Ein Weihnachtsmärchen

Diese Geschichte spielte vor langer Zeit in einer kleinen Stadt, deren Name den Menschen heute nicht mehr bekannt ist. Der Winter hielt gerade mit Pauken und Trompeten Einzug ,der Schnee fiel in dicken, nassen Flocken vom grauen Himmel und ein Schleier aus Kälte legte sich über die Dächer, bedrohlich, so als wolle er alles Leben zu Eis erstarren lassen.
Die Menschen froren selbst in ihren Häusern, denn das Feuerholz war teuer geworden und Geld hatten ohnehin nur die wenigsten. So saßen sie mit Mütze, Schal, Handschuhen und trübsinnigem Blick an den vereisten Fenstern und beobachteten, mit einem Becher lauwarmen Tees in beiden Händen, das Schneetreiben.
Die Straßen waren wie leergefegt, nur der eisige Wind pfiff erbarmungslos durch die verwinkelten Gassen und trieb eine Wolke aus feinem, weißem Staub vor sich her und wirbelte ihn zu glitzernden Nebelschwaden auf. Hinaus ging nur, wer keine andere Wahl hatte und selbst der überlegte es sich zweimal, bevor er einen Fuß über seine Schwelle setzte.
Nur vereinzelt kämpfte sich ein Fuhrwerk durch den Sturm, so langsam, dass die Wagenspuren, die es hinterließ, bereits nach ein paar Metern wieder verschwunden waren.
Grauer Dampf stieß aus den Nüstern der Pferde, deren Fell über und über mit winzigen Eiskristallen überzogen war.
Sogar die armen Tiere sehnten sich nach dem warmen, heimatlichen Stall und der Fuhrmann, von dem zwischen weit ins Gesicht gezogenen Schals und Mütze nichts zu sehen war, als ein Stück seines grauen Bartes und seiner kirschroten Nase, fluchte leise vor sich hin.
Welcher Schwachkopf von Wirt bestellte bei einem solchen Hundswetter fünf Fässer Bier?
Er war sich sicher, dass niemand, und wirklich niemand bei diesen frostigen Temperaturen ein kühles Bier einer dampfenden Tasse Schwarztee mit einem ordentlichen Schuss Rum vorziehen würde. Verständnislos schüttelte er den Kopf und man konnte sein dunkles Augenpaar unter der Kappe hervorblitzen sehen. Er konnte ja doch nichts daran ändern und so würde er eben weiter stundenlang die armen Viecher durch den Schnee treiben, wobei er sich selbst jedoch nicht minder leid tat.
Und die Menschen in den Häusern schauten ihm nach und waren froh, selbst in der mehr oder minder warmen Stube sitzen zu können.
Hin und wieder war das Kratzen einer Schaufel zu hören, wenn jemand einen völlig eingeschneiten Hauseingang freiräumte und in manchen Häuserecken, wo der Wind nicht so arg biss, saßen einige zusammengekauerte Gestalten, die in ein paar alte, schmutzige Decken gehüllt waren.
Sie zitterten erbärmlich am ganzen Leib und die buschigen Bärten und Brauen der Männer waren gefroren. Manche von ihnen murmelten leise einige unverständliche Worte vor sich hin, andere blickten stumm auf den Boden, wie in Trance und bei wieder anderen konnte man sich nicht einmal mehr sicher sein, ob sie überhaupt noch am Leben waren, oder ob sie der Kälte schon in ihre frostigen Klauen gefallen waren.
Doch niemand bat sie mit freundlichen Worten ins Haus, niemand fragte, ob sie sich nicht bei einem heißen Grog aufwärmen wollten, bis das Unwetter vorüber war, denn Menschen sind egoistisch und in Notzeiten stets nur auf ihr eigenes Wohl bedacht. Wenn es niemanden mehr gab, dem es schlechter ging als einem selbst, was konnte man dann an seinem Leben noch wertschätzen? Es ist einfacher, andere von einer vergleichbar warmen Wohnstube aus zu bemitleiden, als zu handeln und sich womöglich noch einen Schmarotzer ins Haus zu holen.
