Ich hatte den Weihnachtsurlaub schon im November eingereicht und begann schon vor dem ersten Advent die noch bis zum Weihnachtsfest verbleibenden Tage zu zählen. Das Leben in der Kaserne fiel mir schwer. Die meisten Kameraden waren viel jünger als ich, zwischen zwanzig und fünfundzwanzig. Der Kompaniechef unserer Nachrichtenkompanie, Oberleutnant Wegener, war achtundzwanzig, also immerhin noch neun Jahre jünger als ich. Zum Glück hatte ich keine Probleme mit ihm. Seitdem wir unser gemeinsames Hobby, die Radiobastelei, entdeckt hatten, fragte er mich, den Erfahreneren auf diesem Gebiet, mitunter um Rat. Es schien mir so, als ob er mich schätzte. Ein wenig half mir das, mit den Widrigkeiten des Kasernendaseins fertig zu werden. Er war keiner von den ganz Scharfen, seine Befehle waren durchdacht und daher akzeptabel. Als ich einmal in Gedanken versunken auf dem Kasernenhof an zwei Offizieren einer anderen Kompanie vorbeiging, ohne sie zu grüßen, machten die ein furchtbares Theater. Zuerst mußte ich zurückgehen, dann wieder an ihnen vorbei und `Männchen machen’. Darauf nahmen sie mich fest und mit in ihre Diensträume. Sie informierten meinen Kompaniechef. Als der mich abholte, forderten sie meine Bestrafung. Als wir dann gemeinsam in den Bereich unserer Kompanie zurückgingen, verlor er kein weiteres Wort über den Vorfall. Angesichts des Krieges und unseres bevorstehenden Fronteinsatzes schien ihm die Reaktion der beiden anderen Offiziere wahrscheinlich ebenso unsinnig wie mir. Im Unterschied zu ihnen hatte er schon einen Fronteinsatz hinter sich, war verwundet zurückgekommen und wusste, wie es draußen zuging.

Seitdem ich den Gestellungsbefehl erhalten hatte und zum Nachrichtenbataillon einberufen worden war, hatte sich keine Gelegenheit ergeben, die Kaserne zu verlassen. Im Juni hatten wir geheiratet. Nach kurzer Zeit der Gemeinsamkeit musste ich meine junge Frau, die Eltern und die Freunde verlassen. Vielen anderen ging es wie mir; nur wenige, vor allem die im kriegswichtigen Hüttenwerk beschäftigten Verwandten und Freunde, waren als unabkömmlich eingestuft worden.

Zu Hause gab es viele Probleme. Die Leitung des Geschäfts war für meine Frau eine völlig neue Aufgabe. Anders als die Briefe anderer neuverheirateter Paare enthielten unsere fast täglichen Korrespondenzen detaillierte praktische Fragen und Hinweise, wie das eine oder andere geschäftliche Problem zu lösen sei. Meine Briefe gefielen mir nicht. Sollten sie nicht meine Liebe und Zuneigung ausdrücken? Manchmal fühlte ich mich hilflos, da ich nicht bei der Bewältigung der fast existentiellen Fragen mitwirken konnte. Sicher, es ging um unser Vaterland. Aber das Leben in der Kaserne war doch voll von sinnlosen Tätigkeiten und nutzlos vergeudeter Zeit. Im Juni hatte der Russlandfeldzug begonnen. Das Unternehmen „Barbarossa“ hatte sich in den ersten Wochen als grandioser Erfolg erwiesen. Aber im November sah es schon anders aus. Die Russen hatten Rostow am Don, das schon in deutscher Hand gewesen war, zurückerobert. Nach den erfolgversprechenden Anfängen blieben weitere Erfolge an der Ostfront aus. Darüber wurde in der Kaserne nur hinter vorgehaltener Hand gesprochen. Erfolgsmeldungen dominierten weiter, aber wir hatten mitbekommen, dass der Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Mitte abgelöst worden war. Das war beunruhigend. Der Angriff auf Moskau war ins Stocken geraten. Die Winteroffensive der Russen machte der Wehrmacht schwer zu schaffen. Der Krieg würde weiter andauern und wir mussten damit rechnen, noch vor Beendigung unserer Ausbildung an die Front geschickt zu werden.

