Kraftlos
Stehe vor der Birke mit ihrem weißen Kleid,
kraftvoll ihre Äste, die Arme weit.
Sie flüstert mir zu – umarme mich,
ich geh auf ihr zu, erst zögerlich.
Ihre Blätter tanzen das Lied vom Wind,
behutsam und sanft wie Mutter und Kind.
Warum bist du so traurig, hör ich sie leise sagen,
ich sehe dir an, dass dich Sorgen plagen.
Nimm mich in deine Arme und erzähle mir,
reden tut gut, glaube mir.
Mit geschlossenen Augen umschließe ich den Stamm,
angenehm kühl und doch mütterlich warm.
Traurigkeit macht sich wieder in mir breit,
eine Träne tropft auf ihr Kleid.
Ein zartes Ästchen streicht über mein Haar, fast in Verlegenheit,
es durchströmt mich ein seltsames Gefühl von Geborgenheit.
Weißt du, fing ich an zu erzählen,
es ist ganz schön hart geworden, mein Leben.
Erst kam eine Krebsdiagnose,
dann folgte auch noch Multiple Sklerose.
Bin zwar auch eine Kämpfernatur wie du,
doch meine Kräfte schwinden im Nu.
Fühle mich nutzlos und ausgelaugt,
das Leben zieht an mir vorüber, wer hätte das geglaubt.
Stand in der Blüte meines Lebens,
doch nun ist vieles einfach vergebens.
Stehe morgens auf und lebe in den Tag hinein,
ich frage dich – soll es das gewesen sein?
Das Laufen fällt immer schwerer, keine Kraft mehr in den Beinen,
manchmal möchte ich am liebsten nur noch weinen.
Frau und Kinder stehen zwar hinter mir,
aber irgendwie habe ich einen Spalt zugemacht meine Tür.
Die Birke schüttelt vor Rührung ihr Kleid,
ein Schauer macht sich über meine Rücken breit.
Ich schmiegte mich an ihrem kräftigen Stamm,
da sie wieder zu flüstern begann:
Komm so oft du willst an meine Seite,
verbleibe hier dann eine Weile.
Will dir schenken Kraft von mir,
bitte öffne wieder einen Spalt deine Tür.


© Karl-Heinz Dütsch


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Kommentare zu "Kraftlos"

Re: Kraftlos

Autor: TheresaMüller   Datum: 25.07.2012 22:17 Uhr

Kommentar: Zunächst mal ein harter Schicksalsschlag der mir leid tut...
zum Gedicht.
Mir gefällt die lebensbejahende Idee mit der Birke, personifiziert, Bäume eigenen sich gut dafür...besser als Menschen, literarisch wie real gesehen, denn im Baum findet man wohl eher zu sich selbst statt zu anderen.

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