Gleich nach meiner Ankunft in Souzhou, der alten Kaiserstadt in der Region Shanghai, ging ich zum Tagungsbüro. Außer der Tagungsmappe, die ein Programm der Konferenz und ein Heft mit den gedruckten Kurzfassungen der Vorträge, die uns erwarteten, enthielt, überreichte mir Professor Su, mein Kollege aus Hongkong und Hauptorganisator der Tagung, eine Einladung in das Restaurant „Lotos“.
„Der berühmte Than Zhiwei lädt sie zum Dinner ein, der wichtigste und reichste Mann von Souzhou. Sie müssen unbedingt kommen. Er hat seine Gäste persönlich ausgewählt“.
Sollte ich mich geschmeichelt fühlen? Ich hatte die weite Reise nicht wegen irgendeines Dinners angetreten, legte die Einladung achtlos zu den übrigen Unterlagen in die Konferenzmappe und ging in das auditorium maximum der Universität Souzhou, wo die bedeutende internationale Tagung eröffnet werden sollte. Beim Eintreten in den großen Saal erkannte ich eine Gruppe mir bekannter Wissenschaftler aus Polen und setzte mich zu ihnen. Von ihnen erfuhr ich, dass uns nicht nur die Tagungseröffnung durch den Rektor, sondern auch die feierliche Übergabe eines neuen Institutsgebäudes erwartete. Jemand drückte mir eine Liste in die Hand, auf der die Ehrengäste, die gleich kommen sollten, in der Reihenfolge ihres Eintretens in den Saal vermerkt waren. Es wurde still. Dann blickten alle Anwesenden zur hinteren Saaltür, die von außen geöffnet wurde und durch die eine Gruppe festlich gekleideter Personen, die Ehrengäste, gemessenen Schrittes in den Saal einmarschierte. Wo Rang und Dienststellung diese vorsahen, hatte man die besondere Dienstkleidung angelegt. Zwei Universitätsdiener trugen dem Zug die Zepter voran, dann kam der Rektor in seinem prunkvollen roten Talar, gefolgt von den Dekanen, dem der medizinischen Fakultät in seinem roten Talar, der Dekan für alte chinesische Philosophie war in lila gekleidet und der für Marxismus und Maoismus trug blau, der für Landwirtschaft natürlich grün. Der Bürgermeister hatte nur eine Amtskette umgelegt. Der Provinzvorsitzende trug keine Ehrentracht, sondern einen normalen grauen Anzug, der noch bescheidener wirkte als meiner. Einer nach dem anderen traten die bedeutenden Persönlichkeiten in die für sie vorgesehene Sitzreihe ein. Der Rektor nickte den Teilnehmern freundlich, aber würdevoll zu. Nachdem sich alle gesetzt hatten, wurde es offenkundig: es fehlte noch jemand, der Platz genau in der Mitte der ersten Reihe, der Platz der dem ehrwürdigsten aller Ehrengäste vorbehalten sein sollte, war frei geblieben. Than Zhiwei, der bedeutende Mäzen und Förderer der Wissenschaften und Künste, fehlte. Eine Platzanweiserin trat an den Rektor heran und sprach leise mit ihm. Der Rektor blickte ratlos in die Runde. Than Zhiwei war nicht erschienen, der reichste Mann der Stadt, der Industrielle, der Millionen schwere wichtigste Sponsor der Universität und der Stadt. Wie ich später von meinen Nachbarn erfuhr, hatte er auf einem neuen Campus sein „Than Zhiwei Institute of Technology“ gegründet, ein privates Institut, das in allen akademischen Belangen zur Universität gehörte, aber vollständig aus seinem Privatvermögen finanziert wurde. Er hatte ein modernes Hörsaalgebäude neben dem Gebäude des neuen Instituts errichten lassen. Ein schon vorhandener Lagerschuppen war zu einer Bibliothek umgebaut worden. Man hatte nicht gespart, nichts war zu teuer für den neuen Campus. Professoren waren an das neue Institut berufen worden, natürlich die Besten auf ihrem Gebiet. Auch für die Stadt hatte Zhiwei viel getan. Am Ufer des Taihu-Sees war ein neuer Industriekomplex errichtet worden, der vielen Bürgern der Stadt Arbeitsplätze sicherte und das Steueraufkommen erhöhte. Aus Dankbarkeit war Zhiwei zum Ehrendoktor der Universität ernannt worden und im darauf folgenden Jahr auch zum Honorarprofessor. Dies hätte meine erste Begegnung mit dem berühmten Mann sein können, aber er fehlte. Wie unangenehm angesichts der vielen Ehrengäste! Was sollte man tun? Vor allem den Provinzvorsitzenden konnte man nicht brüskieren. Er war der höchste Funktionsträger im Saal. Zhiwei war ein Nichts im Vergleich zu ihm, aber er hatte Geld, und sein Geld wurde überall gebraucht. Der Rektor hatte einen Entschluss gefasst. Er erhob sich von seinem Platz, trat an den Provinzvorsitzenden heran und sprach leise zu ihm. Darauf hin erhob sich dieser von seinem Platz, ebenso der Bürgermeister, und sie verließen den Saal. Dieses Mal stand niemand auf. Im Saal herrschte tiefes Schweigen. Der Sekretär des Rektors ging ans Rednerpult
„Meine Damen und Herren“, begann er. „Wir bitten Sie um etwas Geduld. Herr Zhiwei verspätet sich wegen dringender Geschäfte um 30 Minuten.“ Dann verließ er das Rednerpult wieder. Im Saal setzte ein Tuscheln und Raunen ein. Nach einiger Zeit erhoben sich die anderen Honoratioren von ihren Plätzen und verließen ungeordnet den Saal. Die übrigenTeilnehmer blieben sitzen. Man tauschte seine Meinung über das Vorgefallene mit den Nachbarn aus. Die erste Reihe war nun fast leer. Ich unterhielt mich mit meinen Nachbarn und erhielt alle notwendigen Informationen über Herrn Zhiwei, allerdings nur aus zweiter Hand. Es verging fast eine Stunde – ein Horror für die Organisatoren, denn nun musste man das Programm der Tagung verändern, alle Vorträge um eine Stunde verschieben, vielleicht sogar bis auf den nächsten Tag.
Und dann kam Herr Zhiwei. Er war mit einem weißen Pullover bekleidet und trug weiße weite Leinenhosen, so als ob er nicht einer Festveranstaltung beiwohnen, sondern ein Segelschiff betreten wollte. Ich schätzte sein Alter auf 50, er wirkte gesund und durchtrainiert. Später erfuhr ich sein wirkliches Alter, beinahe 70. Er ging sofort zum Rednerpult, entschuldigte sich für seine Verspätung und informierte die Anwesenden, um ihr Verständnis bittend, darüber, dass er geradewegs von seiner Segelyacht und einem Segeltörn zurückkäme und sich wegen ungünstiger Winde etwas verspätet habe, aber das wäre nicht weiter schlimm, man habe ja auf ihn gewartet. Inzwischen waren auch Rektor, Bürgermeister, der Provinzvorsitzende und die übrigen Ehrengäste wieder auf ihren Plätzen in der ersten Reihe eingetroffen. Die Aufregung im Saal hatte sich merklich gelegt und der Chairman, Professor Su, der als Hauptorganisator die Veranstaltung zu eröffnen hatte, ging ruhig und gelassen ans Rednerpult.

