Wer im Januar 2023 durch Moskau läuft, fällt nach kurzer Zeit Folgendes auf. Er merkt bald,
wie wenig ihm auffällt. Nichts scheint sich in 3 Jahren, seit dem letzten Besuch, geändert zu
haben. Es sind die gleichen rutschigen Bordsteine, der gleiche von Abgasen gefärbte
Schnee und dieselben billig aussehenden Reklamen mit denselben kitschig bunten
Buchstaben wie vor 3 Jahren. Auch die Passanten haben sich nicht verändert. Junge
tätowierte Menschen mit gefärbten Haaren in leichter Winterkleidung wechseln sich mit
alten, in der Mode der 80er steckengeblieben Rentnern ab. Mütter und ihre Töchter tragen
Plastiktüten bedruckt mit Werbung für Einkaufszentren und mittelalte Männer überholen den
auf den glatten Straßen unsicher laufenden deutschen Touristen. Nicht selten wird man von
einem, häufig einer ethnischen Minderheit angehörenden Essenslieferanten, auf einem
Fahrrad mit absurd breiten Rädern umfahren.
Das gesamte Stadtbild scheint unverändert. Die gleichen hip wirkenden Cafes locken mit
englischen Lettern die ebenso hip aussehende Jugend zu sich, ostalgisch sowjetische
Stalowaja (Mensen) laden zu einfacher, aber füllender Kost ein und Einkaufszentren
versprechen einen mit allem zu versorgen, was die Frau zum guten Aussehen, der Mann
zum wohlhabend und selbstbewusst Wirken und das Kind zum Glücklichsein brauchen
kann. Subkulturen vieler Arten werden bedient. Egal ob man weiter zocken, sich tätowieren,
ausgefallene Brettspiele spielen oder das nach Konsum verlangende Punkerherz befrieden
möchte, alle können sich in speziell auf ihre Nöte zugeschnittenen Läden bedienen. Nur
sexuelle Randgruppen suchen vergebens nach einem für sie offen beleuchteten Platz.
Mit der immergleichen Metro bewegt man sich in Moskau umher und hört die immergleichen
Gespräche. Häufig handeln sie von Liebe, Filmen, der Arbeit usw. Im persönlichen Gespräch
fragt man nach der Familie, dem Studium und Einzelheiten des Lebens. Es scheint sich
nichts geändert zu haben. Es scheint dasselbe Moskau, dasselbe Russland und dieselbe
Welt.
Doch ist nicht alles unverändert. Die Armee bewirbt auf Plakaten den Wehrdienst. Einzelne
Soldaten verschiedenster Ethnien und verschiedener Ränge präsentieren sich in Uniform
und Kampfanzug, natürlich mit vollständiger Ausrüstung und dem russländischen Zivilisten
wird mit dem Spruch, "Es ist Zeit für Helden" ins Gewissen geredet. Große Wahrzeichen wie
der Rote Platz und die Ausstellungsstätte BDNX (WDNH) werden mit dem großen Z in
schwarzorang "geschmückt", dies jedoch nur an den Eingängen. In den Passagen der Stadt
sind solche Zeichen nicht zu finden. Auch sind Graffiti und Aufkleber, die den Krieg
verurteilen oder gar nur wahrnehmen, seltenst zu finden. Dafür sorgten anfangs noch
intensiv die städtischen Reinigungskräfte, doch dies ist nach 10-monatigen Katz und Maus
spielen fast nicht mehr notwendig.
Moskau scheint sich arrangiert zu haben. Kosmetische oberflächliche Veränderungen des
Stadtbildes repräsentieren die kosmetischen Veränderungen, die der typische Moskauer
Bürger hinnehmen musste. Aus McDonald's wurde Vkusnaja Totchka (Leckeres Plätzchen),
westliche Marken verließen das Land, Reisen ist schwerer und in den Westen fast
unmöglich und so gut wie alles ist etwas teurer geworden. Der Präsident hält nun seine
Neujahrs-Ansprache umringt von Soldaten und die vorher von vielen in die Ukraine
gepflegten Kontakte sind abgebrochen.
Doch wer möchte, der kann dies alles ausblenden. Wenig, wovor man die Augen nicht
verschließen kann, ist tatsächlich schlimm geworden. Wenige haben ihre Arbeit verloren,
niemand, der vorher nicht hungerte, hungert jetzt und kaum einer scheint jemanden zu
kennen, der jemanden kennt, der verkrüppelt oder getötet wurde. Menschen gehen ihrem
Alltag nach. Der Krieg ist weit weg, etwas, was im Hinterkopf stattfindet, welcher sicher
auch Menschen konkret betrifft, doch nur selten die eigene Umgebung. Der Lehrer
unterrichtet, der Bäcker backt und der Taxifahrer kutschiert die Moskauer durch die
Metropole. Sanktionen treffen die wenigsten direkt und wenn doch, gibt es immer einen zwar
qualitativ schlechteren, dennoch aber verwendbaren Ersatz. Anstatt französischem Käse
gibt es nun belarussischen und anstatt deutscher Autos und Maschinen und amerikanischer
Unterhaltungstechnik verwendet man die chinesische Alternative. Die Probleme scheinen
ebenfalls die alten zu sein. Der kranke Vater erhält nicht die medizinische Versorgung, die er
bräuchte und die teure Ergotherapie für den Sohn mit ADS muss man selbst bezahlen. Der
Krieg ist höchstens im privaten Gespräch am Küchentisch ein Thema. Viele antworten auf
Nachfrage zwar, sie unterstützten den Krieg, doch ist kaum jemand bereit, Verantwortung für
ihn und seine Opfer zu übernehmen.
Diese für das historische, wie moderne Russland systematische Apathie und
Verantwortungslosigkeit ist allgegenwärtig. Hierbei handelt es sich um ein Wechselspiel
zwischen Regierung und Bevölkerung. Die Regierung schläfert durch eine Überflutung mit
sich widersprechenden Narrativen ein.
