Sonnenblumen - eine Reise durch Kanada

© Marion Albrecht

S o n n e n b l u m e n

Eine Reise durch Kanada

Eine Scheibe Toast und eine Tasse Kaffee war alles, was sie zum Frühstück heruntergebracht hatte. Schon während der Schulzeit hatte sich ihr Magen störrisch geweigert, den Beginn eines neuen Tages mit einem Hungergefühl zu würdigen, was sie ihm eigentlich nie hatte ankreiden können. Sicher war sie nicht unempfänglich für blassgelbe Sonnenaufgänge und Gefühle von Eins-mit-der-Welt und Frieden-in-der-Brust, und was sonst noch so unter diese Rubrik fiel. Aber diese Augenblicke waren selten, und da sie zu keiner Zeit eine Spielernatur gewesen war und Risiken nur einging, wenn es sich nicht vermeiden ließ, zog sie es vor, sanft in den Tag hineinzugleiten, wann immer dies möglich war.

Kleine Pause

Sie hatte den Zeitpunkt ihres Aufbruchs absichtlich auf den frühen Morgen gelegt, um den Abschied sozusagen nicht bei vollem Bewusstsein erleben zu müssen, obgleich ihr die Tatsache, sich einmal mehr den Realitäten entzogen zu haben, im Laufe des Tages sicherlich einen Anflug von schlechtem Gewissen bescheren würde. Sie versah den Gedanken mit dem Etikett „Wiedervorlage“, legte ihn in das Körbchen zu den anderen, und wandte sich wieder der Gegenwart zu. Diese bestand augenblicklich in einem strahlenden Spätsommermorgenhimmel über den ausgedehnten Prärien der Provinz Manitoba, dem alten 1966er Cadillac, den sie von den Freunden ihrer Gasteltern, Harry und Susan, für ganze 300 Dollar erstanden hatte, und der Aussicht auf eine vierwöchige Reise durch die, was sie betraf, unerforschten Weiten Kanadas. Ihr Schiff, wie sie ihr auf nordamerikanische Großzügigkeit zugeschnittenes Vehikel bei sich nannte, würde sie sicherlich zuverlässig während der ganzen Reise von einem Ort zum nächsten bringen. Der Wagen befand sich noch in erstaunlich gutem Zustand, mit einem Radio und vor allem mit einer Klimaanlage ausgestattet, die in diesem Teil des Landes in fast jedem motorisiertem Fahrzeug zu finden war, selbst in den altersschwachen, die nur noch der Rost zusammenhielt. Anfangs hatte sie diesen Umstand mit der Arroganz des wettererprobten Mitteleuropäers belächelt, doch nachdem sie einmal an einem Hochsommertag auf einer Fahrt ins Dorf mit Harry das Fenster herunter gedreht hatte, und ihr statt der erwarteten kühlen Brise nur die unverminderte Glut des heißen, trockenen Fahrtwinds entgegengeschlagen war, war sie in ihren Bewertungen etwas vorsichtiger geworden.

Kleine Pause

Sie ließ das letzte der abgeernteten Sonnenblumenfelder hinter sich, die das Dorf bei ihrer Ankunft vor 8 Wochen noch wie ein breites, gelbes Band umgeben hatten, und bog auf die Hauptstraße nach Winnipeg ab. Eine gute Stunde später schlug sie an der großen Kreuzung zwischen Portage und Main Street den Weg zum Army & Navy Surplus Store ein, wo sie – für alle Fälle – einen kältesicheren Schlafsack, eine gefütterte Windjacke und ein kleines Zelt kaufte, dem anzusehen war, dass es den ersten kräftigen Windstoß wohl nicht überleben würde. In einem Haushaltswarengeschäft zwei Blocks weiter erstand sie eine Kühltasche, in die sie sogleich ihren ersten Reiseproviant packte. Mittlerweile war es fast Mittag geworden, und ihr leerer Magen brachte sich rumpelnd in Erinnerung. Der erste Teil ihrer Reise würde sie zweitausend Kilometer quer durch die einsamen Ebenen von Saskatchewan bis nach Calgary führen, der Hauptstadt der Provinz Alberta, und von dort weiter bis in die Rocky Mountains. Dies war für mehrere Tage wahrscheinlich die letzte Möglichkeit, etwas Vernünftiges in den Magen zu bekommen, und so entschloss sie sich zu einem umfangreichen Mittagessen, bestehend aus einer Suppe gefolgt von einem Steak mit Beilagen und Nachtisch. Beim Bezahlen wurde ihr bewusst, dass die bis jetzt getätigten Ausgaben bereits ein beträchtliches Loch in ihre Reisekasse gerissen hatten. Sie beschwichtigte ihr Gewissen, indem sie auf ein Trinkgeld verzichtete, und verließ das Lokal mit leicht geröteten Wangen.

