Miyu wusste nicht, was sie geweckt hatte. Im Schlafzimmer war es still. Das kaltfahle Neonlicht Tokios zwängte sich durch den Spalt der Vorhänge. Noch vor dem Rand des Bettes fiel es ob dieser Anstrengung erschöpft auf den Boden. Miyu wandte den Kopf und sah zu Takumi hinüber. Ihr Mann lag auf dem Rücken und hielt die Bettdecke bis zum Hals emporgezogen, dass er aussah wie ein alter, erschöpfter Samurai. Aber er atmete regelmäßig.

Miyu drehte den Kopf zur anderen Seite und sah auf die Nachttischuhr. Gerade in dem Augenblick, als die Ziffern auf drei Uhr umsprangen. Dann hörte sie das Geräusch und erinnerte sich, dass sie davon erwacht war. Es kam aus dem Wohnzimmer und sie erkannte es wieder. So viele Tage wurde sie von diesem Kratzen schon wach.

Miyu legte den Kopf auf das Kissen zurück und starrte zur Decke empor. Sie blieb eine Weile still liegen und lauschte, ob sie das Geräusch erneut vernehmen würde. Noch einmal und ich stehe auf, dachte sie. Aber sie hatte Angst davor.

Takumi grummelte leise im Schlaf. Doch nur einen Augenblick, dann atmete er wieder gleichmäßig. Wahrscheinlich hatte er etwas geträumt und Miyu hoffte, dass es ein schöner Traum sein mochte. Schöner, als das Geräusch, welches sie geweckt hatte und nicht wiederkam.

Das hat nichts zu sagen, dachte Miyu. Manchmal dauerte es eine halbe Stunde und manchmal eben weniger. Irgendwann würde sie es wieder hören und bis dahin lauschte sie.

Jedes einzelne Kratzen machte sie traurig. Aber sie wusste nicht, was sie dagegen tun konnte. Es hatte auch keinen Sinn, Takumi zu wecken. Auch er wusste es nicht. Vielleicht mussten sie einfach nur da sein und dieser Gedanke tröstete Miyu ein wenig.

Während sie in die Dunkelheit starrte überlegte sie, wann es angefangen hatte. Waren es neun Monate oder vielleicht doch schon ein Jahr? Damals wäre es vielleicht noch einfach gewesen, etwas dagegen zu tun. Aber ihr Mann und sie hatten nichts gesagt. Es war zu beschämend und so schwiegen sie, dass Miyu nun jede Nacht erwachte und lauschte.

Die anhaltende Stille beunruhigte sie ebenso wie das Kratzen, wenn sie es vernahm und nach einer Weile hielt sie es nicht mehr aus. Miyu warf die Decke beiseite und schob die Beine aus dem Bett. Sie langte hinüber zu dem Stuhl und griff nach ihrem Morgenmantel. Die Seide des Kragens fühlte sich in ihrer Hand kühl an und das Gefühl machte sie munterer. Vorsichtig, dass Takumi nicht doch noch erwachte, erhob sie sich vom Futonbett, zog den Mantel an und schlich aus dem Schlafzimmer.

Der Korridor lag im Dunkel; im Wohnzimmer aber brannte Licht. Er war also noch da und es überraschte Miyu nicht. Sie strich sich die graumelierte Haarsträhne aus der Stirn und atmete tief durch. Dann betrat sie das Wohnzimmer.

Shinji saß auf dem Sofa. Auf seinen Knien lag die Fernbedienung des Fernsehers und mit einem Finger zappte er durch die Programme. Auf dem winzigen Beistelltisch neben dem Sofa stand ein Vogelkäfig. Die schmale Tür war heruntergeklappt und der Käfig leer. Doch Miyu achtete nicht darauf.

Sie ging hinüber zum Fenster und zog die geschlossenen Vorhänge noch fester zu, als würde die Entschlossenheit, mit der sie es tat, Tokio endgültig aus dem Zimmer vertreiben.

„Hast du Hunger? Soll ich dir etwas zu essen machen?“ fragte sie zu Shinji hinüber.

„Nein“, sagte der Junge und drückte auf der Fernbedienung herum.

Miyu blieb am Fenster stehen und beobachtete ihren Sohn. Im Schatten des Wohnzimmerschrankes bewegte sich etwas, flatterte hinüber zu dem Tatamitisch und ließ sich dort nieder. Es war ihr Kanarienvogel, den Takumi ihr zum Geburtstag schenkte. Shinji hatte ihn aus dem Käfig gelassen. Der Vogel verdrehte den Kopf unter seinen Flügel und putzte sich. Dann hob er ihn mit einem Ruck, schüttelte das Gefieder und stolzierte über die Tischplatte. Seine Krallen kratzten über das Holz.

