Halt mich! Er läuft verwirrt durch den Flur, als ich heimkomme. Hat nichts am Leib außer einer Unterhose, die schon bessere Tage gesehen hat. Sie schlottert ihm um die Mitte. Halt mich! Komm, sag ich. Komm, ich bring dich ins Bett. Was Besseres fällt mir nicht ein, um ihn zu beruhigen. Seine Augen irren umher, er steht unter Strom. Ich kenne das. Ich fürchte mich. Ich hab Angst vor ihm. Ich hab Angst, dass er mich ansteckt. Dass auch ich unter Strom stehe. Aber es ist so, wie es ist, und ich kann es nicht ändern. Er folgt mir, und wir legen uns auf sein schmales Bett, auf die harte Rosshaarmatratze. Das Bett ist ungemacht, die Decke zerknüllt am Fußende, auf dem Betttuch Tabakkrümel, kalte Asche. Er hat schon Stunden darin verbracht, verbringt ganze Tage darin. Die Vorhänge sind geschlossen, die Luft riecht verbraucht, leicht süßlich, nach Mann, nach Schweiß, nach Angst, nach Räucherstäbchen, nach kaltem Zigarettenrauch. Die letzten Töne der Musik, die er gehört hat, hängen noch im Raum. Ich halte ihn. Er ist mein Bruder. Bruder und Schwester auf einem schmalen Bett, was soll das sein? Nichts ist das. Wir sind eine Zwangsgemeinschaft, in die Welt gesetzt von derselben Mutter. Unsre Liebe liegt auf einer harten Pritsche. Ich halte ihn, ich wiege ihn, ich spreche auf ihn ein, ganz leise, ich lausche auf seine Atemzüge. Sie flattern wie Schmetterlingsflügel über mein Gesicht. Seine Füße bewegen sich fahrig. Meine Kehle ist rau, mein Mund trocken, meine Lippen schmecken salzig. Ich horche nach draußen, wünsche mich weg, ganz weit weg von diesem Bett. Große Brüder sind dazu da, kleine Schwestern zu beschützen, nicht umgekehrt. Verkehrte Welt. Warum ich, warum er, warum wir? Ich höre, wie sich der Schlüssel im Schloss der Wohnungstür dreht. Das Licht im Flur geht an. Vater kommt heim. Er ist nicht allein. Sie ist bei ihm. Ich höre ihre Stimmen. Sie dringen durch die summende Stille, kriechen in mein Ohr. Ich lausche, verstehe nichts, fühle, dass dicke Luft herrscht, auch draußen im Flur. Sie kann nicht, sie will nicht, sie hat Angst, auch sie. Ihre Stimme ist schrill, seine ein monotones Murmeln. Eine Tür wird geöffnet und leise wieder geschlossen. Erwachsene dürfen keine Angst haben. Was soll aus Kindern werden, wenn Erwachsene Angst haben? Ich bin kein Kind mehr, wir sind keine Kinder mehr. Aber wir sind Gretel und Hänsel draußen im Wald. Wir halten uns, wir wiegen uns, wir wärmen uns, streuen Brotbrocken auf den Weg, damit wir zurück finden. Wir wissen es nicht besser. Die Vögel werden das Brot fressen. Die Hexe wird uns fressen. Es wird kein gutes Ende nehmen. Ich summe uns ein Wiegenlied. Ganz leise, damit es niemand hört.


© (c) mon


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