Kleine Pause

Sie hatte nicht gewusst, dass es diese unglaubliche Weite gab. Endlos dehnten sich zu ihrer Linken und Rechten die gelbgrünen, sanft gewellten Ebenen der Provinz Saskatchewan, nur hin und wieder graste ein Pferd verloren in seiner Koppel, ragte in der Ferne ein schmuckloser Getreidespeicher auf.

In Calgary verbrachte sie das Wochenende bei einem Geschwisterpaar, Bruder und Schwester, die beide Rechtsanwälte waren. Es waren Freunde von Harry und Susan. Sie hießen Tom und Sally. Sie saßen im Wohnzimmer und tranken einige Fläschchen trockenen Rotweins, bis Tom auf einmal, in schon leicht angeheitertem Zustand, aus dem Zimmer ging und mit einer riesigen Kanada-Fahne zurückkehrte, mit dem typischen Ahornblatt. Sie gefiel ihr sofort, und sie fragte Tom, ob er sie ihr verkaufen würde. Tom sagte: „Wenn du nur in die Fahne gewickelt ins Wohnzimmer kommst, schenke ich sie dir ….Zum Glück ließ er dann doch mit sich reden, und schenkte ihr die Fahne, auch ohne dass sie sich ausziehen musste. Am nächsten Morgen, einem Montag, kam Sally in einem schicken Kostüm zu ihr ins Wohnzimmer, wo sie auf dem Sofa genächtigt hatte. Sie war ja Rechtsanwältin in einem vornehmen Viertel der Stadt, und musste zur Arbeit. Sie verabschiedete sich von ihr mit einem Kuß auf den Mund. - Nachdem sie eine Stunde später allein gefrühstückt hatte, legte sie einen Zettel auf den Küchentisch, auf dem stand: „Danke für alles. Vielleicht sehen wir uns ja irgendwann mal wieder!“

