Gespenstischer Besuch

Des Mondes milchig weißer Strahl,
stahl sich durch das kleine Fenster.
Und, es wurd mir so einmal,
als seh ich im Zimmer Nachtgespenster.

Vor mir stand die schwarz' Gestalt,
mit Totenkopf, de Augen leer.
Aus dem Skelett die stimme hallt:
"Du Menschentropf, komm zu mir her!"

Und der knöchern' Zeigefinger
deutet zu mir, ins Gesicht.
"Komm mit mir, ich warte nimmer,
Sterben ist der Menschen Pflicht!"

Ich lag nun schon sehr lang darnieder,
ein stechend' Schmerz in meiner Brust.
Verklungen warn die alten Lieder
kein neuer Vers, nur Schmerz und Frust.

Nun große Ängste mich erfassen,
nein! Bin nicht bereit zu scheiden.
Möchte noch Zeilen hinterlassen,
möcht' noch ein paar Reime schreiben.

"Ach, Gevatter," so sprach ich nun,
"lass mich noch ein Stück verweilen.
Hätte noch so viel zu tun,
hätte noch so viel zu schreiben!"

"Hab so viel Gedanken, die mich quälen,
ich möchte sie in Reime fassen.
Hab so vieles zu erzählen,
ein kurzes Weichen, willst du mir lassen?

Möchte schreiben, viele Zeilen,
die des Lesers Herz berühren.
Auf dass sie freudig hier verweilen,
und in meine Welt sie führen.

Möchte mit Worten sie erreichen,
mit meinen Reimen, wohlgesetzt.
Vielleicht ein hartes Herz erweichen,
und etwas heilen, das verletzt.

Ich möchte noch schreiben, von den Tränen,
die geweint ich in der Nacht.
Von den endlos langen Sehnen,
von dem Kind, das nie gelacht.

Von dem ersten Glück der Liebe,
als zarte Lippen mich berührten.
Und wie der Frühlingsknospen Blüte,
mich in des Glückes Himmel führte.

Und als das Glück dann war zerbrochen,
ein Blumenstrauß am Grabe lag,
die Einsamkeit kam angekrochen,
und schwarze Erde auf dem Sarg.

Der Knochenmann, er sagt es leise:
"So sei es gut, du Menschenkind.
Doch wenn es geht, auf deine Reise
dann hol ich dich! Schnell und geschwind!"

Nun mit seinen knöchern' Händen,
stellt er die Sanduhr vor mich hin.
"Diese Uhr wird dir beenden,
deine Verse! Nun beginn!"

Ich zück den Stift, beginn zu schreiben,
ich sehe, wie die Zeit verrinnt.
Die Worte werden bei euch bleiben,
die Sonn' geht auf, der Tag beginnt!


by suedwind


© August Zinser


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Kommentare zu "Gespenstischer Besuch"

Re: Gespenstischer Besuch

Autor: noé   Datum: 11.12.2013 2:18 Uhr

Kommentar: Herr Zinser!
Was soll man dazu noch sagen. Muss man sich Gedanken machen?
Liebe Adventgrüße von noé

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