Die Flucht

Weihnachten…Zeit der Ruhe, der Besinnlichkeit,
und ich beginne mich zu besinnen
auf alles - auf nichts!
Es herrscht Dunkelheit um mich herum,
also zünde ich eine Kerze an
nur wegen des bisschen Lichts,
das meine Seele benötigt,
um nicht im Strom dieser Zeit zu ertrinken…
Ich sitze vor meinem Fenster zur Straße
und sehe einzelne Menschen verzweifeln,
weil niemand ihr Leid verstehen will.
Sie sind die wahren geweihten der Nacht,
die uns beständig daran erinnern,
daß es uns gut geht - zumindest besser,
besser als diesen armen Schweinen.
Ob sie mich sehen?
Meine Kerze flackert und zuckt wie wild.
Ob sie mit mir fühlt?
Ob sie mich sehen?
Langsam hebe ich meine Hand und winke,
winke durch das Dunkel der Weihnacht.
Das Fenster spiegelt mein Gesicht
das vom Flammenschein erhellt
und es ist, als winke ich mir selbst.
Mir geht es gut - besser als denen.
Nur ein paar Meter vor meinem Fenster,
da läßt sich ein alter Mann nieder
und ich fühle den Schmerz seiner Glieder,
als teilte ich sein Alter.
Ein paar Meter - doch Meilen entfernt.
Er dreht sich um…
Er sieht mich…
Noch immer winke ich.
Zum Abschied? Zum Willkommen?
Ich weiß es nicht mehr.
Ich muss hier raus
und lasse die Kerze brennen…

Ich verlasse das Haus ohne Mantel,
denn nicht einmal ein halber
würde die Kälte meines Seins wärmen.
Der alte Mann sitzt noch dort.
Auch zu ihm gesellt sich die Kälte.
Er sieht mich zu sich gehen
und lächelt. Erkennt er mein Gesicht?
Das von der Kerze beschienene?
Sein Lächeln wärmt mich etwas
und ich setze mich zu ihm…
Er erzählt aus seinem Leben,
denn im Hier und Jetzt
hört ihm außer mir niemand mehr zu.
So nah bei ihm sehe ich seine Narben.
Sein Gesicht ist der Spiegel seines Lebens.
In seinen Augen erkenne ich mich.
Am Ende weint er - er kann es…
…ich nicht.
Ich bedanke mich bei ihm…
…und ziehe weiter.

Wie in Trance ziehe ich umher,
schwer lasten meine Gedanken,
doch ich kann ihnen nicht entkommen.
Die Einkaufsgassen sind überfüllt
mit lächelnden, doch frierenden Menschen.
Zwischen ihnen liegen zusammengeknüllt
die wahren geweihten der Nacht.
Wie loses Papier, das wir achtlos
auf die Straßen werfen.
Und wir sagen: sie nerven!
Überall diese Bettler!
Auch mich nerven sie viel zu oft,
denn sie zeigen mir meine Unfähigkeit,
mein Unvermögen etwas zu ändern.
Und ich blicke in die Gesichter,
jene die mir auf Augenhöhe scheinen.
Bin ich denn wie sie?
Meine Gedanken sind nun im Labyrinth
und werden vom Minotaurus gejagt.
So jage ich auch durch das Gewirr
aneinandergeketteter Gassen
und versuche zu entkommen.

Ich weiß nicht wie,
aber ich fand den Weg nach Hause.
Nur noch schwach flackert die Kerze
durch mein Fenster zur Straße.
Der alte Mann sitzt darunter
und sieht mich kommen.
Ich stolpere zu ihm,
falle auf die Knie
und beginne zu weinen…


© Ich


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Kommentare zu "Die Flucht"

Re: Die Flucht

Autor: Uwe   Datum: 21.12.2014 22:01 Uhr

Kommentar: Ja, "in seinen Augen erkenne ich mich..."
wir.
Und auch zu weinen tut manchmal not.

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