Sie startete ihren Wagen, der auch sofort ansprang, und weiter ging die Reise.
Vor ihr erstreckte sich der Transcanada Highway No. 1, ein schnurgerader, grauer Wurm, der sich in ungebrochener Eintönigkeit Kilometer um Kilometer durch das Land fraß. Die stets gleich bleibende Szenerie ermüdete ihre Augen, und sie legte einen kurzen Stop ein, um einen Becher Kaffee zu trinken; danach fiel es ihr wieder leichter, sich auf das Fahren zu konzentrieren. Bald wandte sich ein Teil ihrer Aufmerksamkeit von der Straße vor ihr ab, und ihre Gedanken wanderten zurück zu dem letzten gemeinsamen Abend mit den kanadischen Freunden Sid und Gigi, Heddas junge „Gasteltern,“ , Klaus, Heddas Freund, der extra herübergeflogen war, um mit Hedda 4 Wochen durch Nordamerika zu reisen, und Cary, einem mit Sid und Gigi befreundeten Baptistenpfarrer, in Winnipeg. Hedda, auch eine Austauschstudentin, und sie hatten Deutsch gekocht, Gulasch mit Kartoffelklößen und Rotkohl, und zum Nachtisch hatte es handgemachte Schwarzwälder Kirschtorte gegeben (was zugegebenermaßen eine recht gewagte Kombination und zudem eine nicht zu unterschätzende Herausforderung an ihre spärlichen Backkünste gewesen war, aber sie hatte den Freunden zumindest einmal zeigen wollen, dass in ihrem Land nicht alles Deutsch war, was man unter diesem Namen kaufen konnte: die in Kanada als „Black Forest Cake“ erhältliche deutsche Spezialität war eine ungeheuer süße Scheußlichkeit aus Lebensmittelfarbe und Chemie. Sid und Cary, hatten sich bereit erklärt, die Zutaten für das Essen zu besorgen, und sich damit, ohne es zu ahnen, auf eine Odyssee durch die Lebensmittelläden der Stadt begeben. Die größte Schwierigkeit stellten die Instant-Kartoffelklöße dar, die schließlich in einem jüdischen kosher Laden in der Innenstadt ausfindig gemacht wurden. Sie hatten viel gelacht an diesem Abend, hatten den Trennungsschmerz von sich gewiesen, den sie alle im Herzen trugen, und noch einmal die unbeschwerte Fröhlichkeit genossen, die sich einstellt, wenn man einem Fremden in die Augen sieht, und das Wesentliche in ihm erkennt, und die verbunden ist mit der sanften Traurigkeit darüber, dass man ihn nie ganz würde erreichen können. Es waren immer diese Begegnungen auf Zeit gewesen, die ihr das Gefühl gaben, lebendig zu sein. Diese Momente, in denen sie die Zartheit und Verletzbarkeit eines Menschen spürte, und ihre Freiheit, seinen ruhenden Kern nicht angreifen zu müssen, um ihm nahe zu sein, eine Freiheit, die ihr des öfteren die Verachtung ihrer Mitmenschen eintrug, da es ihre Art war, sich dem Gott der Aggression zu verweigern. Ihrer Erfahrung nach fürchteten sich die meisten Menschen vor der Ruhe, da sie unweigerlich Selbsterkenntnis mit sich brachte. In diesem Fall hatte sich ein gemeinsamer Nenner finden lassen. Die Zeit mit Sid und Gigi, Cary, Hedda und Klaus war schön gewesen, und die Erinnerung daran würde ihr immer wieder neue Kraft geben.

Kleine Pause

Es war spät geworden, und sie beschloss, in einem der nächsten Orte nach einer Übernachtungsmöglichkeit zu suchen. Der Name „Moose Jaw“ - Elchkiefer - gefiel ihr, und so bog sie von der Straße ab, und fand nach einigem Suchen einen Campingplatz, der noch geöffnet hatte. Man ließ sie ein und wies ihr einen Platz zu. Schnell hatte sie das kleine Zelt aufgebaut und die Luftmatratze aufgeblasen. Sobald ihr Kopf das Kissen berührte, fiel sie in einen tiefen, traumlosen Schlaf. - Am nächsten Morgen war sie wieder fit und munter, so munter, wie man es nach einer Nacht in einem klammen Zelt sein konnte. Sie sehnte sich nach einer heißen Dusche und einer Tasse Kaffee. Den ersten Wunsch erfüllte sie sich sofort, für die Tasse Kaffee musste sie in dem kleinen Ort erst einmal ein Restaurant ausfindig machen. Diesmal war sie hungrig, es war ja auch schon später Vormittag, und so bestellte sie sich ein ausgiebiges Frühstück mit Spiegeleiern, Frühstücksspeck, Toast und – Pommes. Dann fuhr sie zurück zum Campingplatz, baute ihr Zelt ab, packte den Rest ein und nahm ihre Fahrt wieder auf. Ihr Weg führte sie weiter bis in die Rocky Mountains. In Banff Springs übernachtete sie in einer Jugendherberge in den Rockies, und putzte sich am nächsten Morgen in einem kleinen, glasklaren Bach die Zähne. Sie blickte sich um. Vor ihr erhob sich das erhabene Massiv der Rocky Mountains. Bis auf einige Vogelstimmen war alles still. Sie atmete tief ein, nahm den Frieden des Morgens in sich auf. Dann packte sie ihre Sachen in den Wagen, und fuhr weiter. - Auf der Höhe des Glacier National Parks überquerte sie die Grenze zu den Vereinigten Staaten, und verliebte sich auf den ersten Blick in die dunklen, üppigen Wälder von Montana. Bei Winnipeg überquerte sie noch einmal die Grenze und fuhr noch einmal zu Harry und Susan, wo sie die Nacht verbrachte. Am nächsten Morgen ging es weiter.

