"Sagen Sie, Fräulein, ist das nicht traurig, daß dieses zehnjährige Kind schon eine Prothese tragen muß?" erklärte mißmutig die Frau der Optikerin in einem Brillengeschäft hier in Idar. Neben ihr stand die Tochter mit roten Schleifen in ihren Zöpfen und presste die Faust gegen ihren Mund, um das Weinen unterdrücken zu können. Die freundliche Optikerin fragte erstaunt: "Was sagten Sie da? Die Kleine soll eine Prothese bekommen?" - "Sicher, junge Frau," meinte die Mutter richtig erbost, "was ist eine Brille denn anderes als eine Prothese!" - "Da täuschen Sie sich aber gewaltig. Die Brille soll ein Schmuckstück sein. Unsere Brillen sind geschmackvoll gestaltet. Deshalb haben wir ja eine Auswahl von einigen Hundert Modellen." - Die Frau gibt sich mit dieser Auskunft nicht zufrieden. Mit Nachdruck und mit heftiger Stimme sagt sie: "Wenn meine Tochter keinen Sehfehler hätte, dann brauchte sie ja wohl auch keine Brille!" - Die Verkäuferin blieb jedoch ruhig und versuchte der Frau mit einem leichten Lächeln klar zu machen: "Natürlich ist die Brille eine Sehhilfe. Aber ist es nicht gut, wenn wir die Dinge unserer Welt klarer sehen?"
Während ich dem folgenden Gespräch zwischen der Optikerin und der Mutter des noch immer sehr schweigsamen Kindes kaum noch Beachtung schenkte, ließ mich der letzte Satz in seiner übertragenen Bedeutung nicht los. Ist es nicht gut, wenn wir die Dinge unserer Welt klarer sehen? Es ist wahr: Wir brauchen Brillen, um das Leben und unser Verhältnis zu den Dingen dieser Welt deutlicher zu sehen. Wer die Brille der "Hochachtung" aufsetzt, wird nicht gleichgültig an seinem Gegenüber und an den Menschen in seiner Nähe vorübergehen. Wer die Brille der "Liebe" aufsetzt, kann nicht mehr egoistisch denken und handeln. Wer die Brille der "Gottesfurcht" aufsetzt, weiß den Wert der Schöpfung bis in die kleinsten Zusammenhänge hinein ganz anders einzuschätzen als der Mensch, der keinerlei Beziehung zu dieser Welt als einem uns anvertrauten Gut des Schöpfergottes hat. Wer die Brille der "Harmonie" aufsetzt, freut sich an den Ereignissen des Friedens im Kleinen wie im Großen.
Es wäre doch gut, wenn wir uns eine Sammlung von Brillen anschaffen würden, um im geeigneten Augenblick immer die richtige Brille aufsetzen zu können. Das ganze Miteinander-Leben wäre kostbarer und erfreulicher, wenn wir die Brillen der "Rücksichtnahme", des "Verzichts", der "Geduld", der "Nachsicht", des "Respekts", der "Großzügigkeit", des "Vertrauens" und der "Zuneigung" besitzen und regelmäßig tragen würden.
Die Frau in dem Brillengeschäft ließ sich durch die freundliche Verkäuferin bald überzeugen, nahm ihr Kind bei der Hand und meinte: "Komm, sei mutig. Es ist ja wirklich besser, wenn Du in der Schule nicht immer in der ersten Reihe sitzen musst, weil Du sonst nicht erkennen kannst, was die Lehrerin an die Tafel schreibt. Du hast ja gehört, daß eine Brille keine Prothese ist, wie ich immer geglaubt habe. Und wenn ich es richtig überlege, dann steht der Caroline, Deiner Freundin, die Brille ja wirklich sehr gut. Du bist keine Brillenschlage, wie Deine Klassenkameraden immer sagen. Wir kaufen uns jetzt eine ganz wunderschöne Brille für Dich. Da wird dich bestimmt sehr froh machen!"
So hatte die Mutter nun sich selber die Brille der "Einsicht" aufgesetzt und daraufhin ihre Meinung geändert.


© Friedel Schmidt


2 Lesern gefällt dieser Text.




Beschreibung des Autors zu "Die Brille der Einsicht"

Alltagserfahrugen können manchmal zu tieferen Einsichten führen. So erhalten Szenen, die einem im Leben begegnen, tiefere Bedeutung, wenn man die Pointen auf weiterführende Gedanken überträgt.

Diesen Text als PDF downloaden




Kommentare zu "Die Brille der Einsicht"

Es sind noch keine Kommentare vorhanden

Kommentar schreiben zu "Die Brille der Einsicht"

Möchten Sie dem Autor einen Kommentar hinterlassen? Dann Loggen Sie sich ein oder Registrieren Sie sich in unserem Netzwerk.