Aber nicht nur in Russland herrschte tiefster Winter. Als wir am Morgen des 20. Dezember aus den Fenstern unserer Stuben blickten, waren der Kasernenhof und die umliegenden Gebäude in tiefes Weiß gehüllt. Es blieb nicht viel Zeit, über den Wintereinbruch nachzudenken. Die schrillen Töne der Trillerpfeifen zwangen uns in die Uniformen und hinaus auf den Appellplatz. Draußen bemerkten wir, dass nur wenig mehr als die Hälfte der Kompanie angetreten war. Was war geschehen? Viele Plätze blieben frei. „Aufrücken“, befahl die Stimme des Spießes. Der Bataillonskommandeur erschien. Nach der üblichen Begrüßung teilte er mit, dass der Führer und Reichskanzler Adolf Hitler als Kriegsziel für das kommende Jahr die Besetzung des Kaukasus und der Südgrenze Sowjetrusslands festgelegt habe. In der Nacht wurden schon Teile des Schützenbataillons an die Ostfront verlegt.
„Die Kompanien des Bataillons werden in den nächsten Tagen durch frische Kräfte ersetzt. Ab sofort besteht Ausgangsverbot, der Weihnachtsurlaub wird gestrichen“.

Das traf mich wie ein Donnerschlag. Die Vorfreude auf den Weihnachtsurlaub hatte mir über die letzten acht Wochen des Kasernenlebens hinweggeholfen. Mehrere unserer Freunde würden vom Fronturlaub nach Hause kommen und wir hatten einen gemeinsamen Skiausflug in die Berge geplant. Noch einmal den Krieg und die Sorgen hinter uns lassen. Noch einmal den Frieden der Berge genießen. Vor dem Krieg hatten wir die meisten Wochenenden und Feiertage gemeinsam mit unseren Freunden verbracht, gemeinsam gesungen und musiziert oder Ausflüge in unsere Berge unternommen. Im Sommer wie auch im Winter begeisterten uns die herrlichen alten Buchenwälder des unteren Gebirges und die Fichten und Tannen weiter oben.

Die Stimmung war bedrückt an diesem Dezembertag. Aber wenigstens das ewige und sinnlose Reinigen der nichtbenutzten Waffen entfiel an diesem Tag und wir waren zum Schneeräumen eingesetzt. Es schneite unaufhörlich und auch die nächsten Tage beseitigten wir wieder und wieder den frisch gefallenen Schnee. Dabei blieben wir uns selbst überlassen. Die Vorgesetzten schienen uns vergessen zu haben.

Der Heiligabend kam heran. In normalen Zeiten hätte man sich nichts Schöneres wünschen können als Schnee am Heiligabend, weiße Weihnacht. Im Krieg war alles anders. Vielerorts war schon das Heizmaterial ausgegangen und die Menschen wünschten sich alles andere als einen strengen Winter. Aber was sollte man tun? Jeder von uns hatte Opfer zu bringen, um das Vaterland zu retten.

Während mir diese und ähnliche Gedanken immer wieder durch den Kopf gingen, wurde es Abend, Weihnachtsabend. Mit den verbliebenen Kameraden saß ich am Tisch unserer Stube. Wir spielten Karten. Als der Spieß plötzlich eintrat, sprangen wir auf und ich, als der Stubenälteste, machte Meldung.
„Raustreten!“, fuhr er mich an. „Sofort bei Oberleutnant Wegener melden“, setzte er draußen fort.
Der Schreck war mir tief in die Glieder gefahren. Würde ich jetzt den Marschbefehl an die Ostfront bekommen, ohne noch einmal zu Hause gewesen zu sein? Mich mühsam beherrschend, um meine innere Erregung nicht spüren zu lassen, trat ich, nachdem ich seine Aufforderung vernommen hatte, in das Dienstzimmer des Oberleutnants ein.
„Sie wissen, was los ist“, begann er mit ernster Miene. „Alles, was ich für Sie tun kann, ist eine Versetzung zum 3. Nachrichtenbataillon in Hannover. Sie nehmen dort an einem vierwöchigen Unteroffizierslehrgang teil und müssen dann von dort direkt an die Ostfront“.
„Also ist es nun so weit“, dachte ich.
„Sie melden sich am 26. in Hannover. Bis dahin haben Sie Urlaub“, ergänzte er. „Wegtreten“.