Sie kam in die Hauptstadt Ottawa, in der Provinz Ontario. Wie meistens übernachtete sie auch dieses Mal in einer Jugendherberge. Der Unterschied zwischen dieser und anderen Jugendherbergen war, dass diese früher einmal ein mittelalterliches Gefängnis gewesen war. Man konnte nachts auch Führungen mitmachen, wo man unversehens auf eine Lache frischen Blutes traf, oder das schaurige Geheul der toten Seelen hörte.

Und als sie am nächsten Morgen nach einem trotz allem erquickenden Schlaf erwachte, war sie unternehmungslustig, und ging daran, das Gebäude zu erkunden. Sie lief einige Treppen herab und hinauf, bog mal nach links, mal nach rechts ab, und stand plötzlich vor einer großen, schweren Holztür. Neugierig fragte sie sich, was sich wohl hinter dieser Tür verbergen mochte. Sie drückte den schweren Holzhebel herunter, ging hindurch, schloß die Tür wieder hinter sich – und befand sich offensichtlich in dem früheren Gefängnisinnenhof. Es war nicht viel zu sehen. Zwei große Kanus lehnten an der hohen Mauer. Also wollte sie wieder hineingehen. Sie drückte den Hebel herunter – nichts. Sie rüttelte und zerrte an dem Hebel – es tat sich nichts! Sie war in Angst und Schrecken. Sie schrie sich die Seele aus dem Leib: Hilfe, Hilfe! Ich bin eingeschlossen! Sie hatte bis jetzt nicht gewußt, dass man unter freiem Himmel Klaustrophobie bekommen konnte.
Aber sie hatte Glück im Unglück. In der Nähe waren einige Maler am Werke, die wohl die Wände neu tünchten. Sie hörten ihr Geschrei, und konnten die Tür von Innen öffnen. (Offensichtlich war es damals wohl so gewesen, dass die Gefangenen zwar in den Hof hineinkommen konnten, aber ohne die Hilfe eines Wärters, der die Tür von Innen öffnete, nicht wieder hinaus.). Einer der Männer sagte zu ihr: „Sie sind selber schuld, Sie haben sich in einem Teil des Gebäudes aufgehalten, in dem Sie nichts zu suchen hatten. Haben Sie nicht die Warnschilder gesehen?“. Sie konnte sich an keine Warnschilder erinnern, und antwortete: „Müssen Sie mir auch noch Vorwürfe machen? Sehen Sie nicht, in welcher desolaten Verfassung ich mich befinde?“

Beim Frühstück in dem dafür vorgesehenen großen Saal dachte sie bei sich: Ich will so schnell wie möglich von hier verschwinden. Ich hasse diese Stadt! Sie packte ihren Schlafsack und alles Andere zusammen, und ließ Ottawa schnell hinter sich.

Kleine Pause

Während sie der Straße weiter folgte, schweiften ihre Gedanken immer wieder ab, zu Vergangenem. Sie dachte an Harry und seinen zärtlichen Sarkasmus, der sie so oft zum Lachen gebracht hatte, an Susan und ihre Art, mit ihrem Gefühl für Harry umzugehen. Sie hatte sich auf ihre Weise dafür gerächt. (Einmal, als sie sich darüber beschwert hatte, dass es im Haus keinen Schrubber gebe, hatte Susan nur gelächelt und geantwortet: „Mach' es auf den Knien, Baby ….macht dich demütig...)

