Jeden Sonntag saßen die drei in der zweiten Reihe auf der rechten Seite unserer Kirche. In der Mitte die Mutter, rechts und links die beiden Töchter. Oft kamen sie erst beim letzten Glockenschlag, aber ihr Platz wurde von den übrigen Gemeindegliedern respektvoll freigehalten. Sie sangen jedes Lied kräftig mit und waren voller Andacht bei den Lesungen und Predigten. Einmal fragte ich die Mutter am Ende des Gottesdienstes: "Leben Sie mit Ihren Töchtern alleine oder gibt es da auch noch einen Mann in der Familie?" Sie antwortete höflich, aber ein wenig verlegen und sogar etwas nervös: "Doch, mein Mann ist zu Hause. Wir müssen auch schnell heim; denn er erwartet, dass ich um 12.00 Uhr sonntags das Essen auf dem Tisch habe. Das ist nicht immer leicht, zumal er uns spottend ausschimpft, wir müssten doch nicht immer in die Kirche rennen, das brächte so wie so nichts. Dann ist er ganz wütend. Aber wir brauchen den Gottesdienst." Dann war sie auch schon fort und eilte mit den beiden Töchtern über die Straße. Ich machte mir so meine Gedanken: "Da gibt es Schwierigkeiten wegen des Gottesdienstes, an dem die drei Frauen teilnehmen möchten. Wenn doch der Mann mal erscheinen würde. Ich würde gerne mit ihm reden." Im Laufe der Zeit legte ich mir mehr Worte zurecht, die ich dem Mann sagen würde, wenn er doch mal die Gelegenheit wahrnehmen würde, mit seinen Angehörigen in die Kirche zu kommen. Der Sonntag sollte sich wirklich ereignen. Es war am Sonntag Kantate, an dem auch die Kantorei und der Kinderchor unserer Gemeinde, den Gottesdienst mit gestalten sollten. Wie erstaunt war ich, als ich einen Mann bei der mir bekannten Frau und den beiden Töchtern sah. Heute würde ich ihn ansprechen können, heute würde ich sicher das richtige Wort finden. Ich betete im Stillen: "Gott gib mir heute bitte in besonderer Weise Deinen Heiligen Geist, damit ich in Deinem Auftrag dem Mann etwas sagen darf, das ihn überzeugt und weiterhin nicht mehr so abweisend sein lässt gegenüber der Kirche." Der Gottesdienst verlief wir vorbereitet: Die Chöre sangen, die Orgel begleitete die Gemeinde, einige Presbyter lasen Texte und die Konfirmanden teilten das Abendmahl unter die Gemeindeglieder aus. Bei meiner Predigt war ich besonders konzentriert und schaute den Mann immer wieder an. Der schaute jedoch kaum einmal zu mir auf und war offenbar - so dachte ich mir wenigstens - in einem tiefen Nachdenken versunken. Vermutlich hatte eines meiner Worte ihn schon getroffen. Aber an welcher Stelle gab es ihm den heilsamen Stich ins Herz und ins Gewissen? Ich hätte es so gerne gewusst. - Dann war der Gottesdienst zuende. An der Türe habe ich alle Mitwirkenden und Gemeindeglieder verabschiedet. Ich war schon ganz aufgeregt, den Mann sprechen zu können. Doch der Mann kam nicht. Hatte er einen anderen Ausgang benutzt? Das war wohl nicht möglich. So gut kannte er sich nicht aus in unserer Kirche. Ich ging also in die Kirche zurück und entdeckte den Mann noch in der Kirchenbank. Es war also doch etwas geschehen. Ich fragte ihn sofort: "Na, hat es Ihnen gefallen?" - "Es war wunderbar, Herr Pastor. Jetzt weiß ich, warum meine Frau und meine Töchter Sonntag für Sonntag in die Kirche gehen. Sie brauchen das. Und ich glaube, ich komme auch öfter mit." Ein wenig verlegen fragte ich: "An welcher Stelle meiner Predigt, wurden Sie denn so ergriffen?" - "Ach, Herr Pastor, Ihre Predigt habe ich überhaupt nicht verstanden. Kein Wort. Aber der Gesang, die Lieder der Chöre! Es war wunderschön! Sie müssen schon entschuldigen, Herr Pastor, dass ich auf nichts anderes achten konnte." Da habe ich gelernt, mich selber und meinen Dienst nicht für allein wichtig zu halten.


© Friedel Schmidt


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Beschreibung des Autors zu "Singen - Sprache der Seele"

Ein Beitrag, bescheidener zu werden und sich selbst und seinen eigenen Dienst nicht für allein wichtig zu halten.

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