Tanz Maria tanz…
Immer bei meinen Auftritten stand meine Mutter inmitten des Publikums und ich hörte sie laut rufen: „Tanz Maria tanz!“. In den Tänzen gab ich mein Bestes.

Begonnen hatte alles, als ich fünf Jahre jung war. Unsere Nachbarin prahlte immer damit, wie gut ihre Tochter im Ballett sei. Dies schmeckte meiner Mutter gar nicht. Denn Saskia, die Tochter unserer Nachbarn, wurde überall gelobhudelt, wo sie nur auftauchte. Selbst ihre Eltern standen so im Mittelpunkt, dass man meinen konnte, sie würden tanzen.

Ich hörte einen Abend, wie meine Eltern sich besprachen und meine Mutter sagte, dass sie mich am nächsten Tag mal zum Ballett fahren würde.

Wir kamen an dieser Ballettschule an. Irgendwie herrschte dort nur eine eisige Kälte. Die Ballettlehrerin legte Wert darauf, dass die Eltern nicht beim Unterricht stören sollten.
Meine Mutter hatte mich am Vormittag komplett neu mit Ballettsachen eingekleidet. Ich sah aus, als wäre ich schon ewig dabei.

Die Frau, die ihr Haar streng hochgesteckt hatte, kam auf uns zu: „Ich bin Katharina die Ballettlehrerin“, sie streckte meiner Mutter die Hand hin. Katharina war älter als meine Mutter und wirkte sehr streng. Doch scheinbar täuschte ich mich. Ich sah, wie die Mädchen zu tuscheln begonnen hatten. Katharina lächelte meine Mutter an und sagte zu ihr, dass sie mich nach anderthalb Stunden wieder hier abholen könne. Der Unterricht machte mir Spaß. Die Mädchen lachten nicht sie folgten nur den Anweisungen, die Katharina ihnen gab. Ich musste andere Übungen machen. Ich stand am Balken und dehnte mich. Es schmerzte. Katharina sah mein verzerrtes Gesicht: „Maria die erste Zeit wird es wehtun. Aber es wird auch nachlassen.“ Sie klopfte leicht mit dem Rohrstock gegen meinen Rücken: „Bitte gewöhne dir von Anfang an die Haltung an!“. Mein erster Unterricht war sehr anstrengend. In der Umkleide schwiegen die Mädchen, sie wirkten auch nicht glücklich. Als meine Mutter mich abholte, fragte sie mich, ob es schön war. Ich nickte nur. Katharina berichtete meiner Mutter, dass in mir Potenzial stecken würde. Ab da witterte meine Mutter Ruhm und Erfolg.
Die folgenden Wochen und Monate wurden für mich eine Qual. Spielen mit den anderen Kindern konnte ich nicht mehr. Denn dafür war keine Zeit mehr. Ich bekam eine Privatlehrerin für den Ballettunterricht. Das Einzige, was ich zuhause zu hören bekam: „Du musst üben üben üben …!“
Katharina entdeckte bei mir einen raschen Fortschritt. Es dauerte nicht lange, dann fiel mein Name in jedem Unterricht der Ballettschule, man solle sich an mir ein Beispiel nehmen. Meine Geburtstage fielen ins Wasser; ich musste üben, üben…
Zu den Feiertagen sowie Geburtstagen oder Weihnachten bekam ich immer wieder erneut Sachen für das Ballett. Wie sagte meine Mutter immer so schön: „Maria du wächst so schnell“.
Nach und nach merkte ich, dass am Abend die Schmerzen in meinem Körper immer größer wurden. Meine Mutter gab mir dagegen Novalgintropfen. Jeden Tag nahm ich sie mittlerweile. Ich konnte mir ja keine Schmerzen erlauben. Zu jeder Veranstaltung meldete mich meine Mutter an. Die Pokale, Urkunden und Auszeichnungen begann sie, im Wohnzimmer zu sammeln. Es wurden immer mehr und immer mehr. Meine Schmerzen aber auch. Wie oft hörte ich: „Maria, stell dich nicht so an. Nimm deine Tropfen!“ Ich begann zu schweigen. So, wie die Mädchen es in dem Unterricht taten. Lachen konnte ich vor Schmerzen nicht mehr.
Allerdings baute es mich auf, wenn wir irgendwo hin kamen und die Leute meinen Kopf tätschelten, weil ich so gut war.
Meine Mutter war sichtbar stolz auf mich. Ich hörte immer öfter von ihr: „Wir bringen das Kind groß raus!“.
Die Tage wurden immer länger für mich. Die Stunden, die ich üben musste, ebenfalls.
Svetlana, meine Privatlehrerin war sehr streng. Hier und da schlug sie mir auf den Rücken, damit ich Haltung annahm. Oftmals hatte ich das Gefühl, als bräche mein Kreuz durch.
Meine Mutter achtete darauf, was ich zu essen bekam. Süßigkeiten, Kuchen oder Chips waren bei mir gestrichen. Ich musste auf meine Figur achten. Meine Hausaufgaben schaffte ich nicht mehr. In der Schule gab es nach und nach Ärger. Meine Mutter wurde zu diversen Gesprächen in die Schule gebeten. Sie stritt sich mit den Lehrern und sagte: „Unsere Karriere steht im Vordergrund!“
Unsere?
Jonas, mein Bruder, bekam von meiner Mutter auferlegt, dass er meine Hausaufgaben mit erledigen solle. Er fing an, mich zu verachten. Nicht nur der körperliche Schmerz, nein, nun litt noch meine Seele. Die Kinder mieden mich. Ich wurde von einer Gesellschaft in die Andere gezerrt. Meine Mutter genoss es, im Mittelpunkt zu stehen und zu prahlen, wie gut ich sei.
Ich durfte meinen dreizehnten Geburtstag feiern. Meine Mutter ließ extra einen Diätkuchen für mich machen. Auf dem Kuchen war eine Figur. Ein Mädchen, was tanzte. Die Kerzen auf dem Kuchen brannten. Ich saß einen Moment lang davor und wollte sie nicht ausblasen. Ich schaute, wie diese Tänzerin in den Flammen stand. Eine Träne lief mir über das Gesicht. In dem Moment kippte die Figur.

