebt . . .

nach Fado,Melancholie und Vinho Verde,
zum Torre de Belem,zu Pesoa und heiliger Erde
Castello St. George,Linie 28,fahle Kneipenlichter
Geruch von Fisch,Abgase,Armut - alte Gesichter

die Stadt sie atmet mit antiken Lungen
noch tief erregt von der Geschichte
von der sie wesenhaft durchdrungen
Legierung auf ewig, mit Mythen eng verwoben
strebt von allen Seiten scheinbar. . .dauerhaft nach oben

- doch plötzlich wie ein Blitzschlag fuhr`s in mich hinein
Gänsehaut,kalte Schauer,jede Faser meines Körpers nur Pein
gerade noch entspanntes Schlendern durch die Alfama
in meinem Geist jetzt Bilder vom schrecklichsten Drama

Gestank von verbranntem Fleisch,Schreie in Todesnot
schien gerade noch die Sonne,
die ganze Welt wie Blut nun so rot-
sechsmal Zehntausend einfach ausradiert
beim Kirchgang tat die Erde sich auf
und ganz Europa voller Panik - konsterniert
war Gott nicht da? nahm er es in Kauf?
am heiligen Sonntag in aller Früh`ein Massen-Autodafé
Leibniz schreibt vergeblich sein Theodizee

der Schock sitzt der Religion tief im morschen Gebein
wie konnte es geschehen? warum ließ Gott es so sein?

. . . ich erlebte in Lissabon am nächsten Tag
einen Sonnenaufgang
er hat mich versöhnt
mir ist nicht länger bang
fasste am jungen Tag
einen hehren Plan
übe mich mit tiefem Ernst
bis heute daran

in stiller Demut
das Herz weit offen
nie will ich aufhören
zu hoffen


© ulli nass


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Beschreibung des Autors zu "Lissabon 1755"

Aktuell leidet Lissabon an Covid-19.Seit ca. 20 Jahren erstickt die Stadt an Besucherströmen. Der alte Charme ist längst weg.

Die reale Katastrophe von Lissabon 1755 führt im Schlepptau eine Katastrophe des Geistes. Das christliche Europa ist erschüttert - in den Grundfesten seines Denkens und vor allem seines Glaubens. Goethe schreibt in seinen Memoiren:

"Der Knabe war nicht wenig betroffen. Gott, der Schöpfer und Erhalter Himmels und der Erden, den die Erklärung des ersten Glaubensartikels so weise und gnädig vorstellte, hatte sich, indem er die Gerechten mit den Ungerechten gleichem Verderben preisgab, keineswegs väterlich bewiesen."
Ca. 60000 Opfer,die meisten beim Kirchgang . . .
Der Philosoph O. Marquard ( lesenswert )vergleicht die Auswirkungen mit denen von Auschwitz.Die neuzeitliche Theodizee (Leibniz) darf getrost als gescheitert gesehn werden.
Ich fuhr mehrmals auf dem Tejo ,war 77 schon in Portugal( kurz nach Salazar) und liebe und kenne das Land durch viele Besuche recht gut.Von Sagres bis Tomar . . .Batalha,Sintra,Coimbra . . .
Der Fado ist traurig melancholisch.Die Größe und Bedeutung von Portugal liegt halt über 500 zurück.Das erzeugt Wehmut und Nostalgie. Geschichte halt.

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Kommentare zu "Lissabon 1755"

Re: Lissabon 1755

Autor: Alf Glocker   Datum: 18.02.2021 8:42 Uhr

Kommentar: Ja, so ist das mit der Zeit - sie bringt viele, oft unschöne, Ereignisse mit sich und wir denken, so wir können, dran...

feiner text!

LG Alf

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