Die Wochenenden verbrachte sie stets mit Hedda und Klaus und den kanadischen Freunden in Winnipeg. Mal gingen sie ins Kino, oder chinesisch essen, oder sie machten einen Zug durch die Gemeinde. An einem Wochenende fuhren sie zum Campen an den Lake Victoria, der in etwa so groß ist wie Israel. Bevor sie Winnipeg verließen, frühstückten sie bei MacDonalds. Am Zielort angekommen, grub Sid erst einmal ein tiefes Loch – für Zwecke der Notdurft...Dann bauten sie die Zelte auf und bliesen die Luftmatratzen auf. Gigi hatte fertig gebratene Hamburger mitgenommen, die sie auf einem kleinen Rost auf dem Lagerfeuer mehr oder weniger erwärmen konnten, und fertiges Rührei mit Brot, für das morgendliche Frühstück. Dazu gab es jede Menge kanadisches Bier. Sie schauten in den Nachthimmel, und konnten den Flug der Satelliten verfolgen. Hedda wartete gespannt auf die kanadischen „Nordlichter“, die man ihr in Deutschland versprochen hatte, diese gewellten Vorhänge aus leuchtendem Licht, aber sie hatte Pech, es waren keine zu sehen. Sie saßen am Lagerfeuer und sangen wehmütige, kanadische Volkslieder, die von Bergen und Tälern handelten, von Heide und grünem Gras, von dunklen Wäldern und vom Meer, dem großen, blauen Bruder, von Einsamkeit und gebrochenen Herzen, von Liebe und Leid. - Am folgenden Tag, einem Sonntag, fuhren sie wieder zurück nach Winnipeg, und sie fuhr mit ihrem Schiff wieder in das kleine Dorf Altona zu ihrer Gastfamilie.

Wenn es Susan und Harry verletzte oder störte, dass sie jedes Wochenende mit Hedda, Klaus und den Freunden in Winnipeg verbrachte, so ließen sie es sich nicht anmerken. Ohne es zu wissen, schottete sie sich gegen diese Familie ab. Zu gefährlich war der Gedanke an die eigene Familie, waren die alten Verletzungen, die wieder hoch kamen, zu deutlich der Unterschied zwischen der Freiheit, den diese Familie ihr bot, und den alten Ketten, die sie fest an ihre ursprüngliche Familie banden. Sie hatte das Gefühl, dass wenn sie sich dieser Familie öffnete, sie ihre eigentlichen Eltern seelisch verraten würde. Aber seit sie kanadischen Boden betreten hatte, hatte sie diese große Traurigkeit nicht mehr verspürt, die sie bis jetzt an jedem Tag ihres Lebens schon als junge Frau stetig begleitet hatte, mal schwächer, und mal stärker. Der weite Himmel über dem Land ließ dafür einfach keinen Platz. Sie dachte zurück an jenen Tag, als Jennifer, die jüngste Tochter von Harry und Susan, „ungezogen“ gewesen war, und ihr ins Gesicht gespuckt hatte. Sie hatte zurückgespuckt, und Harry hatte es gesehen. Seitdem hatte sie das Gefühl, dass er nicht mehr mit ihr sprach. Soll er doch, hatte sie sich zunächst trotzig innerlich gesagt. Doch dann dachte sie, nein, diesmal nicht, diesmal versteckst du dich nicht hinter einer Mauer und lässt nichts an dich ran, diesmal lässt du es zu. Ein Weinkrampf am Telefon, als sie mit Susan darüber sprach, ein weiterer Tränenstrom, als Harry nach der Arbeit zu ihr herunter in ihr Zimmer kam, um die Sache zu klären. Aber sie hatte sich geirrt, seine Schweigsamkeit hatte nichts mit ihr zu tun, und eine große Erleichterung überkam sie. Sie dachte: Du solltest öfter mal Missverständnisse mit deinen Mitmenschen klären, vielleicht ginge es dir dann besser. Dann kam der siebte Geburtstag von Karen, der ältesten Tochter, und die Woge der Kindheitserinnerungen schlug endgültig über ihr zusammen. Sie stand von der Geburtstagstafel auf, murmelte eine Entschuldigung, und ging ins Badezimmer. Dort weinte sie, wie sie seit Jahren nicht mehr geweint hatte, und mit den Tränen floß der Schmerz aus ihr heraus wie ein schmelzender Gletscher. Als die Tränen und der Schmerz abgeebt waren, ging sie ins Zimmer zurück und versuchte, ein möglichst gleichmütiges Gesicht aufzusetzen, was ihr gründlich mißlang, wie sie an Harry's scharfem Blick unschwer erkennen konnte. Dann kam der Tag des Abschieds. „Good-byer, good luck“ stand in der Karte, die ihr Susan und Harry gaben, zusammen mit einem Schlüsselanhänger in Form eines „M's“. Beim Abschied nahmen sie sich zum ersten Mal in den Arm. Schließlich fuhr sie, noch ein letztes Mal winkend, vom Hof, Richtung Winnipeg.