„Liebe Kolleginnen und Kollegen, Studenten, Magnifizenz, Spektabilitäten, ehrwürdiger Herr Zhiwei, Genosse Vorsitzender, meine Damen und Herren!“, begann er seine wohl einstudierte Rede. Dann stellte er die Ehrengäste vor, erläuterte das Anliegen der Tagung und bat die übrigen wichtigen Personen, eine nach der anderen, zu ihrer Ansprache an das Rednerpult. Die Redner bedankten sich bei Herrn Zhiwei für die neuen Gebäude, die vom nächsten Tage an ihre Funktion erfüllen sollten. Der ehrwürdige Zhiwei wurde nicht an das Rednerpult gebeten, ja mehr noch, er schien sich für das Geschehen um ihn herum kaum noch zu interessieren, wie ich von meinem Platz aus beobachtete. Erst ganz zum Schluss, als ein Streichquartett die Bühne betrat und Mozarts Quartett in C-Dur spielte, veränderten sich seine Haltung und sein Gesichtsausdruck merklich. Das erschien mir bemerkenswert, denn dieses Quartett könnte man als pure Mathematik bezeichnen. Es ist eines der sechs `ìtalienischen’, deren Tonarten nach dem Quartenzirkel geordnet sind und als Kompositionen eines siebzehnjährigen aus langer Weile während seiner dritten Reise nach Italien, voller Ahnungen und Hoffnungen auf das vor ihm liegende Leben und sein künftiges Schaffen, entstanden sind. Und Zhiwei schien sich für dieses Musikstück zu interessieren. Aber vielleicht interpretierte ich auch zuviel in meine Beobachtung hinein. Im Anschluss an das Musikstück erklärte der Chairman die Veranstaltung für beendet.

