Das Leben, eine schnelle Oper?

© Joy M. Mirth

In unserer Kindheit schaffen wir uns mit unserer Phantasie Räume, in die wir flüchten können, wann immer uns danach ist. Von jetzt auf gleich befinden wir uns in der Steinzeit wieder, anstatt im Garten und Dinosaurier wandeln zwischen den Häuserreihen, während die Wohnblöcke zu Urwäldern- und die Laternen zu Vulkanen werden. Als Kinder erleben und leben wir Unfassbares, Magisches. Feen und Elfen, die in einem alten, mit Moos bewachsenen Baumstumpf wohnen, Zwerge und Zauberwesen, die in Städten, getarnt als braune Pilzansammlungen, im Wald hausen. Unsere Phantasie ist unsere Welt, in der nichts unmöglich scheint und in die wir niemanden hereinlassen müssen, wenn wir nicht wollen. In der Springkraut am Wegesrand plötzlich niesen muss, wenn man es berührt und in der ein Bettlaken unsichtbar machen kann.

Je älter wir werden, umso mehr verlieren wir diese Fähigkeit. Die Jahre fliegen dahin und ehe wir uns versehen, sind wir erwachsen. Schwer können Unbeschwertheit und Leichtigkeit dem Alltag standhalten. An ihre Stelle rücken Sorgen, Verantwortungsbewusstsein und eine Last, die uns auch mal in die Knie zwingen kann. Unsere Umgebung verliert ihre Farben und wir verlieren uns in einem Schleier aus grauen Schatten, die uns zeitweise vollkommen verschlingen zu scheinen. Man wankt nur noch geradeaus, wie durch einen Tunnel. Ohne nach links und rechts blicken zu können. Das Leben, welches wir früher als Spiel wahrgenommen haben, ist nun vielmehr ein Schauspiel geworden. Wir übernehmen darin die Hauptrolle, ob wir sie mögen oder nicht. Und wie jede Rolle, die in den großen Opern dieser Welt während des Werkes eine Entwicklung durchmacht, entwickeln auch wir uns weiter. Von Szene zu Szene, von Akt zu Akt. Bis wir wie die Heroinnen unter Applaus in falscher Schönheit sterben, während sich das Publikum zurücklehnt und sich der wiederhergestellten Ordnung gesichert weiß. So, wie es sein muss und so, wie Alles zuende geht.

Wie also arrangieren wir uns mit unserer Rolle in der großartigen, beängstigenden "Opera Vivace", die allein für uns komponiert wird? Nehmen wir sie hin und spielen sie so, wie Komponist und Regisseur es von uns erwarten und verlangen? Nehmen Dissonanzen hin, zerfließen sogar völlig in ihnen und sterben schließlich, in der leidvollen, glamourösen Vollkommenheit der Musik? Oder sind nicht wir die Komponisten, Librettisten, Regisseure und deren Assistenten, Bühnenbildner, Kostümschneider und Tontechniker, Dirigenten und Musiker, die Damen und Herren aus der Requisite, Dramaturgen, Nebendarsteller, Erst- und Zweitbesetzung, die Kritiker, die sich nach der Premiere ihr Urteil über das Werk bilden und letzlich eigentlich jeder, der an einer solch gewaltigen Produktion arbeitet?

Wir sollten genau das sein: Alle. Jede dieser vielen Figuren, die eine Oper erst auf die Bühnen dieser Welt bringen. Das Rohmaterial wird uns schon in die Wiege gelegt. Von dem Zeitpunkt an, bei dem der Vorhang aufgeht und bei dem unsere Komposition den Raum mit allen Klängen dieser Erde erfüllt. Den Wohlklingenden und denen, die uns weniger Wohlbefinden bereiten. Laut und leise, schroff und sanft, manchmal vollkommen überladen an Dramatik und manchmal auch genauso leer. Wir bestimmen selbst über die Melodien und Rollen unseres Lebens und wir entscheiden selbst, wer uns inspiriert und wen wir lieber keinen Einfluss nehmen lassen. Ob es dem Publikum hinterher gefällt oder nicht, ob die objektiven, außenstehenden Kritiker unser Werk hinterher zerreißen oder nicht, ist egal. Wichtig ist, dass wir uns mit unserer Musik identifizieren. Wir dürfen uns auch in einer Schaffenskrise landen, uns in Selbstmitleid verlieren, eine Generalpause einlegen. Wichtig ist nur, dass wir uns selbst aus dieser Situation wieder hinaus befördern und die Stille nicht vollkommen von uns Besitz ergreifen lassen.


© Joy M. Mirth


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