Die Erzählung „Nacht“ geschrieben von der deutsch-schweizerischen Autorin Sibylle Berg, die 1962 in Weimar geboren worden ist, ist eine formal klassische Kurzgeschichte. Die Erzählung aus dem Jahr 2001, die in der Sammlung „Das unfreundliche zuerst. Herrengeschichten“ erschienen ist, führt den Leser aus einer alltäglichen Situation heraus in eine nächtliche Szenerie, in der zwei einander zunächst noch fremde Jugendliche, eine Gemeinsamkeit entdecken und zu einer wichtigen Erkenntnis gelangen.
Ein Junge und ein Mädchen die sich anfangs noch nicht kennen, beschließen gleichzeitig jedoch unabhängig von einander, am Abend nicht wie jeden Tag nach Hause zu gehen, sondern einen Aussichtsturm zu besteigen, der auf einem Berg steht. Oben angekommen sind beide Protagonisten zunächst zerknirscht darüber, nicht alleine auf dem Turm zu sein. Doch nach einer Weile entwickeln sie ein Gefühl der Verbundenheit und des Verstehens, das sie ohne es zu merken in Worte kleiden. Aus diesem Gedankenaustausch entsteht das Gefühl inniger Verliebtheit, so dass beide am Ende der Nacht, nicht in ihr alltägliches Leben zurück kehren möchten. Sie gelangen zu der Erkenntnis, dass der Mensch geneigt ist alle guten und schönen Erfahrungen im Alltag viel zu schnell zu vergessen und Wünschen sich, nicht in die Welt zurückkehren zu müssen. Der Wunsch wird ihnen erfüllt, die Welt verschwindet. Es bleibt nur ein Stern übrig, auf dem ein Aussichtsturm steht.
Die Autorin beschreibt in bunten Farben und lyrisch anmutender Sprache eine Alltagssituation. Frau Berg setzt hier ein stilistisches Mittel ein, das auf den Leser beabsichtigt irritierend wirken soll. Der Leser erhält den Eindruck dass die Sätze nicht vollendet wurden. Sie wirken unvollkommen und fordern zum mehrmaligen lesen der Einleitung auf. Sie vermitteln eine leise Ahnung, der tieferen Aussage der anschließenden Erzählungen. Das die Einleitung durch das weglassen von Textbausteinen, Adjektiven und Füllwörtern lediglich alltägliche und gewöhnliche Szenen beschreibt, ist ein erster Hinweis auf die Weisheit, die dieser Kurzgeschichte innewohnt. Die beschriebene Szene enthält eine Passage, in der die Menschen einen rosafarbenen Himmel schlicht ignorieren und ihn lediglich aus der Sicherheit ihres Zuhauses wehmütig betrachten. Dieser rosa Himmel steht in der Deutung, als eine Metapher dafür, dass es neben der Erfüllung banaler Grundbedürfnisse wie Nahrung, Sicherheit und Obdach noch etwas anderes geben muss, das für ein vollkommenes Leben unerlässlich ist. Das verblassen dieses Himmels, über die Farben Hellblau und Lila symbolisiert das erlöschen des spirituellen Teils in der menschlichen Seele, das Sterben der Fantasie und die Grenzen des menschlichen Denkens. Das Funktionieren im Alltag und die Sicherheit des Gewohnten, gibt dem Menschen zwar Grundlage und Halt, jedoch keine geistige Erfüllung. Zwei junge Menschen finden einen Weg aus dem Alltag auszubrechen, in dem sie einen hohen Berg und den auf ihm errichteten Aussichtsturm, der genau 400 Stufen zählt, besteigen. Ein klares, wenn auch nicht einfach zu erreichendes Ziel. Die Autorin versinnbildlicht, dass der Berg wie ein Beschützer über die Stadt wacht. Es kommt darin zum Ausdruck, dass übermäßiges Schutzbedürfnis den Menschen davon abhält, höhere geistige Ebenen zu erklimmen und dass ihm oft der Mut fehlt, den Schutz des Alltags zu verlassen und die darin enthaltende Bequemlichkeit aufzugeben. Die Jugendlichen in der Erzählung sind in ihren Gewohnheiten noch nicht so festgefahren und finden den Mut auf den Aussichtsturm zu steigen und sich einen Überblick zu verschaffen. Sie erreichen einen Ort an dem sie bis zu den Alpen blicken können, diese beim Namen rufen und sie somit erobern. Diese Übertragung charakterisiert, dass der Mut zu Träumen und die Freisetzung der Fantasie, der erste Schritt zum Erreichen größerer Ziele und höherer Sphären ist. Die Autorin möchte den Leser darauf hinweisen, dass es einer mutigen und idealistischen Zielsetzung bedarf, um ein ausgefülltes und erfolgreiches Leben zu leben, auch wenn das bedeutet die Sicherheit des alltäglichen zu verlassen. Die zwei jungen Menschen sind in einer solchen Weise erfüllt von der Sehnsucht nach Freiheit und dem Ungewöhnlichen, dass sie beinahe eine Enttäuschung erfahren, als sie oben angekommen aufeinander treffen. Auf der Suche nach einer eigenen und ganz besonderen Identität wird das gleichgesinnte Gegenüber zunächst als Störenfried wahrgenommen, von dem sie sich zunächst abgrenzen müssen. Die Formulierung, des sich gegenseitig im Denken vergessen, ist so zu verstehen, dass die Übereinstimmung im Denken diese Grenze überwindet, wodurch nun eine geistige