Die Konferenz nahm ihren Verlauf. Ich hörte viele interessante und anregende Vorträge, unterhielt mich mit alten Bekannten und lernte neue Kollegen, ihre Arbeitsrichtungen und ihre jüngsten Forschungsergebnisse kennen. Herr Zhiwei war meinem Gedächtnis gänzlich entschwunden, als eines Nachmittags, so um die Mitte der Tagungswoche, ein Kollege mich ansprach und fragte, ob ich eine Einladung zu Herrn Zhiweis Dinner hätte, sie ihm geben könne, denn er selbst habe keine bekommen. So erfuhr ich, dass Herr Zhiwei beabsichtigt hatte, die besten hundert der angereisten Mathematiker zu einem Festessen einzuladen, Aber wer sollte entscheiden, welche die hundert besten waren, eine schwierige Aufgabe für die Organisatoren. Niemand wollte diese schwere Entscheidung treffen, zu leicht hätte man verhängnisvolle Fehler begehen können. Schließlich hatte man dem Hauptorganisator, Professor Su, der aus Hongkong angereist war, um den weniger erfahrenen und auf dem internationalen Parkett weniger geübten Kollegen aus Souzhou mit Rat und Tat zur Seite zu stehen, diese Verantwortung übertragen. Wer, wenn nicht er, sollte befähigt sein, die Auswahl zu treffen? Er kannte sich auf der internationalen Bühne der mathematischen Wissenschaften aus. Su ließ Einladungen drucken. Einige verteilte er selbst mit dem Hinweis, Zhiwei hätte die Auswahl getroffen. So war ich zu meiner Einladung gekommen. Weitere, noch nicht mit Namen versehene Einladungen verteilte er mit dem Hinweis, der Name des mit einer Einladung bedachten, solle von ihm selbst eingetragen werden. Eigentlich hatte er entsprechend Zhiwei’s Empfehlug nur 100 solcher Einladungen verteilen wollen. Aber, wer noch keine bekommen hatte, dachte, man würde ihm etwas vorenthalten, das alle anderen bei ihrer Anmeldung bekommen hätten. Die Nachfragenden wurden an Su verwiesen, der, zwar zögernd, aber immer freundlich lächelnd, weitere Einladungen verteilte. Ich hatte meiner Einladung zunächst keine besondere Beachtung geschenkt, mich aber, als das bevorstehende Dinner bei Herrn Zhiwei in aller Munde war, entschlossen, daran teilzunehmen. Nun war ich aber doch bereit, dem Kollegen meine Einladung zu geben. Er nahm sie auch an, gab sie mir aber zurück, nachdem er bemerkt hatte, dass sie nicht nur auf meinen Namen lautete, sondern auch persönlich formuliert war. Wir gingen gemeinsam zu Su, der, wie immer freundlich lächelnd, noch eine weitere Einladung aus der Tasche zog und sie dem Kollegen gab.