Die Tropfen gegen die Schmerzen halfen mir nicht mehr. Svetlana gab mir ein stärkeres Mittel. Geschlagen hat sie mich auch des Öfteren. Immer, wenn ich dies meiner Mutter berichtet hatte, sagte sie zu mir: „Dann wirst du dies verdient haben! Streng dich an, dann passiert es nicht!“. Mehr machte meine Mutter nicht. Mein Magen rebellierte immer öfter. Wenn ich gegessen hatte, machte ich mir Vorwürfe, dass ich zunehmen könnte. Obwohl ich die kleinste Größe trug, sagte meine Mutter öfter zu mir, ich solle aufpassen, dass ich nicht zu fett würde. Ich fing an, das Essen auszubrechen. Es schmeckte mir auch nicht mehr. Meine Arbeiten in der Schule schrieb ich mit Bravour. Ich brauchte nicht allzu viel tun. Es flog mir fast zu. Jonas kümmerte sich weiter um meine Hausaufgaben. Er beschimpfte mich oft und sagte: „Ich wünschte, du wärst nie geboren worden!“.
Wegen meiner vielen Stunden, die ich mit dem Üben verbrachte, sah ich meine Familie kaum noch.
Meine Haltung, außerhalb des Unterrichtes, war die einer Achtzigjährigen.
Ich lag in meinem Bett und weinte. Ich weinte wegen der Schmerzen, die mich nicht schlafen ließen.

Immer mehr dieser Mittel gegen diesen Schmerz wurde mir von Svetlana verabreicht. In der Schule hörte ich eines Tages die Mädchen sprechen, als sie sich über die „Weiblichkeit“ unterhielten. Sie zeigten auf mich, kicherten und sagten: „Die ist doch viel zu dünn! Die hat so was nicht“. Eine Andere lachte und sagte: „ Die hat doch noch nicht mal ihre Periode! Sie kotzt doch das Essen wieder aus!“.
Ich wollte nicht mehr zur Schule. Ich fühlte mich krank. Meine Eltern sorgten dafür, dass ich auf eine Privatschule kam. Es kam der Tag, für den wir wochenlang eine Performance einstudiert hatten. Unser Auftritt war dieses Mal in der Stadthalle. Meine Schmerzen waren größer als je zuvor. Der Stolz und Ruhm meiner Mutter wuchs mit meinem Schmerz.

An diesem Tag bekam ich von Svetlana ein Mittel, nachdem ich mich das erste Mal viel besser fühlte.
Die Musik begann. Meine Mutter war aus dem Publikum zu hören: „Tanz Maria tanz!“. Das tat ich. Nach wenigen Minuten brach ich zusammen. Ich spürte meine Beine nicht mehr.
Man trug mich von der Bühne, rief den Notarzt und schaffte mich irgendwann in ein Krankenhaus.
Ich hatte keine Schmerzen mehr. Die Diagnosen der Ärzte waren, dass ich nie wieder würde laufen können.
Mir konnte niemand mehr helfen. Jegliche Operationen, jegliche Versuche waren gescheitert.

Ich war frei. Das war der Ruhm meiner Mutter. Ich hörte nie wieder dieses „Tanz Maria tanz“.
Meine Mutter stand vor mir im Krankenhaus und begann zu weinen: „Mein Gott, was habe ich dir nur angetan?“ Ich nahm sie in den Arm und fragte: „Darf ich ein Stück von der Mokkatorte essen, die ich früher als Kind so möchte?“. Meine Mutter nickte.

©Marie Claire Chargallet


© Marie Claire Chargallet


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Beschreibung des Autors zu "Tanz Maria tanz…"

... was wäre wenn ...
Die Druckgesellschaft... DU musst !!!
An "Leistung" gemessen werden ...
Anerkennung...

Druck...

Jede Minute die wir im Leben haben, ist ein "Geschenk"
Kinder lieben "bedingungslos"...

Könnte eine Mutter ihr Kind, was sie grade selbst getötet hat *sofort wieder im Leben haben, würde es sie TROTZDEM in den Arm nehmen und die Mutter lieben...

Lasst die Kinder KINDER sein...

Und nicht mit in den Druck ziehen, der einem "vorgelebt" wird..

Was die Kinder im Gegensatz zu den meisten Erwachsenen haben: Liebe, Glück, Freude.. *IN SICH !!!

Bis es ihnen genommen wird: Komm jetzt ! Beeil dich!! Mach jetzt!!! Du MUSS besser sein als die ANDEREN !!!

.. ♥ Das Leben ist aber was ganz anderes... Es ist wundervoll...
Gewusst WIE ♥

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