Die Propaganda, hat nicht mehr wie zu sowjetischen Zeiten das Ziel, eine alternative
kohärente Realität zu schaffen. Viel mehr das Konzept von Wahrheit bekämpft. Eine
Überflutung von Lügen und Falschaussagen, die sich gefühlt gegenseitig in ihrer Absurdität
zu übertrumpfen versuchen, durchfluten das Fernsehen und die sozialen Medien. Es ist
dabei zweitrangig, ob die Narrative in sich widersprechen, solange sie nur die Energie und
Aufmerksamkeit des Konsumenten auf sich ziehen und das Gefühl vermitteln, dass wenn.
Eine Überflutung, die eine Parallelisierung des Zuschauers zur Folge hat.
Das Regime fürchtet ein Erwachen der Bürger und die Bevölkerung verbringt ihr Leben im
Schlaf und fürchtet sich vor der Realität, die ein Erwachen mit sich bringen wird. Die
Regierung spricht von Spezialoperation und verspricht, niemanden in den Krieg zu schicken,
der nicht möchte. Und wenn dies nicht mehr ausreicht, wird von einer Teilmobilisation
gesprochen, die nur, soweit möglich, in der Peripherie durchgeführt wird. Ein Zustand der
vermeintlichen Gefahrlosigkeit, der einem nicht kleinen Teil der Bevölkerung als Istzustand
akzeptabel erscheint.
Es ist tatsächlich sehr leicht, in diesem Russian Dream zu versinken. Oft erwischt sich selbst
Tourist bei dem Gedanken: "So schlimm ist es ja eigentlich nicht". Man kann weghören,
wenn über den Krieg und die fast lachhaften, angeblichen Manifestierungen amerikanischer
Aggression gesprochen wird. Doch überhört man nicht, dass es leichter zu sein scheint,
gegen den abstrakten homo-amerikanischen-Westfaschismus zu hetzen, sich über
angebliche offizielle Vorschläge aufzuregen, die ukrainische Flagge nun in die
amerikanische Flagge in den blau-gelben Farben umzuwandeln, oder über eine
Umschreibung japanischer Schulgeschichtsbücher, in denen nun stehen soll, nicht konkret
die Amerikaner, sondern die Alliierten, was wiederum schon mit der Sowjetunion
gleichzusetzen sei, hätten die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki abgeworfen, zu
brüskieren, als die Entwicklungen der Front zu verfolgen. Man nimmt in Kauf, dass einzelne
Geschichten, wenn nicht komplett erfunden, zumindest stark verdreht sind. Lieber nimmt
man in Kauf in einer Welt der Gerüchte und Unwahrheiten zu leben, welche zumindest ein
so klares und doch so nebulöses entmenschlichtes Feindbild anbieten, als in einem Land,
dass unprovoziert schrecklichste Gräueltaten begeht und dem eine sehr unsichere Zukunft
bevorsteht.
Der russische Traum ist eine Droge, die einen hohen Suchtfaktor hat und einen
fürchterlichen Entzug mit sich bringt. Oft wird sie gemischt mit Antidepressiva, Opiaten und
Kokain, doch mit keiner Substanz so häufig wie mit Wodka. Ein betrunkener Russe, der
arbeiten geht, Solowjow schaut, seine Freizeit versäuft und seine Freiheit gegen Stabilität
tauscht, lebt den russischen Albtraum der Stagnation und Lüge.
Dies kann viele Ausprägungen haben. Russland, zumindest in den großen Städten, ist ein
diverses, aber kein pluralistisches Land. Hier kann man Christ, Muslim und Atheist sein, man
kann Lederjacke, Trainingsanzug oder Hippie-Pullover tragen und man kann sich die Haare
zum Seitenscheitel striegeln, abrasieren oder zum Zopf binden. Menschen verschiedenster
Ethnien sind überall anzutreffen, wenn auch russischer Rassismus weit verbreitet ist. All dies
ist auch im Fernsehen zu finden. Zu Neujahr wechseln sich nostalgische
80er-Sowjet-Balladen, vorgetragen von mittlerweile in die Tage gekommenen Schlagerstars
der Vergangenheit, mit Popsängern, die blondierte Rastalocken tragen, sich mit
Jugendlichen in weißen Hemden umgeben und dabei die Größe und Einheit Russlands
besingen. Dies ist im Selbstverständnis des Machtapparats, im Gegensatz zur Uniformität
des Homo Sowjeticus, kein Widerspruch. Doch wer auf den großen Plätzen Russland
demonstriert, wird geschlagen, weggesperrt und gepiesackt, bis er sich zur Ausreise
entschließt. Politiker, die in vergangenen Zeiten Oppositionsarbeit betrieben, wurden
vergiftet oder erschossen. Wer den Eltern und Großeltern beim Weihnachtsmahl
widerspricht, riskiert häufig einen großen Generationenstreit, der bei zu häufiger
Wiederholung im Familienbruch endet. Für solche Menschen ist kein Platz mehr im heutigen
Russland. In dem Russland, das süchtig ist nach Größefantasien, Überheblichkeit,
Geschichtsvergessenheit, Minderwertigkeitskomplexen, Sturheit, Risikovermeidung,
Stagnation und Selbstverletzung aus Bequemlichkeit.
Die Frage für die Zukunft ist, welcher Fall zuerst eintritt: Wird eine Veränderung von Moskau
ausgehen, oder wird Moskau vom Rest des Landes überholt? Wie viel Leid sind Muskoviten
bereit zu ertragen, bevor sie Veränderungen fordern? Oder bleibt Moskau von den
Schrecken des Krieges verschont und Russland implodiert um Moskau herum? Und die
wichtigere Frage ist: wie viele Menschen außerhalb Russlands entstellt, traumatisiert,
misshandelt und getötet werden müssen, bevor Russland, zumindest für einen kurzen
Moment, aus seinem lethargischen Traum erwacht?