Der Abend rückte heran. Herr Zhiwei hatte in das Restaurant „Lotos“ im zwanzigsten Stockwerk des neu errichteten Handels- und Geschäftszentrums am Ufer des Taihu-Sees eingeladen. Ich hatte mit einigen anderen Tagungsteilnehmern ein gemeinsames Taxi, eines der vielen VW-Taxis, die in der Stadt bei Tag und Nacht unterwegs waren, genommen. Vor dem Gebäude des Restaurants trafen wir mehrere andere Tagungsteilnehmer, die sich durch das am Revers ihres Anzuges getragene Namensschild, das auch das Symbol der Tagung zeigte, von den anderen Passanten unterschieden. Man betrat das Gebäude und einen der Fahrstühle und wählte als Ziel das zwanzigste Stockwerk. Als der Fahrstuhl sein Ziel erreicht hatte und sich die Türen öffneten, blickte man in eine Halle, die mit tropischen Büschen, Bäumen und Blumen bepflanzt war. In der Ferne sah man eine Badelandschaft mit Schwimmbecken, Liegeplätzen und kleinen Restaurants. Hatte Herr Zhiwei vor, ein Wettschwimmen unter uns zu veranstalten? Nach meinen Beobachtungen am ersten Tage traute ich ihm dies fast zu. Nein, wir hatten uns geirrt. Nachfragen ergaben, dass es zwei Fahrstühle gab, die in den zwanzigsten Stock fuhren, einen zur Westseite, den anderen zur Ostseite. Wir waren an der Westseite angelangt, aber die Restaurants befanden sich auf der Ostseite. Aber man konnte an den Schwimmbecken vorbei zur Restaurantseite gelangen. Vor einem der Restaurants hatten sich schon viele Konferenzteilnehmer eingefunden, die vor der verschlossenen Tür warteten. Als die Tür schließlich geöffnet wurde, versuchte die Menge in den Saal zu gelangen. Dies war nicht ungehindert möglich. Man musste erst an den beiden livrierten Hotelbediensteten vorbei, die jedem der Ankommenden zwei mit Formeln bedruckte Seiten überreichten. Man nahm an den runden Tischen, die jeweils für zehn Personen gedacht waren, Platz. Die Tische waren schon festlich eingedeckt. Immer mehr Menschen strömten in den Saal und standen, nachdem alle Plätze besetzt waren, etwas ratlos umher. Der Saal bot hundert Gästen Platz, aber es waren viel mehr gekommen, wahrscheinlich waren es viermal so viel. Es herrschte allgemeine Ratlosigkeit. Kellnerinnen und Kellner liefen aufgeregt umher und die livrierten Hotelangestellten versuchten, die Konferenzteilnehmer, die keinen Platz bekommen hatten, zum Verlassen des Saals zu bewegen. Aber niemand kümmerte sich um die Anweisungen des Personals. Man war zum Dinner eingeladen worden und beanspruchte nun auch einen Platz an einer der Tafeln. Schließlich betrat Herr Zhiwei die Bühne auf der Vorderseite des Saals und bat um Aufmerksamkeit. Er begrüßte alle Angekommenen und erklärte, dass sowohl Plätze, als auch Speisen nicht für alle bereit stünden, sondern nur für die besten, die kreativsten, intelligentesten und erfinderischsten Mathematikerinnen und Mathematiker der Welt. Er hätte den Test, durch den dies herausgefunden werden sollte, schon vorbereitet. Man sollte nur einen Blick auf die beim Eingang verteilte Aufgabe werfen, eine Aufgabe, an deren Lösung er schon seit langem arbeite und die ihn mehr interessiere als alles andere. Er habe sie alle eingeladen, damit sie ihm helfen sollten, das Problem zu lösen. Zwar handele es sich um ein sehr schwieriges Problem, aber, da er hier die besten Mathematiker der Welt versammelt sähe, gäbe es unter ihnen sicherlich viele, denen die Lösung des Problems keinerlei Schwierigkeiten bereiten würde, anders als ihm, der ja nur ein unbedarfter Laie wäre. Wer das Problem gelöst habe, dürfe bleiben, um Zunge und Gaumen in den Genuss der delikaten Speisen, die er ausgewählt habe, kommen zu lassen. Daraufhin vertieften sich viele, sowohl der schon Sitzenden, als auch der immer noch Stehenden, zögernd in die ihnen beim Eintreten ausgehändigten Seiten. Nach einiger Zeit blickte der eine oder andere auf, zunächst zweifelnd, nach kurzer Diskussion mit dem Nachbarn aber schon sicherer. Dann wurde es, trotz der vielen Menschen im Raum, ganz still, beängstigend still geradezu. Niemand wagte es, von seinem Aufgabenblatt aufzublicken. Nur der ehrwürdige Zhiwei statt ungerührt und wartend auf der Bühne.
„Das ist doch Goldbachs Vermutung“, hörte ich eine Stimme im Saal flüstern und dann immer wieder und von allen Seiten „Goldbach, Goldbach“ und schließlich etwas lauter: “Will er uns auf den Arm nehmen, das ist Goldbachs Vermutung“. In der Tat, es war Goldbachs berühmte Vermutung, ein zahlentheoretisches Problem, das sehr einfach und verständlich formuliert werden kann, dessen Lösung aber schon seit vielen, vielen Jahren auf sich warten lässt. Viele Preise wurden auf seine Lösung schon ausgesetzt, zuletzt eine Million Dollar, allein es besteht wenig Hoffnung, dass dieses Problem jemals gelöst werden kann. Herr Zhiwei hatte einige Bemerkungen, wie er sich die Lösung vorstellte, zu Papier gebracht. Auch war das Problem nicht in der bekannten klassischen Form, sondern sozusagen versteckt und implizit formuliert und man musste schon ein Mathematiker sein, um allein dies zu erkennen.