Das war es also. Das Schicksal hatte zugeschlagen. Aber heute und morgen ist nicht übermorgen, das hatte die Kriegslogik mich schon gelehrt. Und allmählich wurde ich zuversichtlicher, konnte ich der ungeliebten Kaserne doch erst einmal den Rücken kehren. Und so verließ ich, so schnell es nur ging, nachdem ich die Marschpapiere erhalten hatte und mein Gepäck fertig war, die Kaserne. Da ich keine Informationen über die Zugverbindungen am Heiligabend nach meinem Heimatort hatte, beschloss ich zunächst, den Weg zu Fuß zurückzulegen, schlug dann aber doch noch den Weg zum Bahnhof ein. Ich hatte es befürchtet. Es gab keinen Zug, der in meine Richtung führe, aber auf dem Nachbargleis stand ein Zug in eine andere Stadt, die meiner Heimatstadt näher war. Rasch entschlossen stieg ich ein und schon fuhr der Zug ab. Während er seinen Weg durch das tiefverschneite Gebirgsvorland nahm, überlegte ich mir, dass mein rascher Entschluss mir zwar den halben Fußmarsch erspart, ich nach Ankunft des Zuges aber doch noch etwa zehn Kilometer zurückzulegen hatte. Das Zugabteil war beinahe leer. Wer am Heiligabend da draußen bei dem nun auch noch einsetzenden Schneesturm nichts zu suchen hatte, der blieb lieber zu Hause. Und so dachte ich an meine liebe Frau und träumte vom warmen Ofen in unserem gemütlichen Zimmer, durch das sicherlich schon ein Geruch von Bratäpfeln, die in der Ofenröhre schmorten, zog. Das Quietschen der Zugbremsen setzte meinen Träumen ein jähes Ende und noch etwas benommen, aber schon in froher, erwartungsvoller Stimmung verließ ich Zug und Bahnhof. Durch die Stadt tobte ein eisiger Schneesturm und fegte den reichlich gefallenen Schnee zu hohen Wehen zusammen. Sie türmten sich vor jedem Gartenzaun und versperrten die Hofpforten. Aber hinter den Fensterscheiben der Häuser, an denen vorbei mein Weg mich führte, bemerkte ich die festlich geschmückten Zimmer und die auf den Weihnachtsbäumen brennenden Kerzen. Mit schwerem Gepäck stieg ich die leicht ansteigende Straße, die mich zu meinem Heimatort führen sollte, hinauf. Auf der Landstraße, außerhalb der Stadt, überholten mich Kolonnen von Militärfahrzeugen, die unbeleuchtet in Richtung Osten fuhren. Immer wieder musste ich in den Chausseegraben springen, um nicht unter die Räder zu kommen. Schließlich entschied ich mich, die Landstraße zu verlassen, und meinen Weg über die links der Straße gelegene Kette von Sandsteinfelsen, die Teufelsmauer, über die ein schmaler Pfad führt, zu nehmen. Aus meinen Kindertagen waren mir die Pfade und Klettersteige über die Teufelsmauer gut bekannt. Zur großen Sorge unserer Mütter zog es uns Jungen immer wieder an diesen Ort. Es sind zwei mütterliche Warnungen, die von meiner Kindheit her in meinem Gedächtnis fest verankert sind: „Geh nicht zum Fluss“ und „Geh nicht zur Teufelsmauer“. Im Laufe der Jahrmillionen hat der vom höchsten Gipfel des Gebirges kommende Fluss seinen Weg durch die enge Schlucht gebahnt. Nur an den engsten Stellen des Tals ist er wirklich tief. Aber diese Stellen hatten es uns Jungen besonders angetan. Hier brachten wir uns, indem wir versuchten, von einem Stein zum anderen zu gelangen, gegenseitig das Schwimmen bei. Vielleicht verdankte die Teufelsmauer ihre besondere Anziehungskraft der Sage. Der Sage nach ist sie Ergebnis einer Wette zwischen dem lieben Gott und dem Teufel. Gott versprach dem Teufel all das Land, das er im Verlaufe einer Nacht, die mit dem ersten Hahnenschrei enden sollte, mit Steinen ummauern konnte, zum Eigentum. Aber der Teufel hatte zu große Pläne und war voller Gier. Es gelang ihm nicht, das von ihm ins Auge gefasste große Gebiet zu ummauern. Beim ersten Hahnenschrei stellte er fest, dass er die Wette verloren hatte. In seiner Wut nahm er einen besonders großen Felsen und warf ihn auf das unvollendete Bauwerk. Die noch nicht fertige Mauer wurde zerstört und die Reste bilden die heutige Teufelsmauer.