Übereinkunft entsteht und die Individuen verwischen. Diese neuentstanden Symbiose, geht deutlich daraus hervor, dass sich zwischen den Protagonisten ein Gespräch entwickelt, dem eine gewisse Eigendynamik anhaftet. Die beiden erkennen wie wichtig ihnen der gleichgesinnte Gesprächspartner ist, das Gefühl tiefer geistiger Verbundenheit gleicht dem, einer tiefgehende Verliebtheit. Die gemeinsame Liebe zu freiem Denken, außergewöhnlichen Handeln und gelebter Träume und das neuentdeckte Selbsterkennen der persönlichen Freiheit, wie auch die daraus hervorgehende Sicherheit, nicht allein auf der Welt zu sein, kommt in der Geste der verbundenen Hände zum Ausdruck. Der Leser soll ermuntert werden ungewöhnliche Ideen zu entwickeln und den Alltag hinter sich zu lassen. Er wird auch hier Halt finden und die Zustimmung, wenn nicht gar die Unterstützung, Gleichgesinnter erfahren. Die beiden Jugendlichen werden zu Verbündeten. Jeder für sich aus dem Alltag ausgebrochen, sind sie nun Bundgenossen in einem verträumten Abenteuer, dass vom Zauber einer einzigen Nacht erfüllt ist. Die Verlagerung der Szenerie in eine nächtliche Kulisse ist ein Hinweis auf die kreative, verspielte und auch dunkle Seite des menschlichen Geistes, zugleich haftet der Nacht, seit jeher, etwas mystisches und unbekanntes an. Durch den kommunikativen Gedankenaustausch sind die Gefährten nun in der Lage sich gegenseitig auf die Schönheit der Welt hin zu weisen und diese aus den Augen des anderen zu sehen. Aus dieser gemeinsamen Erfahrung heraus gelangen die beiden Jugendlichen zu Erkenntnis, dass es für die Seele der Menschen wichtig ist, dem Alltag ab und an zu entfliehen um sich in ein Abenteuer zu wagen. Die Sicherheit des Gewohnten durch die Lust am Unbekannten zu ersetzen und somit die Welt neu zu Entdecken und zu erleben. Der anbrechende Morgen und das Erwachen der Stadt leitet das Ende dieses nächtlichen Abenteuers ein und die Rückkehr in den Alltag. Die beiden beschließen noch einen Augenblick in dem Zauber der Nacht zu verweilen und wünschen sich, dass die Welt verschwindet und die neuerfahrene Geistigkeit zukünftig ihren Platz einnimmt. Die Autorin gewährt den Helden der Erzählung diesen Wunsch, lässt die Welt verschwinden und es bleibt ein kleiner Stern zurück, auf dem sich nur noch der Wald, der Aussichtsturm und die Berge befinden. Aus dem Wunsch der beiden Jugendlichen geht hervor, das sie nicht in ihren Alltag zurück kehren wollen, in dem man zwischen Bequemlichkeit, Sorgen und Sicherheitsdenken den Sinn für das Schöne und Unfassbare verliert. Die Rückkehr in ein Leben, in dem zu Gunsten des Gewohnten das Unbekannte seinen Reiz verliert, erscheint den beiden Zentralfiguren wie ein Sterben. Die in der Nacht gewonnene geistige Lebendigkeit, lässt das Leben im Alltag als unerfüllt und unvollkommen erscheinen. Das angesprochene vergessen des Schönen soll hier aussagen, dass wir im Alltag oft nicht die Zeit finden uns den Wundern dieser Welt angemessen zu widmen und diese aus unseren Fokus rücken, bis sie sich unserer Wahrnehmung gänzlich entziehen. Die Träume sterben den Alltagstot, verblassen wie der rosa Himmel am Anfang der Erzählung. Der Zurückbleibende Stern ist als Erinnerung an diese Wunder zu betrachten und steht gleichzeitig für all jene noch zu erfahrenen, gemeinsam gelebten Nächte, voller wundersamen Offenbarungen. Die Literatin mahnt den Leser, sich im „Tag ein- Tag aus“ der Gewohnheiten, ab und an daran zu erinnern, dass es im Leben mehr gibt, als die Erfüllung der Grundbedürfnisse und das die Welt ein aufregender und spannender Ort sein kann, wenn man gewillt ist, den Mut und die Zeit auf zu bringen, diesen wahrzunehmen und in allen Facetten zu erfahren. Sie möchte uns dazu anhalten, wenigstens ab und zu aus dem Alltag auszubrechen und uns daran zu erinnern, wie wundervoll und bereichernd es sein kann die Grenzen des Denkens zu überwinden, die Melodie des Windes zu vernehmen und unschuldigen großen und auch kleinen Träumen nach zu hängen. Der inspirierte Leser, mag durch diese metaphilosophische Geschichte animiert werden, längst vergessene Träume aus dem Unterbewusstsein hervor zu kramen, zu entstauben und erneut in Angriff zu nehmen. Ob nun längst vergessene Träume oder auch ganz Neue. Mag es einem jeden von uns zum Vorteil gereichen, die Welt ein wenig intensiver zu erleben und die Zielsetzung ein wenig präziser zu gestalten.



Kommentare zu "Was will der Autor mir eigentlich sagen? "Nacht" ist eine Kurzgeschichte von Sibylle Berg"

Es sind noch keine Kommentare vorhanden

Kommentar schreiben

Möchten Sie dem Autor einen Kommentar hinterlassen? Dann Loggen Sie sich ein oder Registrieren Sie sich in unserem Netzwerk.