Dem Leser soll nicht verschwiegen werden, von welchem Problem wir sprechen. Primzahlen sind solche Zahlen größer als 1, die nur durch 1 und sich selbst teilbar sind, also 2, 3, 5, 7, 11, 13, 17, 19, 23, 29 und so weiter. „Und so weiter“ bedeutet, die Folge der Primzahlen bricht nicht ab, es gibt unendlich viele davon, wie es überhaupt unendlich viele Zahlen gibt. Goldbach vermutete, dass jede gerade Zahl größer als 2 die Summe von zwei Primzahlen ist. In der Tat, die kleinste gerade Zahl größer als 2 ist 4 und 4 ist die Summe von 2 und 2, also von zwei Primzahlen, 6 ist die Summe von 3 und 3. Die Zahl 8 lässt sich als 3 plus 5 schreiben, 10 ist 5 plus 5, 12 ist 5 plus 7, und so weiter. An welche gerade Zahl man auch denkt, immer ist sie die Summe von zwei Primzahlen. Man hat sehr viele gerade Zahlen, auch äußerst große, ausprobiert, und immer stimmte Goldbachs Vermutung: die Zahl ließ sich als Summe von zwei Primzahlen schreiben. Das allein reicht nicht aus, um ganz allgemein sagen zu können, jede gerade Zahl größer als 2 lässt sich als Summe von zwei Primzahlen schreiben, denn man kann ja nicht jede ausprobieren. Daher benötigt man einen Beweis der Aussage, den noch niemand gefunden hat, so groß die Anstrengungen auch waren, die Mathematiker und Laien unternommen haben, um einen solchen Beweis zu finden.

Christian Goldbach, ein deutscher Mathematiker, der in St. Petersburg und später in Moskau Erzieher des jungen Peter II. war und später als Sekretär an die Petersburger Akademie der Wissenschaften berufen wurde, hat dieses Problem erkannt und Leonhard Euler darüber im Juni 1742 in einem Brief Mitteilung gemacht. In einem Schreiben Eulers an Goldbach vom 30. Juni 1742 finden wir Eulers Antwort auf Goldbachs Vermutung: „Dass aber jeder numerus par eine summa duorum primorum sey, halte ich für ein ganz gewisses theorema, ungeachtet ich dasselbe nicht demonstriren kann“.
Es gab viele Versuche, jedoch bei genauer Überprüfung hat man immer Fehler in den angeblichen Beweisen gefunden. Die Aussage ist so leicht zu verstehen und gerade dies hat viele verlockt, sich an die Lösung des Problems heranzuwagen, allein, alles Bemühen war vergeblich. Da der Beweis seit 273 Jahren aussteht, ist es sehr unwahrscheinlich, dass es einen solchen mit elementaren Methoden geführten gibt. Aber, wer weiss?

Wie sollte also einer der im Saal Anwesenden das Problem hier und jetzt lösen können. Aber Herr Zhiwei ließ die Damen und Herren weiter nachdenken. Nachdem zwanzig peinlich-qualvolle Minuten verstrichen waren, ergriff er selbst wieder das Wort:
„Es wundert mich sehr, dass niemand der Anwesenden, der hervorragendsten Mathematiker der Welt, dieses Problem lösen kann. Es kann doch so schwer nicht sein. Wie wollen Sie die wahrhaft schwierigen Probleme lösen, wenn nicht einmal diese einfache Aufgabe beherrscht wird? Wie wollen Sie für mich berechnen können, ob meine Aktien steigen oder fallen, ob ich kaufen kann oder besser verkaufen muss? Das sind auch wichtige und mich interessierende Fragen.“
Im Saal herrschte tiefes Schweigen. Wir fühlten uns düpiert und peinlich berührt. So mancher von uns hatte schon mit Versuchen von Laien, die Goldbachsche Vermutung zu beweisen, gekämpft. Es konnte schon zu einer Herausforderung werden, den Fehler zu finden. Trotzdem werden den Mathematischen Instituten immer wieder neue „Beweise“ angeboten, oftmals verbunden mit der Forderung, das Preisgeld zu zahlen.