Den ersten, aus der übrigen Felsmauer herausragenden Felsen, zu dessen Spitze Leitern führten, links liegen lassend, bahnte ich mir durch tiefen Schnee den Weg zum Kamm. Das war mühsam und ich kam nur sehr langsam voran. Oben ging es dann besser, da der Sturm den felsigen Höhenpfad schon fast schneefrei gefegt hatte. Was war das für eine Nacht? Der Sturm tobte über die Felsen. Man glaubte Klagelaute zu hören, ein Schreien und Ächzen war in der Luft. War da nicht auch ein leises Wimmern zu hören, fast wie das Weinen eines Kindes? Ich versuchte herauszufinden, aus welcher Richtung die Laute zu vernehmen waren. Zur linken Seite des schmalen Pfades bemerkte ich einen Felsspalt. Das Schreien und Jammern schien aus der Tiefe zu kommen. Sollte jemand den Weg verfehlt haben und dann abgestürzt sein? Aber wer sollte schon an diesem Heiligabend bei Kälte und Schneesturm einen solchen Weg gewählt haben? Wer, außer mir? Vorsichtig beugte ich mich über den Felsspalt und bemerkte unten etwas Helles. Nachdem ich einige Meter nach unten geklettert war, vernahm ich auch die Laute deutlicher, ein schwaches klägliches „mäh“ eines Schafes oder einer Ziege. Näherkommend sah ich deutlicher ein Schaf auf dem Grunde des Felsspalts liegen. Es war sehr geschwächt und unternahm nicht den geringsten Versuch aufzustehen. Viele vergebliche Bemühungen, sein steinernes Gefängnis zu verlassen, hatten ihm alle Kraft genommen. Ich konnte es doch nicht hier zurücklassen. Aber zum Aufstieg benötigte ich beide Hände. Schließlich gelang es mir, das Jungschaf mit zwei Gurten auf meinem Rucksack zu befestigen und begann den mühsamen Aufstieg zurück zum Gipfelweg. Auf meinem Rücken und an meinem Hals fühlte ich die lebendige Wärme des geschundenen Schafes. Auf dem Höhenpfad kam ich trotz meiner Last gut voran und erblickte bald die ersten Lichter des Dorfes, das auf halbem Wege zu meiner Heimatstadt lag. Nun hatte ich noch eine tief verschneite Kirschplantage zu überqueren, an deren Ende ich das Haus von Heinz Marten erkannte.