Sie hielt an. Die Gedanken wurden einfach zu übermächtig, sie konnte sich nicht mehr auf das Fahren konzentrieren. Ich habe geliebt und ich habe es nicht gewusst, dachte sie, und das ist wohl das Traurigste, was es gibt.

Kleine Pause

Sie besichtigte den Mittelpunkt des Nordamerikanischen Kontinents in Rugby, und fotografierte einen Elch, der ihr auf der Landstraße vor dem Wagen herlatschte. Dann fuhr sie am Rande der Seenplatte entlang, die Kanada mit den USA verbindet: Eriesee, Ontariosee, Huronsee, Michigansee und Oberer See …dann das französischsprachige Quebec und Montreal. Dann machte sie noch einmal einen Abstecher in die Vereinigten Staaten. Maine, Neu England, Boston. In New York hörte sie auf zu fotografierte Diese riesigen Straßenschluchten konnte man einfach nicht auf Zelluloid bannen, man erhielt immer nur einen kleinen Ausschnitt. Die Freiheitsstatue und das World Trade Centre waren natürlich Pflichtprogramm. Als Musical-Liebhaberin war sie natürlich sehr gespannt auf die Boulevard-Theater auf der 42sten Straße, da wo Manhatten am „manhattigsten“ ist. Sie hatte nicht gewußt, dass an diesem Freitag „Banking Day“ war, also alle Banken geschlossen hatten, und sie hatte nur noch 5 Dollar in der Tasche! Gott sei Dank fand sie einen kleinen Gemischtwarenladen, wo sie einige Hygieneartikel kaufte, und dann mit einem Travellercheck bezahlen konnte. Den Rest gab der kleine, kahlköpfige Mann hinter der Ladentheke ihr dann heraus. Sie wohnte in New York in einem „International Students Hotel“, dessen Räumlichkeiten sich ab dem 15 Stockwerk nach oben befanden. In den Stockwerken darunter waren nur Büroräume. Als sie einmal auf den Aufzug wartete, trat ein älterer Herr zu ihr, und wartete ebenfalls. Als die Aufzugtüren offen glitten, stützte sie den älteren Herrn am Ellbogen, um ihm beim Einsteigen behilflich zu sein. Er riss sich von ihr los, und sagte: „Lassen Sie mich sofort los, lassen Sie mich in Ruhe!“ Dann, als er vielleicht sah, dass sie ein bisschen blass wurde, sagte er: „Sorry.“ Sie nickte nur, und verzieh ihm auf der Stelle. Man musste wohl als älterer Mensch in New York damit rechnen, überfallen und ausgeraubt zu werden.

