Von Einstein wird es schon erwähnt,
dass sich die Zeit zuweilen dehnt.
Auch für Frau Schulz zog sich die Enge
nicht nur der Ehe in die Länge,

auch ihr Empfinden wurde träge
und nahm im Hirn oft läng're Wege.
Nur zum Vergleich – stellt Euch mal vor,
dass wer vom Münchner Isartor

an die Atlantikküste wollte,
und unbelehrbar ostwärts rollte.
Klar käm' der am Atlantik an,
die bange Frage ist nur: Wann?

So ähnlich ist’s auch bei Frau Schulz,
der ihres Hirnes zäher Sulz
schnelles Entscheiden sehr erschwert,
weil ein Gedanke Stunden währt.

Frau Schulz pflegt schon seit vielen Jahren
statt Treppensteigen Lift zu fahren
im Fahrstuhl, der am sicheren Seile
zum Ziel sie trägt mit Windeseile.

Ihre Gedanken sind dagegen,
schon wieder mal auf läng'ren Wegen.
Das rot und weiß gestreifte Band,
das vor dem Lifteingang gespannt,

sieht sie zu spät, worauf mit Macht
hinab sie stürzt im dunklen Schacht.
Doch weil ihr Denken spät nur reift,
Frau Schulz die Lage nicht begreift.

Es ist doch klar, sie muss in Kürzen
schmerzhaft im Erdgeschoss aufstürzen.
Sie jedoch glaubt infolge ihrer
trägen Gedanken sich in Vierer-

Stockwerkhöh' befindend, wo
sie doch schon schwebt auf Höhe zwo.
Schon aufgeklatscht im Schachte unten,
glaubt sie, ihr Fallen währt noch Stunden.

Wir lassen Zeit ihr, zu verenden,
um uns dem Gatten zuzuwenden.
Vielleicht gibt's ja bei dem Geschichten,
die uns von Schönerem berichten.

***

Herr Schulz, verreist in fremder Stadt,
will, da er Langeweile hat,
aus dem Hotel flieh'n, wo er haust;
auch weil's ihm in der Bleibe graust.

Er bleibt vor einem Kino steh'n
und äugt – was gibt es hier zu seh'n?
Heut läuft – der gute Mann erschauert! –
der Film „Lebendig eingemauert!“

Die Hauptrolle spielt Nicholson,
geschminkt als fiese Weibsperson.
Ein Teufelsweib, das mordend lacht,
hat schon so manchem Angst gemacht.

Das Jungvolk muss enttäuscht erfahren,
der Film ist erst ab 18 Jahren.
Doch Schulz ist fast dreimal so alt
und eilt zur Kasse alsobald.

Er denkt, der Film könnt' spannend sein
und kauft ein Ticket – Reihe 9.
Erwähnen muss ich hier nun auch,
dass es in jenem Lande Brauch,

ein Trinkgeld – nicht zu knapp bemessen –
der Platzanweiserin, die versessen
darauf ist, schnellstens auszuhändigen,
sonst ist ihr Ärger nicht zu bändigen.

Herrn Schulz ist dieses unbekannt,
leer bleibt die ausgestreckte Hand.
Von wilder Rachegier bewogen,
folgt nun die Frau, die so betrogen,

den Mann, der seinem Platz zuschreitet,
und raunt ins Ohr ihm, das geweitet:

„Weil Sie mich ohne Trinkgeld ließen,
werd ich Ihnen den Spaß vermiesen!

Es geht im Film um einen Bauern,
gefangen hinter Küchenmauern,
dort vegetiert er schon seit Jahren
mit schließlich meterlangen Haaren.

Nur durch ein Loch, vom Bild verborgen,
kann ihn sein Teufelsweib versorgen,
die aus Sadismus ihn ernährt
von Restmüll, den sie nie entleert.

Am eignen Haar – könn'n Sie das fassen?! –
hat er sich nachts herabgelassen.
Weil er gewaltig abgenommen,
konnt' er durch's enge Loch entkommen.

Jedoch die Frau hat ihn gehört.
Dem Mann, der schwach und abgezehrt,
schlägt einen schweren Schnellkochtopf
sie mehrmals tödlich auf den Kopf.

Der Staatsanwalt, dem Durchblick fehlt,
glaubt alles, was sie ihm erzählt.
Geschicktes Lügen hat erreicht,
dass keine Argwohn ihn beschleicht.

Die Frau hat schon, was er nicht ahnt,
die nächste Gräueltat geplant:
Den Bauern hat sie abgehäutet,
und in die Haut, die sie erbeutet,

den Staatsanwalt hineingenäht,
der dies als Liebesspiel versteht,
weil er schon seit geraumer Frist
ihr sexuell verfallen ist.

Doch Lust und Leben sind verflogen,
als ihm die Atemluft entzogen.
Beim Obduzieren wird entdeckt,
dass drinnen noch ein anderer steckt.

Dem Pathologen Dank gebührt.
Des Bauern Frau ist überführt,
denn untersagt ist's, Leichenhüllen
mit anderen Leichen zu befüllen.

Das war's! Und ich hab's nur erzählt,
weil immer noch mein Trinkgeld fehlt“.

***

Was soll er jetzt den Film noch sehen?!
Herr Schulz beschließt, nach Haus zu gehen,

und freudlos scheint ihm diese Welt,
weil er um seinen Spaß geprellt.
Man ahnt schon, wie er später flucht,
wenn er zu Hause dann versucht,

Frau Schulzens Teile, die dort kleben
mit Herzmassage zu beleben.
Dies wird ihn um so mehr verstören,
als er konnt' oft beim Kirchgang hören,

dass Jesus einst ist auferstanden –
Doch der war noch im Stückvorhanden.
Die Gattin ist nicht mehr zu heilen,
denn weit verstreut ist sie in Teilen.

Und hingestreckt vom Herzinfarkt
ward Schulz am Tag drauf eingesargt.

Ich schließ nun diese Moritat,
weil sonst auch mir das Ende naht.

***


© peter heinrichs


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Kommentare zu "Die Moritat von den bedrohlichen Gefahren des Lebens"

Re: Die Moritat von den bedrohlichen Gefahren des Lebens

Autor: Jürgen F.   Datum: 26.02.2023 9:04 Uhr

Kommentar: Bischen lang, mit Erinnerung an Schillers Glocke, welche ich auswendig zu lernen hatte....aber ansonsten ein sehr schöner Text mit Bezug zur Realität...danke
LG Jürgen

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