Ich erinnerte mich daran, dass Heinz die Schafe der Kleinbauern der Gemeinde hütete und dachte, dass dies wohl die richtige Adresse für meine Last sein müsse. Heinz war etwa in meinem Alter und der Sohn von meines Vaters Vetter, ein Verwandter also. Als Kinder hatten wir viel Zeit miteinander verbracht, uns später aber aus den Augen verloren. Zu Hause wurde gesagt, er wäre Kommunist geworden. Kommunisten galten als nicht sehr lebenstüchtig und wurden von vielen belächelt. Wir hielten sie für Weltverbesserer und Träumer, aber nicht für gefährlich, wussten aber, dass viele von ihnen nach der Machtergreifung Schwierigkeiten bekamen. Wir wunderten uns, dass er nicht zur Wehrmacht einberufen worden war. Dann erzählte mein Vater, dass Heinz einen Unfall gehabt hätte und dabei zwei Zehen des rechten Beins verloren habe. Seitdem zog er das Bein nach und hatte Probleme beim Gehen. Offenbar glaubte mein Vater nicht so ganz an einen unverschuldeten Unfall.

Ich blickte durch das Fenster ins Innere des erleuchteten Zimmers und sah einen Weihnachtsbaum, an dem die Lichter brannten. Heinz saß auf einem Sessel neben dem Baum. Ich klopfte an die Scheibe und wartete an der Tür bis er öffnete.
„Ein frohes Weihnachtsfest“, wünschte ich. Er erkannte mich sofort und war erstaunt mich zu sehen. Gleichzeitig bemerkte er die Last auf meinem Rücken und half mir mit dem Rucksack. Wir lagerten das Schaf in dem kleinen Vorraum zu seiner Wohnstube. Es war zu schwach, um sich auf den Beinen halten zu können. Ich erzählte ihm, wo ich es gefunden hatte und er berichtete, dass er seine Herde noch bis zu dem Tage, an dem der Schneefall eingesetzt hatte, am Fuße der Teufelsmauer hatte weiden lassen. Am Abend im Stall hatte er dann das Fehlen des Schafs bemerkt und es am darauffolgenden Tag vergeblich gesucht. Nachdem wir das kranke Tier auf frisch aufgeschüttetem Stroh im Stall neben dem Haus gebettet hatten, bat er mich ins Zimmer. Wenn es mich auch nach Hause zog, so nahm ich seine Einladung doch an, beschloss aber, nur für einen Augenblick zu bleiben. Wir nahmen beide am Tisch vor dem geschmückten und erleuchteten Christbaum Platz, er bot mir eine Tasse des in der auf dem Tisch stehenden Kanne dampfenden und duftenden Kaffees an.
„Vielen Dank, dass du mir das Tier gebracht hast, hoffentlich kommt es durch“. Mir erschien das als Dank etwas nüchtern und ich erwiderte, dass ich ja eigentlich schnell nach Hause wollte, der Urlaub kurz sei, dass ich ohnehin bald an die Front müsse und die Rettung des Schafes meine Zeit schon über Gebühr in Anspruch genommen hätte. Meinen bevorstehenden Fronteinsatz erwähnend, konnte ich mir einen verstohlenen Blick auf sein krankes Bein nicht verkneifen.
„Welcher ist unter euch, so er ein Schaf hat, das ihm am Sabbat in eine Grube fällt, der es nicht ergreife und aufhebe?“ zitierte er. Ich fühlte mich etwas beschämt, war aber zugleich erstaunt, wie bibelfest er war. Dann fiel mir wieder ein, dass wir im Konfirmandenunterricht auf der gleichen Bank gesessen hatten. Ich erinnerte mich daran, dass er im Unterricht immer sehr gut Bescheid gewusst hatte und dass es oft lange Diskussionen zwischen dem Pfarrer und ihm darüber gab, wie das eine oder andere Bibelwort zu verstehen sei. Uns andere interessierte das nur wenig, wir waren aber immer froh, wenn der Herr Pastor sich nur mit ihm beschäftigte und uns anderen in Ruhe ließ.
„Es tut mir leid“, sagte er, „dass du ins Feld musst“. „Ich hoffe, dass du den Krieg gut überstehst. Aber glaube mir, er wird nicht ewig dauern. An der Sowjetunion wird sich Hitler die Zähne ausbeißen.“
‚Russenpropaganda’, dachte ich. Es stimmt also, was die Leute über Heinz sagen. Meinen Seitenblick auf sein krankes Bein schien er nicht zu bemerken.
``Wenn der Krieg nur endlich vorbei wäre’’, sagte ich.
``Wenn das Volk sich nicht wie die Schafe zur Schlachtbank führen ließe, sondern endlich nein zum Krieg und zu Hitler sagen würde, wäre er längst vorbei.’’
``Wie denn, du hast gut reden’’, entgegnete ich, wieder mit Blick auf sein Bein. Dann wechselten wir noch einige belanglose Worte, bevor ich mich schnell verabschiedete.