So bleiben die Armen eben draußen und die Reicheren vertrieben sich die Zeit damit, sich zu freuen, nicht an ihrer Stelle erfrieren zu müssen.
Das war die unausgesprochene Rollenverteilung und niemand störte sich daran oder hinterfragte sie, denn so war es nun einmal und daran gab es auch nichts zu ändern.
So sah der Winter in der kleinen Stadt aus, erfüllte die Herzen der Menschen mit Kälte und ließ sie zu Eis erstarren.
Nun traf es sich, dass zur selben Zeit gerade ein kleines, fahrendes Theater in der Stadt gastierte; eine Schaustellertruppe, die ihr Lager etwas außerhalb aufgeschlagen hatte.
Etwa zehn kleine Wägen standen dicht aneinandergereiht und ein warmes Licht schien durch die Fenster nach draußen. Doch Menschen sah man nie und die paar wenigen, denen es auffiel, runzelten verwundert die Stirn. Auch hatte niemand die Ankunft der Truppe beobachtet. Sie war plötzlich dagewesen; wie aus dem Nichts waren die Wagons über Nacht aufgetaucht, ebenso wie die dunkelvioletten Aushänge und Flugschriften mit einem imposanten Zelt im Hintergrund. „Große Weihnachtsvorstellung des Dreamporium! Beginn um 20 Uhr, Eintritt frei! Wir freuen uns über Ihr kommen!“, stand in einer mitternachtsblauen Schrift darauf. Der ein oder andere, der es betrachtete, schüttelte den Kopf über eine derart reißerische Ankündigung, nur um sich kurz darauf dabei zu ertappen, wie er erneut verstohlen danach schielte.
So standen die über und über mit bunten Plakaten aller Art behangenen Wägen der Schausteller völlig eingeschneit auf dem Gelände und nichts und niemand regte sich.
Doch schließlich gewann die Neugierde der Städter die Oberhand und als der Schneesturm ein wenig nachgelassen hatte, strömten die Menschen auf das Gelände des Theaters und lugten an den zugezogenen Gardinen vorbei ins Innere. Eine Tasse voll mit einer eigenartig blau dampfenden Flüssigkeit stand mit ihrem Unterteller auf einem alten Holztisch, der filigrane Silberlöffel lag daneben. Ein purpurn schimmerndes Seidentuch diente als Tischdecke und die Regale an den Wänden bogen sich unter der Last Unmengen alter, vergilbter Büchern, Pergamentrollen, eigenartigen Pflanzen und Instrumenten, die noch nie irgendjemand zuvor gesehen hatte. Doch Menschen waren keine zu erspähen. Erstaunt und etwas verunsichert gingen die Bewohner der kleinen Stadt wieder zurück in ihre Häuser und versuchten sich mit aller Kraft davon zu überzeugen, dass das alles sehr befremdlich und merkwürdig sei und man das Theater besser meiden sollte, war doch nur selten etwas Gutes aus derart Eigentümlichem entsprungen. Doch in ihren Herzen regte sich eine verborgene Sehnsucht, ein stilles Verlangen, aus dem Sinn verbannt und eingeschlossen in die tiefsten und entlegensten Winkel des Bewusstseins, das sich nun losgerissen hatte und sie alle mit Unruhe erfüllte. Doch wussten sie nicht, was es war, und Unbekanntes macht den Menschen Angst. Deshalb bemühten sie sich, das Gefühl mit Ignoranz zu ersticken und niemand wagte es, den anderen davon zu erzählen.
Aber etwas, ein kleiner Funke dieser Sehnsucht, hatte sich in die Herzen eingebrannt und als sie nun die Obdachlosen beobachteten, regte sich etwas in ihnen und stimmte sie bei deren Anblick traurig. Doch da der Egoismus der Menschen kaum noch Platz für Mitgefühl ließ, verbannten sie auch dieses wieder und alles, was ihnen an Wärme blieb, war die spärliche Glut im Kamin.
Der Sturm fegte immer noch über die Dächer hinweg, als wollte er die gesamte Stadt zu schimmernden Eis erstarren lassen und auch die Städter waren mürrischer als jemals zuvor.