Die Peinlichkeit kannte keine Grenzen. Schließlich, nach weiteren qualvollen Minuten des Schweigens erhob sich ein weißhaariger Mathematiker aus Deutschland. „Mathematik ist eine Kunst“, sagte er, „und wir Mathematiker sind Künstler. Wir studieren, was andere vor uns erforscht haben, versuchen ihre Gedanken zu verstehen und ihnen zu folgen. Aber dies allein ist es noch nicht. Unsere Arbeit bedarf eigener Einfälle, des günstigen kreativen Augenblicks, der Inspiration. Möglicherweise wirkt ein gutes Mahl inspirierend, lassen Sie die Speisen servieren, und wir werden sehen.“

Alle lachten und blickten dann erwartungsvoll auf Herrn Zhiwei. Der war um eine Antwort auch nicht verlegen. „Wenn Sie Künstler sind“, entgegnete er, „so sollen Sie singen. Und wer ein Lied aus seinem Heimatland vorgetragen hat, der soll auch zu essen haben“.
Das war nun nicht weiter ungewöhnlich, aber Essen gegen Gesang? Man hätte es als weitere Provokation des Mäzems auffassen können, wenngleich man die Sitte des „sing a song“ von anderen Tagungen in Asien kannte. Manchmal hatte man sogar den Eindruck, dass die Konferenzteilnehmer so, wie sie auch ihren Fachvortrag vorbereiteten, sich ebenso auf das Vortragen eines Liedes oder auf eine Karaoke-Darbietung während des fast obligatorischen geselligen Abends vorbereiteten. Der weißhaarige deutsche Professor, wohl in dem Bestreben, die Situation zu retten und alles ins Spasshafte zu ziehen, ging als erster zur Bühne.
„Was geschieht nun?“, dachte ich voller Mitgefühl mit meinem geschätzten Kollegen. Aber schon nach den ersten Tönen seiner Gesangsdarbietung wurde mir klar, dass sich das Blatt wendete. Mit voller, gut ausgebildeter Bassstimme sang er die Arie des Baculus aus dem „Wildschütz“ von Lortzing, „5000 Taler ... träum oder wach ich ...“. Die 5000 Taler ersetzte er natürlich durch „one thousand dollar“ und seine Braut, die Baculus dem Baron für 5000 Taler abtreten wollte, durch den soeben gefundenen Beweis der Goldbachschen Vermutung. Er wolle das Preisgeld „now and here“ haben, sang er. Das Publikum dankte ihm erlöst und amüsiert für seine sehr effektvolle Darbietung. Der Millionär antwortete, er könne die Million „now and here“ nicht auszahlen, denn er habe jetzt seine Gäste zu bewirten, was auch nicht gerade billig wäre. Im übrigen möge sich der Herr an das Verlagshaus „Faber & Faber“ wenden, welches den Preis ausgeschrieben habe.

Danach trat ein Teilnehmer nach dem anderen auf die Bühne und präsentierte das besondere Lied aus seiner Heimat. In der Zwischenzeit waren das Management des Restaurants, Kellnerinnen, Kellner und andere Bedienstete auch nicht untätig geblieben und man hatte einen weiteren Saal vorbereitet, Tische eingedeckt und bat die immer noch Stehenden, im zweiten Saal zu Tisch. So verbrachte statt der vorgesehenen 100 Teilnehmer die vierfache Anzahl einen nahrhaften, vergnügten Abend mit vielen Gesprächen, die zum gegenseitigen Kennenlernen und besseren Verstehen beitrugen, alles Qualitäten, die zu einem erfolgreichen, reibungslosen Wissenschaftsleben beitragen können. Die Goldbachsche Vermutung hingegen konnte auch an diesem Abend nicht bewiesen werden und das Problem ist weiterhin offen. Sollte allerdings jemand unter meinen geschätzten Leserinnen und Lesern die zündende Idee haben und den Beweis zustande bringen, so verspreche ich, diesen Versuch nicht dem Papierkorb zu überantworten, sondern ihn gründlich zu prüfen. Das Preisgeld kann ich leider nicht zahlen, denn ich bin kein reicher Mäzen, sondern nur ein armer Mathematicus.




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© Klaus Denecke


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Beschreibung des Autors zu "Der Mäzen und die Goldbachsche Vermutung"

Man erfährt etwas über eines der ungelösten Probleme der Mathematik und bekommt Gelegenheit über das Mäzenatentum nachzudenken.

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