Nachdem ich das Dorf durchquert hatte, kämpfte ich mich, die immer noch von Militärfahrzeugen befahrene Strasse meidend, durch tiefen Schnee auf die links der Strasse gelegene Hügelkette. Der Sturm hatte sich gelegt und es hatte aufgehört zu schneien. Friedlich erschien die Vorgebirgslandschaftland im fahlen Licht des Schnees. Auf der letzten Hügelkuppe vor der Stadt angelangt, erblickte ich die im Tal liegende Heimatstadt vor mir. Ich blieb stehen und sah auf die tief verschneiten Häuser unter mir. Der schlanke, spitze Kirchturm ragte aus den ringsum liegenden weißen Hausdächern hervor. Es erschien mir so, als ob ich von sehr weit gekommen sei und nach langer Wanderung endlich wieder zu Hause angelangt sei. In der Ferne konnte ich den in Dunkel gehüllten Einschnitt des Tals erahnen, auf den Bergen rechts und links darüber die Lichter der Hotels. Da begannen die Kirchenglocken die Mitternachtsmette einzuläuten. Alles wirkte friedlich. Kaum vorstellbar, dass wir schon im vierten Kriegsjahr lebten und dass ich schon sehr bald ins Feld musste. Vielleicht würde ich hier zum letzten Mal stehen. Ich dachte an Heinz Marten und was er gesagt hatte. Er wusste viel, hatte als Schafhirte viel Zeit zum Lesen und Nachdenken. Unter denen, die jetzt in der Kirche saßen, um den Heiligen Abend zu feiern war kaum jemand, der nicht auch schon die Schicksalsnachricht vom Tod des Vaters, Bruders, Sohnes oder eines anderen Verwandten erhalten hätte. Unter mir erblickte ich die Schornsteine und Werkhallen des Hüttenwerkes. Plötzlich färbte sich der Himmel schwach rot. Das war ein gewohnter, aber lange Zeit vermisster Anblick, der abendliche Abstich der Siemens-Martin-Öfen. Der hier produzierte Stahl wurde gebraucht. In den daneben liegenden Werkhallen wurde er zu Blechen gewalzt, aus denen bei Tag und bei Nacht Stahlhelme gestanzt wurden. Beklommenen Herzens setzte ich meinen Weg fort, hinunter in die Stadt. Ich war der einzige, der durch die stille, tief verschneite Strasse ging. Ich vermutete hinter den Fensterscheiben die Weihnachtsbäume im Kerzenlicht erstrahlen, konnte aber nichts davon erblicken, da die Fenster verdunkelt waren. Vor unserer Kirche klopfte ich mir den Schnee vom Uniformmantel und von den Schuhen. Ich hörte die Orgel spielen. Vorsichtig öffnete ich die Kirchentür. Vor dem Altar, gegenüber der Kanzel, stand der geschmückte Weihnachtsbaum im warmen Licht der brennenden Kerzen. Die Gemeinde hatte sich von den Plätzen erhoben. ``Stille Nacht, Heilige Nacht’’, sangen sie gemeinsam. Sacht schloss ich die Kirchentür und stimmte in den Gesang ein.


© Klaus Denecke


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Beschreibung des Autors zu "Kriegsweihnacht"

Diese Geschichte ist aus Aufzeichnungen und Briefen meines im April 1945 gefallenen Vaters entstanden.

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Kommentare zu "Kriegsweihnacht"

Re: Kriegsweihnacht

Autor: Uwe   Datum: 16.12.2014 17:35 Uhr

Kommentar: Echt beeindruckend, anrührend, lesenswert. Einfach gut.
LG Uwe

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