Auf Heiligabend freuten sich nur die wenigen, die sich zumindest ein akzeptables Mahl und ein warmes Haus leisten konnten. Doch die Meisten erwartete ein kaltes, düsteres und einsames Weihnachtsfest, wie jedes Jahr zuvor. Vormittags würde man in der Kirche „Fröhliche Weihnachten“ heucheln, mittags eine festliche Kohlsuppe kochen und abends vor dem Kamin Weihnachtslieder singen. Ein peinlicher Tag, an dem es galt, anderen die höchsten Freuden vorzuspielen und nur ja nicht zu beklagen, wie schlecht es einem eigentlich ging.
Jedem graute vor diesem Tag und selbst die Kinder wagten es bereits gar nicht mehr, zu fragen, welche Geschenke sie denn bekämen, waren sie doch schon glücklich, wenn sie ein prasselndes Feuer im Kamin hatten. Niemand sprach ihn aus und doch war er allgegenwärtig. In jeder Mauerritze lauerte er, hinter jedem Fensterladen und jeder Tür: Der Hass auf Weihnachten.
Und so verstrichen die Tage, ein jeder so lang und öde wie der vorherige und der nächste. Kein Engel kam auf die Erde herab und verkündete Liebe und Wohlstand, kein Stern wies den Weg zu einer Krippe, in der der Heiland geboren ward und kein Weihnachtswunder geschah, das den Menschen Hoffnung gegeben und sie fröhlicher gestimmt hätte. Und auch die Theatertruppe blieb unauffindbar und keine aufmunternde, heitere Jahrmarktmusik erklang und die Herzen blieben erfroren und leer.
Als nun die Kirchenglocken hell den 24. Dezember einläuteten, war die Stimmung der Bewohner der kleinen Stadt endgültig auf dem Tiefpunkt angelangt. Mit einer Mimik, als wäre kürzlich ein nahestehender Verwandter gestorben, kleidete man sich in sein bestes Sonntagsgewand und quälte sich durch das immer noch andauernde Schneegestöber in die Kirche. Mit einem erzwungenen Lächeln wünschte man sich mehr oder weniger zynisch „Fröhliche Weihnachten“ und verfluchte insgeheim diese lästigen Höflichkeiten, die letztendlich doch niemandem von Nutzen waren. Die heilige Messe wurde gefeiert, die Geburt Christi gelobt und dann schleppte man sich mit den verhallenden Worten des Pfarrers im Ohr „Nun gehet hin in Frieden!“ wieder durch den Sturm, zurück nach Hause.
Dort las der Vater den Kindern eine Weihnachtsgeschichte vor, während die Mutter in der Küche versuchte, aus dem Nichts ein halbwegs ansehnliches Mahl zu zaubern. Und die einsameren Menschen legten sich einfach ins Bett und hofften, dass der Tag schnell vorüber ging.
Doch als am Abend das Zwielicht der Dunkelheit gewichen war, geschah etwas Merkwürdiges. Irgendetwas in ihrem Inneren trieb die Bewohner auf die Straße, jedem kam die Weihnachtsvorstellung des „Dreamporium“ in den Sinn und jeder Verspürte das unerklärliche Verlangen, sie zu sehen, egal wie verächtlich er zunächst die Plakate belächelt hatte. Da war sie wieder, deutlicher und zerreißender als zuvor, diese drängende Sehnsucht und alles, Groß und Klein, Jung und Alt, Bettler und Reiche strömten gleichermaßen dem Theatergelände entgegen. Die gesamte Stadt war in Bewegung und dicht an dicht gedrängt begrüßte man sich mit einem Lächeln, fragte aus Interesse nach dem Befinden und fühlte sich seltsam befreit, so wie schon lange nicht mehr, ganz als ob eine schwere Last von den Schultern genommen worden wäre. Man ging aufrechter und ungezwungen unterhielt man sich - und siehe da! Ein gewaltiges, rundes Zelt war auf der Wiese aufgebaut worden, so als habe es schon immer dort gestanden. Es war aus einem samtigen, violetten Stoff gefertigt und an der spitz zulaufenden Kuppel flatterte eine dünne Fahne im Wind. Über dem Eingang thronte ein eisernes Schild, auf dem in schwarzen, verschlungenen Lettern „Dreamporium“ prangte. Ein warmes Leuchten ging von dem Zelt aus und das Eis in ihren Herzen zersprang wie Porzellan. Auf dem Gesicht jedes einzelnen breitete sich ein Lächeln aus und die Menschen drängten alle ins Innere des Zeltes. Hunderte, Tausende, doch wie durch ein Wunder fand jeder einen Platz und niemand musste stehen oder gar draußen bleiben.
