Es war ein warmer Frühlingstag. Die Mittagssonne kämpfte so gut es ging um ihren Zenit,
die Vögel zwitscherten der Wärme entgegen. Momente voller Stille schafften es immer
wieder, sich in die laute Welt des Verkehrs einzuschleichen. Viele Menschen waren auf der
Straße. Die meisten von ihnen hasteten, die Pause neigte sich bei vielen dem Ende zu.
Schnell mussten sie wieder zur Arbeit. Oft war sie ohnehin nicht lang genug. Keiner von
ihnen hatte Zeit. Auf der Bank am Parkrand saß ein alter Mann. Die meisten liefen an ihm
vorbei, kaum jemand beachtete ihn. Seine Kleidung ließ keinen Reichtum vermerken.
Manchmal betrachtete ein Passant ihn argwöhnisch. Mal mitleidig, mal musterte man ihn
einfach so, ohne großes Interesse. Die, die ihren Blick etwas länger auf dem alten Mann
ruhen ließen, bemerkten ein Radio neben ihm auf der Bank. Die Ich-habe-keine-Zeit-
Menschen nahmen es so an. Die Erfahrung hatte sie gelehrt, die Dinge für
selbstverständlich zu nehmen. Es kam immer etwas, was noch außergewöhnlicher war,
noch merkwürdiger, noch sehenswerter. Die Passanten also, die noch nicht zu müde des
Tages waren, das Radio zu betrachten, wandten den Blick müde ab. Aber auch der alte
Mann betrachtete das Treiben, was vor ihm seinen Lauf nahm. Seine Augen wanderten
ebenfalls umher, rastlos, aber ruhig. Er hatte gelernt, die Menschen einfach so
anzunehmen, wie sie kamen. Für ihn waren es nur graue Gestalten, die sich gegenseitig
schneller auszutauschen schienen, als er es verstand. Es kam immer jemand, der noch
außergewöhnlicher war, noch merkwürdiger, noch sehenswerter. Aber er selber wusste, er
war zu müde, um ihnen Gesichter zu geben. Ihnen, den Wanderern, wie er sie gerne
nannte. Auch die Sonne wanderte, sie wollte in den Westen. Sie erreichte einen Punkt am
Himmel, der mit der Welt für den alten Mann im Einklang stand. Dieser eine Punkt, wenn
sie noch warm genug schien, die Menschen aber weniger wurden. Dieser eine Punkt, wenn
die Stille kurz lauter war als das Hupen und Brummen der Autos. Dieser eine Punkt, an dem
er vor vielen Jahren mit ihr an genau der gleichen Stelle saß, mit genau dem gleichen
Radio. Sie hatten es an diesem Tag gekauft. In Gedanken versunken versuchte der alte
Mann sich an diese Zeit zu erinnern. Haben die Vögel auch damals schon Wärme besungen?
War der Verkehr schon immer so laut gewesen? Was war mit den Wanderern? Alles, was er
wusste, war dass er damals nicht müde war. Denn da war sie. Mit einem kleinen Ächzen
erhob er sich. Er wendete sich dem Radio zu, drückte auf einen Knopf und eine leise Musik
ertönte. Musik, die nicht in dieses Jahrhundert gehörte. So wie er. Als er sich umdrehte,
sah er vereinzelte Menschen an ihm vorbeilaufen, die meisten mit einem irritierten Blick in
seine Richtung. Das erste Mal fing der alte Mann an zu lächeln. Genauso hatte er sie
angeschaut, als ihre Hand vor vielen Jahren auf den Knopf drückte, hier, am Parkrand. Also
würde er das gleiche machen, was er damals tat. Der alte Mann fing an sich im Kreis zu
drehen. Seine Hände umfassten die Luft dort, wo sie hingehörte. Es war, als würde er ihre
so vertrauten Rundungen spüren. Und so tanzte er, die Erinnerung an sie in seinen Händen.
Mit keinem Blick beachtete er die Menschen, die stockten, als sie ihn tanzen sahen. Er
bemerkte nicht, dass sie stehenblieben, um ihm beim Erwachen zuzusehen, für dieses eine
Lied. Er bemerkte nicht, dass die Menschen bald wieder anfingen, zu wandern. Sie
wanderten nach Hause. Wo sie abends im Bett lagen, wach, um ihren Liebsten die
Geschichte des Mannes zu erzählen, der tanzte.


© hatschitag


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