© Geschrieben von Sascha R


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Kommentare zu "Russian Dream"

Re: Russian Dream

Autor: stephanius   Datum: 12.03.2023 20:14 Uhr

Kommentar: Lieber Sascha,
ich denke Du hasst das sehr gut wiedergegeben, es deckt sich nicht ganz mit der offiziellen Berichterstattung, aber das ist ja normal. Das was Du im ersten Teil schreibst, die relativa Normalität wird in vielen westlichen Berichten negiert und gesagt, die Sanktionen wirken sich auch stark auf die Bevölkerung aus.
Das was Du im zweiten Teil schreibst entspricht auch meiner Wahrnehmung, obwohl ich mich da auch nur auf Quellen aus zweiter Hand und mein eigenes Empfinden stützen kann.
Ich kenne Russland nur ein wenig, d.h. die Sowjetunion und auch nur von früheren Zeiten und da war die Meinung schon sehr zwiegespalten. Die große Verbrüderung zwischen den Völkern hat es eh nie gegeben, das war nur propagandistischer Rummel. Natürlich hat es sehr viele Kontakte zwischen den Menschen gegeben, die waren nicht nur verodnet, die waren oft herzlich und dem Leben zugewandt. Das war zumindest in der DDR so. Deise Dinge leiden natürlich jetzt richtig und die Gefahr ist groß, dass diese positiven Dinge in das Gegenteil umschlagen. Da müssen wir für sogen, dass das möglichst nicht passiert, denn ich denke es wird auch eine Zeit danach geben.
Schuld daran ist für mich nicht Putin allein, wenn auch der Hauptschuldige, es ist die herrschende Kaste, die ehemalige Nomenklatura in neuem Gewand. Glukhovsky hat das in senen Werken glaub ich ganz gut beschrieben.
Ich hoffe wie Du, das einige Menschen in Russland selbst aufwachen und etwas tun, denn nur aus dem Land selbst heraus kann sich etwas ändern. Von außen würde es einene echten Weltkrieg bedeuten, hoffen wir es nicht.
Hat mir sehr gefallen, habe Deinen Text mit großem Interesse gelesen.
LG S.

Re: Russian Dream

Autor: Michael Dierl   Datum: 13.03.2023 0:38 Uhr

Kommentar: Text gern gelesen! Sehr aufschlussreich! Solange man sich in Russland selbst was in die Tasche lügt wird das Land und Leute sich nicht weiter entwickeln können, weil jeglicher Kontakt zum Ausland eben verboten wird in absehbarer Zukunft. So wie es bereits in Nordkorea der Fall ist. Damit verarmt ein Land bzw. seine Bürger!

lg Michael

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