Die Stühle waren in Ringen um eine große Manege aufgebaut und von oben kam ein heller Lichtschein, dessen Quelle niemand ausmachen konnte und der sich plötzlich nur auf die Arena zentrierte. Es wurde schlagartig still und ein Mann in einer schwarzen Uniform mit goldenen Manschetten, Knöpfen und Epauletten, einem weißen Hemd und Zylinder betrat die Manege. Er war jung, um die Dreißig, hatte langes, gewelltes Haar, das sich dunkel um seine Schultern legte und ein schmales Gesicht mit einem Bart über der Oberlippe und von der Unterlippe bis zum Kinn. In der rechten, weiß behandschuhten Hand hielt er einen Gehstock mit silbernem Knauf. Als er zu sprechen begann, strahlte er eine solche Autorität und Charisma aus, dass ihm ein jeder seine volle Aufmerksamkeit schenkte.
„Einen wundervollen guten Abend, meine Damen und Herren!“, rief er mit lauter, klarer Stimme, zog seinen Zylinder und machte eine tiefe Verbeugung. „Zunächst einmal möchte ich Ihnen meinen Dank aussprechen, dass Sie heute so…zahlreich erschienen sind!“ Niemandem fiel das geheimnisvolle Lächeln auf, das seine Lippen umspielte. „Ich hoffe, Sie haben nicht Ihren Weihnachtsabend geopfert, um diese Vorstellung besuchen zu können und falls dem so ist, so hoffe ich noch viel inständiger, dass Sie Ihre Entscheidung nicht bereuen werden! Heute, Weihnachten, ist wahrlich ein besonderer Tag! Ein Tag, gewidmet der Liebe, der Freude und der Vergebung. Ein Tag, an dem kein schlagendes Herz allein in der Düsternis weilen sollte! Heute ist der Tag des Zusammenseins, des Miteinanders! Lehnen Sie sich nun zurück und lassen Sie sich forttragen in eine Welt, in der nichts das ist, was es zu sein scheint und selbst der Schein nur ein Abbild des Widerhalls von Schall, Rauch und Gedanken. Fragen Sie nicht, Zweifeln Sie nicht, lassen Sie Ihrer Fantasie freien Lauf und sehen Sie, wo sie Sie hinträgt! Ich wünsche Ihnen eine im wahrsten Sinne fantastische Reise ins Dreamporium!“Mit dem letzten Satz breitete er die Arme aus und löste sich zur allgemeinen Verwunderung in einer Wolke aus dunkelblauem Rauch auf.
Dann wurde es schlagartig dunkel. Kein Lichtschein drang mehr ins Zelt und eine samtige Schwärze umfing sie alle. Doch mit einem Mal erschien ein leuchtender blauer Schmetterling im Zentrum der Manege. Er flatterte auf und ab und hinterließ überall, wo er flog, eine feine, hellblau glitzernde Spur in der Luft. Munter zog er seine Kreise, als ein schwaches Licht aufleuchtete und immer mehr an Intensität gewann. Die Arena war verschwunden und während die Zuschauer immer noch in völliger Dunkelheit saßen, tauchte in der Mitte des Zeltes eine grüne, saftige Wiese auf, deren Gras in einer sanften Brise wogte. Fremde Blumen in Farben, die noch nie ein Auge gesehen hat und sich kein menschlicher Verstand ersinnen kann, blühten im Schatten von zwei uralten, knorrigen Bäumen mit Blättern von einem solch intensiven Orange, dass man meinte, er stünde lichterloh in Flammen, wenn der Wind durch das weit ausladende Geäst strich. Ein klarer Bach plätscherte zwischen den Bäumen hindurch und schlängelte sich durch das Gras.
