Die Vase
In meinem Wohnzimmer, in einem Stadtviertel Münchens, unweit von Hirschgarten und Schloss Nymphenburg gelegen, fällt der Blick eines jeden Besuchers unwillkürlich, und von mir nicht etwa arrangiert, auf eine unregelmäßig gefleckte, gelbbraune, große Vase in Form einer neoklassischen Amphore. An wenigen Stellen ist bei genauer Betrachtung das feine, weiße Porzellan mit der Originalbemalung noch erkennbar. Das Stück zeigt, sieht man von der unansehnlichen Farbgebung einmal ab, keinerlei Beschädigung, nur der Deckel ist abhandengekommen. Wenn die Sonne an hellen Spätsommertagen golden durch meine vorhanglosen Fenster grüßt, wirft meine Vase mit den beiden schöngeschwungenen Henkelgriffen einen makellosen Schatten; ihm sind Farben gleichgültig. Mir übrigens auch, wie auch meinen Freunden – nachdem sie die Geschichte dieses einmaligen Schattenspenders kennen.
Im Berliner Süden, genauer in Südende, nahe Steglitz, ging ein wunderschöner, heißer Sommertag zu Ende, den ich mit meinen acht Jahren und allerlei kindlichem Zeitvertreib in unserem Garten verbracht hatte. An das Sirenengeheul und das anschließende Dröhnen der Bomber im Sommer 43 hatte ich mich irgendwie gewöhnt, galt es doch immer weiter entfernten Zielen. Nur meine Mutter und meine Großmutter drängten mich jedes Mal zusammen mit den anderen Leuten aus unserer Straße in den muffigen, feuchten Keller am Ende unserer Straße hinunter.
Am meisten hasste ich das Geräusch, wenn der alte Hohnstedt, unser Luftschutzwart, die schwere Kellertür zuschlug. Ich hatte mehr Angst davor, dass diese Tür einmal nicht mehr aufgehen könnte, als vor den Bomben selbst, von denen ich noch keine fallen sah.
Heute Abend blieb es ruhig. Großmutter spielte auf dem Klavier wieder die gleichen Stücke und Mutter sang die gleichen Lieder dazu. Ich genoss diese Abende sehr, inmitten der beiden allerliebsten Menschen, sie waren meine Festung für Glück und Sicherheit. In dieser Nacht schlief ich tief, im Traum rannte ich immer verzweifelter vor dem alten Hohnstedt davon, der mich fangen und in den Keller sperren wollte. Die Sirenen heulten und je heftiger ich mich von ihm los riss, umso mehr zerrte er an mir herum, bis ich, halbschlafend, die Stimme meiner Mutter vernahm, die mich aus dem Bett riss und wie ich war hinunter auf die Straße schleppte, wo die Nachbarn bereits aufgeregt in den Keller drängten. Mutter und ich kamen als letzte, da schlug die Tür schon krachend zu, und die Einschläge direkt über uns begannen kurz darauf. Sie wuchsen zum Inferno an. Zwischen den Bombenschlägen drang das laute Knacken von brennendem Holz zu uns herunter, abgelöst vom Knallen der Kessel, die in der Gluthitze zerspringen mochten oder wenn Mauern und Decken einstürzten. Nach etwa zwei Stunden, als es plötzlich ruhig wurde vom Himmel her, noch bevor die Sirenen das Endes des Angriffs meldeten, riss der Luftschutzwart die Tür auf, um, wie er hoffte, frische Luft in den stickigen Raum zu lassen. Nur das schwächer werdende Brummen blieb noch eine kleine Weile.
Der entsetzliche Anblick, als wir hustend und nach Luft ringend ins Freie drangen, entzieht sich einer Beschreibung, herrschte doch dieses Grauen bis zum Ende des Krieges in halb Europa und ist in zahllosen Worten und Bildern festgehalten worden. Keiner aber wird diese Dante´sche Hölle ermessen, in der die Hoffnungen, Sehnsüchte, ja Welten unzähliger Menschen durch diesen Krieg in ein schwarzes Nichts geworfen wurden. Keiner, der einen Feuersturm erlebt hat, durch Phosphor immer neu entfacht, der Asphalt zum Schmelzen bringt, dass Fliehende darin stecken wie lebende Fackeln, keiner kann das je vergessen. Wer Wind sät…
Als es hell wurde, standen wir alle vor der Verwüstung in unserem Viertel. Ein einziges Haus stand noch, der Rest waren glimmende, rauchende, verkohlte Balken, schräg sich türmende Mauerreste und geborstene Decken. Die ersten begannen bereits vorsichtig die Schuttberge zu ersteigen, stets gewahr einzubrechen, um nach Gegenständen zu suchen, die so etwas wie einen Gruß aus einer anderen Zeit bringen sollten, einer Zeit, die noch gestern Gegenwart war und nun in Trümmern lag. Mutter erstieg unseren Hausberg, ein Nachbar half ihr, auch ich stocherte ziellos herum. Wir fanden kaum mehr Nutzbares. Doch am Nachmittag, als sich der Rauch und die Hitze gelegt hatten, rief mich Mutter dorthin, wo unser mit Schutt gefüllter Keller war. Unter einem Mauerteil war ein Hohlraum verblieben, aus dem etwas Hellgraues hervor schimmerte. Schmal wie ich war, gelang es mir hineinzukriechen. Es war unsere unversehrt gebliebene, große Porzellanvase, die ich voller Stolz hervorzog. Ihr Platz war stets auf dem Flügel gewesen, wenn Großmutter des Abends spielte. Ein kostbares Geschenk meines jüdischen Onkels, der in Amerika lebte. Er hatte sie uns zu treuen Händen überlassen, bevor er mit seiner Frau eine der letzten Schiffspassagen ergattern konnte.
Sie war aus feinem Porzellan, oben mit einem breiten Goldrand geschmückt, darunter zog sich über die Schulter schöne arabeskenhafte kobaltblaue Bemalung bis an die harmonisch geschwungenen blaugoldenen Griffe. Die Vase ruhte auf vier goldenen, zierlichen Löwentatzen, ich nannte sie von jeher die Löwenvase. Nur ihr Deckel fehlte, er hatte die Form einer blaugoldenen Haube, wie sie gezähmten Greifvögeln aufgesetzt werden. Gefunden haben wir ihn nicht. Was ich hervorbrachte glich zwar unserer Vase, doch ihre kunstvoll gestaltete Oberfläche hatte sich in fleckiges Gelbbraun gewandelt. Die Vase hatte den Feuersturm überlebt. Uns erschien sie wie ein Zeichen. Onkel Jonas schrieb später, nachdem ihm meine Mutter das Abenteuer seiner Vase geschilderte hatte, „So schwer uns das Böse auch immer schlägt, Gott lässt niemals seine Vollkommenheit zu“.
Seither begleitet mich unsere Vase an alle jene Orte, die zu meiner jeweiligen Heimat zu wählen ich mich bewogen sah.
© Hans Finke 10/11


© Hans Finke


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Kommentare zu "Die Vase"

Re: Die Vase

Autor: noé   Datum: 21.12.2013 15:30 Uhr

Kommentar: Welches Glück hatte doch meine Generation, nicht durch solch schwere Zeiten geprägt worden zu sein. Jeder Tag Frieden ist ein Gottesgeschenk!
Vorweihnachtliche Grüße von noé

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