(Rede im Parlament)


Liebe Verbrecherinnen und Verbrecher, auch heute möchte ich uns wieder zum Erreichten gratulieren und natürlich auch zu unserem Wahlspruch "Wir schaffen das!", denn wir haben es tatsächlich wieder geschafft!

Die Reichen sind reicher geworden und die Armen ärmer, wir haben die Bildung vernachlässigt und genug Personal im Gesundheitswesen eingespart, weshalb wir getrost darauf vertrauen dürfen, daß nun bald sämtliche Bürger medizinisch unterversorgt sind.

Die Zahl der Obdachlosen hat deutlich zugenommen und die Kinderarmut ist auf ein beängstigendes Maß angestiegen. Wir dürfen, meine lieben Verbrecher und Verbrecherinnen, mit Recht stolz auf uns sein!

Unsere Industrie floriert, das Wirtschaftswachstum hat die notwendigen Prozentzahlen erreicht, und vor allem unsere Waffenhersteller erfreuen sich großer Absatzmärkte. Wir beliefern nahezu alle Krisengebiete mit den dort benötigten Mordutensilien modernster Art.

Die dadurch entstehenden Flutwellen von Flüchtlingen wiederum, beleben unseren Arbeitsmarkt, so daß bei uns kein Großunternehmer die Angst zu haben braucht, er müsse eines Tages noch menschwürdige Löhne, oder gar nennenswerte Beträge an Steuern zahlen.

Vor den jeweiligen Wahlen, in der Provinz, bzw. landesweit ist es unseren Partei-Werbestrategen noch immer gelungen, die Umfrageergebnisse derart beruhigend für uns zu fälschen, daß es uns dann auch später gelang, nicht mehr sehr viel an den Wahlergebnissen herumbasteln zu müssen, da die verunsicherten Bürger, vor lauter Angst getan haben, was sie immer tun: Zuflucht bei den etablierten Kräften suchen!

Insgesamt darf ich also behaupten: das Volk ist ebenso blöd wie es auch hilflos ist - und in dieser guten Tradition wollen wir auch in diesem Jahr gewissenhaft, Verzeihung, es muss natürlich heißen gewissenlos arbeiten, damit wir, am Ende der Legislaturperiode unser obligatorisches "Hurra" von uns geben können.

Ganz bewusst verschweigen möchte ich außerdem noch besonders, die Mitarbeit unserer Parteispitzen bei ausländischen Konkurrenz- und/oder Verschwörergruppen, die alle, mit vereinten Kräften, an unserem Untergang laborieren.

Hierzu zählt auch die Unterwanderung unserer, durch den Schweiß und die Tränen hochkreativer Bürger aus früheren Zeiten, erworbenen Gesamtmoral, welche ursprünglich einmal dafür gedacht war, oder erschien, als könne sie den Menschen hier Segen zu bringen.

Sie ist selbstverständlich auch jetzt nicht wirklich in Gefahr! Nein, ich möchte sogar das Gegenteil behaupten: sie wird nur, zeitgemäß durch früher von uns verabscheute Gedanken und Religionen, soweit verbessert, daß auch noch andere Verbrecher, außer uns, den Regierenden, bei uns unangetastet leben dürfen.

Ich halte das für DEN Fortschritt unseres Jahrhunderts, weshalb ich auch glaube, daß wir (und vor allem ich) als Wohltäter in die Weltgeschichte eingehen werden - zumindest aber als die Verantwortlichen für eine, im rechten Augenblick, geniale Umstrukturierung sämtlicher Lebensumstände, die uns zur Verfügung...standen!

Die Seele des Staates 101

© Alf Glocker


© Alf Glocker


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Kommentare zu "Die Seele des Staates 101"

Re: Die Seele des Staates 101

Autor: axel c. englert   Datum: 24.01.2016 14:56 Uhr

Kommentar: Satire darf alles. (Tucholsky schreibt) -
[Manchmal die Wahrheit übertreibt....]

LG Axel

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