„Du solltest den Vogel nicht immer aus dem Käfig lassen“, sagte die Mutter.

„Geh ruhig wieder schlafen“, sagte Shinji.

„Du aber auch. Morgen ist Schule.“

Shinji antwortete ihr nicht. Miyu stand da und sah weiter auf ihren Sohn. Gern hätte sie ihn nun in den Arm genommen. Aber Shinji mochte das nicht mehr. Nicht von ihr, nicht von einem anderen Menschen. Nun mochte er es, tagsüber zu schlafen und nachts am Computer zu sitzen. Vielleicht mochte er das aber auch nicht. Für die Mutter machte es keinen Unterschied.

Der Kanarienvogel hatte genug vom Herumstolzieren und flog nun hinüber zu Shinji und setzte sich auf sein Bein. Der Junge blickte zu ihm hinunter. Dann verlor er das Interesse und starrte wieder auf den Fernseher.

„Dein Vater und ich wollen nächstes Wochenende zu deinen Großeltern fahren.“

Shinji reagierte nicht.

„Es wäre doch schön, wenn du mitkommst.“

Der Kanarienvogel verdrehte den Kopf und für einen Augenblick starrte er Miyu an. Dann schüttelte er sich und kroch über Shinjis Bein näher zu seinem Körper. Der Junge blickte teilnahmslos auf den Bildschirm. Miyu zog sich den Mantel enger um ihre Schultern.

„Du kannst es dir ja überlegen.“

Shinji stand auf und das erschreckte den Kanarienvogel. Er flatterte zur Decke empor, flog hinüber zum Fenster, dessen Vorhang ihn vor den Lichtern Tokios schützte, und, als er erkannte, dass es dort keinen Ausgang für ihn gab, wieder zurück zu dem Tisch.

„Ich bin müde“, sagte Shinji, aber Miyu wusste, dass er log.

Nun würde er zurück in sein Zimmer gehen. Er würde sich an seinen Computer setzten und davon erst wieder aufstehen, wenn er zur Schule musste. Später käme er zurück und würde schlafen. Erst in der Nacht, wenn sie dieses Geräusch hörte, würde sie ihn wieder sehen. Nichts konnte das ändern.

Shinji ging an seiner Mutter vorbei. Er sah sie nicht an und sagte auch nichts. Miyu blickte ihm nach. Der Kanarienvogel stolzierte wieder über den Tisch und es hörte sich so an, als würden Shinjis Schritte auf dem Fußboden kratzen.

Miyu hörte, wie er die Tür zu seinem Zimmer schloss und überlegte, ob sie ihm nachgehen sollte. Sie war traurig, aber es war zu beschämend. Schließlich ging sie hinüber zu dem Tisch und legte ihre Hand auf die warme Platte. Der Kanarienvogel neigte den Kopf schräg, so als schiene er zu überlegen, was er nun tun solle. Dann aber stieg er mit seinen Krallen auf Miyus Finger.

Sie trug ihn hinüber zu dem Käfig und setzte ihn vorsichtig hinein. Der Kanarienvogel blickte sie vorwurfsvoll an, als sie die Käfigtür schloss. Miyu strich mit der Hand über die Gitterstäbe und langte mit dem Finger hinein. Der Kanarienvogel stupste ihn mit dem Schnabel an. Dann aber schien er das Interesse zu verlieren und wandte den Kopf dem verdunkelten Fenster zu.

Miyu zog den Finger aus dem Käfig wieder heraus. Sie legte die Fernbedienung des Fernsehers auf den Schrank, schaltete das Licht aus und ging wieder hinüber ins Schlafzimmer, in dem Takumi noch immer wie ein alter Samurai schlief.


© Mark Gosdek


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Beschreibung des Autors zu "Der Kanarienvogel"

Diese Art der Vereinsamung, in denen Menschen sich freiwillig in ihre Wohnung/Zimmer zurückziehen und soziale Kontakte meiden, werden in Japan Hikikomori. Gerade junge Menschen sind in Japan davon betroffen.

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Kommentare zu "Der Kanarienvogel"

Re: Der Kanarienvogel

Autor: noé   Datum: 21.06.2014 6:09 Uhr

Kommentar: Eine traurig-nachdenklich machende Geschichte, aber sehr gut erzählt! Man ist dabei.
noé

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