Der Schmetterling drehte noch eine letzte Runde, dann begann er auf einmal, sich zu verändern. Er wuchs schnell auf die zehnfache Größe an und seine Flügel wurden zu zwei langen, schlanken Schwingen. Das leuchtende Blau wich einem strahlenden Weiß und statt der Fühler trug er nun einen scharfen Schnabel. Ein tiefschwarzes Augenpaar wie Kohlenstücke blitzte auf, als sich die Möwe in den Himmel schraubte. Die Szenerie veränderte sich und der Vogel segelte nun majestätisch über eine vom Meer umtoste, sturmumtoste Klippe. Das spärliche Grün oben auf dem Felsen wurde von einem peitschenden Wind niedergedrückt und weit darunter donnerten die Wellen gegen den Stein, als wollten sie ihn in einer blinden, rasenden Wut zum Einsturz bringen. Die Möwe ließ sich von einem Windstoß zum nächsten treiben und stieß einen heiseren Schrei aus, der weithin über das Meer gellte.
Die weißen Schaumkronen bäumten sich auf, wie wilde, reiterlose Pferde und die graue Gischt sprühte die Klippe hinauf. Mit einem weiteren durchdringenden Kreischen glitt der Vogel dem wolkenverhangenen Himmel entgegen und die Szenerie folgte ihr.
Immer schneller schoss das Bild in die Höhe, durch helle Lichter und Farben und die Möwe war schon längst nicht mehr zu sehen.
Plötzlich war wieder alles vollkommen still. Dort, wo vor Sekunden noch eine windgepeitschte Klippe gestanden hatte, zogen jetzt gewaltige Planeten ihre endlosen Bahnen um die Sonne. Im Einklang kreisten sie harmonisch um den hellen Stern, dessen Leuchtkraft so abgeschwächt war, dass der Zuschauer nicht geblendet wurde. Zeit spielte auf einmal keine Rolle mehr, nur das Zusammenspiel der unermesslichen Kräfte von Kontinuität und Harmonie war von Bedeutung.
Hin und wieder zog ein Komet mit seinem Schweiß aus reinem Licht durch das Bild und niemand konnte sagen, wie lange er gebannt das kosmische Szenario beobachtet hatte, als alles nebulös verwischte und sich in buntem Rauch auflöste. Doch der materialisierte sich im Bruchteil einer Sekunde wieder und nur für einen Wimpernschlag war ein Würfelbecher zu erkennen, der zwei Würfel auf einen kleinen Tisch rollen ließ, die beide die Zahl Sieben zeigten. Sofort verwischten die Konturen wieder und ein aufgeschlagenes Buch mit einem braunen Ledereinband und rotem Lesezeichen erschien, dessen Seiten wie von einem starken Windstoß umgeblättert wurden. Schnee stob zwischen den einzelnen Blättern heraus und legte sich über die gesamte Szene, die plötzlich einen winterlichen Wald darstellte. Zwischen den schneebedeckten Tannen und Fichten stand eine kleine Bühne aus Holz, über der eine filigrane Violine schwebte. Sie spielte eine Melodie, die so unbeschreiblich schön war, dass sie nicht von Noten hätte aufgezeichnet werden können. Zu abstrakt, unbegreiflich und doch so ergreifend und bewegend waren die Töne und berührten direkt das Herz eines jeden Menschen, der sie hörte, erwärmten es, vergoldeten es.
Das Lied wurde immer durchdringender und melodischer und jedem rollten Tränen der Ergriffenheit über die Wangen. Immer lauter und imposanter spielte die Geige, bis sie in ein Crescendo mündete, dem kein Sinfonieorchester der Welt hätte gerecht werden können und plötzlich blieb nur die Melodie.
