"Tief in deinem Inneren lebt dein klagendes Abbild.
Du wartest auf seine Zauberworte: "Ich bin du."
Sie werden alle deine Wunden heilen."
Maria Szepes



Es war so viel einfacher wie alle zu sein,
und so unsagbar schwer den Weg zu sich selbst zu beschreiten.

Mein ganzes Leben war ich auf der Suche nach Liebe. Nach Geborgenheit und nach einem zu Hause, dem Ort meiner Zugehörigkeit. Doch innerlich fühlte ich mich oft allein.

Als ob meine Erinnerung ein einsamer Sandstrand wäre, zogen Menschen durch mein Leben und hinterließen ihre Spuren in ihm. Der Klang ihrer Stimmen und der Ausdruck ihrer Worte wurde fortgespült von den wiederkehrenden Gezeiten, und versanken langsam im Meer des Vergessens.

Momente, so kostbar und scheinbar unvergesslich, wurden wie Fußspuren im Sand immer flacher und flacher und schließlich ausgelöscht, bis der Sand in all seiner oberflächlichen Gleichmäßigkeit nichts mehr davon ahnen ließ - von der Tiefe jenes erlebten Augenblickes.

Manchmal taucht dich die Erinnerung kurz in ihr freudiges Licht, es ist als sei es gestern gewesen, so nah, so real und schon ist es wieder fort. Nur in deinem Herzen kannst du ein bestimmtes Gefühl wahrnehmen; die Erinnerung läßt sich beschneiden, deine Gefühle nicht.

Du schaust in den Spiegel, siehst dein Gesicht, siehst sein Reifen und sein Altern. Dabei hast du dich noch nie in deinem Leben gesehen, wie dich alle anderen sehen. Selbst im Spiegel bist du nur eine Spiegelung deines Selbst.

Du bist der einzige Mensch, der weiß, welche Welt sich hinter deinen Augen verbirgt, welche Gedanken und Gefühle, welche Hoffnungen und Bedürfnisse dich ausmachen. Umso mehr du erlebt hast, desto mehr hast du nachgedacht, umso mehr du gelitten hast, desto mehr bist du aufgewacht.

Es sind nicht nur die inneren Werte, die innere Schönheit, auf die du zwangsläufig stößt. Da sind auch Schatten und Mauern, Ruinen und verkümmerte Blumen, die am Rande zu verwelken drohen. Es ist nicht alles Sonne und Licht und Farbe in dir, es sind auch dunkle Schatten der Vergangenheit da, flüsternde Stimmen, die dich in die Irre und in destruktive Verhaltensmuster führen wollen.

Nichts auf der Welt ist so real, wie diese innere, geheimnisvolle Welt. Nichts so wunderbar und gleichzeitig erschreckend, nichts so aufregend und spannend und erstrebenswert als Ziel: du selbst. Dieses Selbst kannst du in keinem Spiegel erfassen, in keine Melodien und in keine Worte kleiden.

Dieses Gesicht, dieser Kopf, dieser Körper, der dir seit deiner Geburt vertraut ist, ist die Wohnstätte deines Selbst, der Sitz dessen, was wahre Realität ist.

Im Grunde ist der Körper nur ein Instrument, ein Vehikel, um das Selbst von A nach B zu bringen. Er ist Ausdrucksmittel und Werkzeug. Er ist alles für einen Menschen und zugleich in seiner Vergänglichkeit nichts. Was machen wir nur für ein Theater um all die Äußerlichkeiten. Es ist ja doch nur ein Wetteifern optischer Täuschungen.

Nun gibt es Lebensphasen, in denen wir damit zurecht kommen müssen, allein zu sein. Allein mit uns und dem, was wir anderen Menschen an unseren Verhaltensweisen und Verhaltensmustern zugemutet haben. Allein zu sein, um zu überdenken, was wir verloren oder aufgegeben haben, allein zu sein, um die Kraft zu schöpfen für eine andere Lebensstrategie, einen anderen Lebensweg, einen Neubeginn, in welcher Richtung auch immer.


Allein sein bedeutet, auf sich selbst zurückgeworfen werden.

Die Chance und Möglichkeit der Bewusstwerdung ergreifen zu können.

Allein sein ist keine Strafe, sondern ein Geschenk.


Ein Geschenk, das wir in Dankbarkeit annehmen und nutzen sollten. Damit wir am Ende dieser Allein-seins-Phase die Kraft und Möglichkeit haben, einen Neubeginn zu wagen, der nicht die gleichen Fehler in sich tragen sollte, der neue Perspektiven und das Ziel des mit sich Eins-seins enthalten sollte.

Dennoch muss uns klar sein: wir sind einzelne Individuen, eigenverantwortlich und niemand kann unser Leben leben. Niemand kann für uns geboren werden und niemand kann für uns sterben.

Alleinsein ist ein wichtiger Prozess, den wir offen annehmen sollten. Es ist ein Prozess, dem wir bewußt und unbewußt ausgesetzt sein können. Aber es ist ein Prozess, der im Grunde Tag für Tag, Stunde für Stunde stattfindet, auch wenn uns das Alleinsein manchmal so begegnet, als sei es nur eine Phase. Vielleicht ist das nur Selbstschutz, um nicht in Hoffnungslosigkeit oder Ängste zu verfallen.


Niemals zuvor war mir so klar, wie allein der Mensch tatsächlich ist, mit sich.

Erst wenn er das im Positiven begriffen hat und damit umgehen kann, wird er die Fähigkeit haben, in innerer Stärke in die wahre Liebe eintauchen zu können, die ihn wirklich erfüllt, ohne von ihr enttäuscht zu werden.

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Jeder von uns ist allein auf der Welt. Es erfordert großen Mut, sich der vollen Wucht seines Alleinseins zu stellen. Der größte Teil dessen, was in der menschlichen Gesellschaft geschieht, verfolgt den unbewussten Zweck, die Stimme, die in unserer inneren Wildnis ruft, zum Schweigen zu bringen.

Der Mystiker Thomas a Kempis sagte, dass wir jedes Mal, wenn wir in die Welt gehen, um ein Stück unserer selbst ärmer zurückkehren.

Solange wir nicht lernen, unser Alleinsein zu bewohnen, werden uns die einsamen Zerstreuungen und der Lärm der Gesellschaft immer wieder zu falscher Zugehörigkeit verführen, die uns nichts als Leere und Erschöpfung beschert.

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"Wenn wir uns aber unserem Alleinsein stellen, nimmt ein Geschehen seinen Anfang: Nach und nach verwandelt sich das Gefühl von Trostlosigkeit in ein Gefühl wahrer Zugehörigkeit. Dies ist eine langsame und nie eigentlich abgeschlossene Entwicklung, aber sie ist absolut unerlässlich, wenn wir zum Rhythmus unserer eigenen Individualität finden wollen.
In diesem Sinne ist sie die niemals vollendete Aufgabe, unser wahres Zuhause in unserem Leben zu finden.“
John O´Donohue





© Copyright 2007 Michaela Thanheuser


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