Das Bild hatte sich abermals aufgelöst und nur ein silbrig schimmernder Nebel erfüllte den Raum. Die Klänge wurden leiser und aus dem Rauch formten sich Gesichter von Menschen aller Art, die sofort wieder verschwammen, nur um sich gleich darauf erneut zu bilden.
Und jedes von ihnen sprach in einer fremden Sprache zu den Menschen und obwohl sie die Sprache noch nie zuvor gehört hatten, verstand doch ein jeder, ihre Worte.
Einige begannen leise zu weinen, andere lachten herzhaft auf. Jeder erkannte daraus einen anderen Sinn, jedem wurde etwas Unterschiedliches zugewispert und jeder wusste, dass diese Worte nur ihm allein galten. Die Stimmen überlagerten sich und alles mündete in ein unglaubliches Gewirr von Worten, dem niemand mehr zu folgen vermochte.
Dann wurde es auf einen Schlag wieder dunkel und still. Jeder war tief in seine eigenen Gedanken versunken. Nicht über das Wundersame, was ihm gerade widerfahren war, sondern über sich selbst.
Worauf konnte man stolz sein? Hatte man sein Leben verwirkt? Wie kann man andere verurteilen, wenn man sich nicht einmal selbst kennt? Woher weiß man, welcher Weg der eigene ist, wenn man nicht einmal weiß, wer man selbst ist? Staub und Nebel und das Abbild einer Erinnerung – Das ist alles, was wir sind.
Es wurde wieder hell, die Zuschauer kniffen die Augen zusammen und sahen, dass die Manege wieder an ihrem Platz war, als wäre nichts geschehen.
Auch der junge Mann stand wieder in der Mitte und hob seinen gesenkten Kopf.
„Selbst der Schein ist nur ein Abbild des Widerhalls von Schall, Rauch und Gedanken. Ich wünsche Ihnen Fröhliche Weihnachten und leben Sie wohl! Ich glaube kaum, dass wir uns noch einmal treffen. Doch die Welt der Fantasie ist unergründlich und wer weiß, wo sie uns eines Tages hinführt? Leben Sie wohl!“ Und er schritt aus der Arena ohne ein weiteres Wort.
In den Menschen aber war eine Veränderung vorgegangen, die niemand für möglich gehalten hätte. Sie strömten zum Ausgang und zurück in Richtung ihrer Häuser, doch jeder lachte und redete und nicht wenige lagen sich in den Armen, die sich zuvor nicht einmal gekannt hatten. Verabredungen wurden getroffen, Einladungen ausgesprochen und niemand musste die Feiertage allein verbringen. Die einen brachten Feuerholz, die anderen das Weihnachtsessen und wieder andere die Instrumente und schon spielte es keine Rolle mehr, ob man nun arm war, oder reich. Selbst die Bettler wurden mit offenen Armen empfangen, um Gesellschaft und ein Dach über dem Kopf zu haben und nicht wenige durften den ganzen Winter bei einer wohlhabenderen Familie verbringen. Und das machten sie mit unzähligen Dankesbekundungen und einem Engagement im Haushalt wieder gut, das jedes Dienstmädchen überflüssig werden ließ. Und überall feierte man gemeinsam vor einem warmen Kaminfeuer, das fröhlich vor sich hin prasselte und über welchem pfeifend eine große Kanne Tee hing. Selbst der Sturm verwandelte sich in ein laues Lüftchen, das die vereinzelten Schneeflocken munter vor sich herjagte. Es wurde gelacht, getanzt und gesungen und das Weihnachten, das so einsam und trostlos begonnen hatte, wurde tatsächlich zu einem Fest der Liebe, der Hoffnung und des Zusammenseins.
Das Theater aber verschwand noch in der selben Nacht so plötzlich, wie es aufgetaucht war und kehrte auch nie wieder in die Stadt zurück, aber das spielte keine Rolle, denn die Menschen hatten begriffen, dass Weihnachten Gemeinschaft und Miteinander bedeutete und sie schworen sich, dass dies nie wieder in Vergessenheit geraten sollte.


© FairyTale


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