Natürlich ging sie auch ein bisschen im Central Park spazieren. Plötzlich kam sie an einen Stand, wo ein Mann künstliche, blau-weiße Blumen verkaufte. Sie gefielen ihr so gut, dass sie gleich drei davon kaufte. Hundert Meter weiter kam sie an einer Bank vorbei, auf der eine relativ junge Frau von vielleicht Anfang dreißig ganz allein saß. Sie machte einen sehr bedrückten Eindruck. Sie überlegte sich, ob sie diese Frau ansprechen sollte, um vielleicht eine Abfuhr einzukassieren. Nach einem oder zwei Momenten des Überlegens entschied sie sich dafür. Sie fragte: „Ist alles in Ordnung mit Ihnen? Kann ich irgendetwas für sie tun?“ Die Frau sagte zunächst: „Nein, nein, es ist alles in Ordnung.“ Aber sie ließ nicht locker uns sagte: „Aber ich sehe es doch Ihrem Gesicht an, dass irgendetwas nicht stimmt.“ Und dann erzählte die junge Frau ihr, dass ihr Chef sie nach 15 Jahren der Mitarbeit von heute auf morgen den Stuhl vor die Tür gesetzt hatte. Sie konnte nichts weiter tun, als sich ihren Kummer anzuhören und ihr eine ihrer Blumen zu schenken. Sie sah ihr an, dass diese Geste sie rührte. Selbst nach all den Jahren musste sie manchmal noch an diese Frau denken.

An einem Tag hatte sie Lust, einfach mal kreuz und quer durch New York zu fahren.
Sie durchquerte ein vornehmes Wohngebiet mit prachtvollen Residenzen, in denen sicherlich sehr reiche New Yorker lebten, und eine vierspurige Straße mit vielen Geschäften, auf der es von Menschen nur so wimmelte. Sie fuhr auch die Fifth Avenue herunter, und bestaunte das vornehme Waldorf-Hotel, mit seinen vielen internationalen Fahnen. Nach ca. einer halben Stunde des Herumfahrens wurde ihr bewusst, dass die Umgebung sich nach und nach veränderte. Die Gegend wurde immer ärmlicher, alte Zeitungspapier-Fetzen wurden über die Straße geweht, überquellende Mülltonnen begannen sich zu häufen, es gab jede Menge streunende Katzen und Hunde – und sie sah nur noch schwarze Menschen! Spätestens da wurde ihr bewusst, dass sie mitten in Haarlem gelandet war. Und plötzlich fing der Motor an zu stottern und zu spucken, und gab dann ganz den Geist auf.

Sie sass bibbernd im Wagen und dachte: Oh Gott, ich werde erschlagen, ich werde erstochen, ich werde erschossen! Dann kam ein Mann auf sie zu und fragte auf Englisch: Was ist los? Ich antwortete: der Motor tut es nicht mehr. Der Mann sagte: Machen Sie mal die Haube auf. Sie tat es, er machte eine kurze Handbewegung, und sagte dann: Probieren sie es jetzt noch mal. Sie versuchte den Motor zu starten – und es funktionierte! Der Mann beugte sich zum Fenster herunter uns sagte: Sehen Sie zu, dass Sie hier nie wieder stecken bleiben.

Immer noch am ganzen Leibe zitternd, fur sie, zunächst etwas langsam, um sich erst mal von diesem Schreck zu erholen, dann zügiger, bis sie aus der Gefahrenzone gekommen war. Sie atmete tief ein und sagte: Uff! Das ist ja gerade noch mal gut gegangen.


Sie verließ New York, und ihr Ziel waren die Niagarafälle, denen sie nur einen kurzen Besuch abstattete, denn dort gab es massenweise japanische Touristen mit eifrig klickenden Kameras, und das war ihr zuviel Kommerz. Dann, zu guter Letzt, kam die Endstation ihrer Reise: Toronto. Sie quartierte sich in der Jugendherberge ein, und wartete auf Hedda und Klaus. Die Wiedersehensfreude war groß. Es war schon 4 Wochen her, seitdem sie sich zum letzten Mal gesehen hatten. Sie gingen zusammen die Yong Street hinunter, und kehrten in einer Kneipe ein, die „Gaswork“ hieß. Dort hauten sie Hedda's letzte 40 Dollar auf den Kopf, und hörten einer Hard Rock Band zu. Sie wollte es hinausschreien, wollte sagen:“Mein Leben hat sich verändert, es wird nie mehr so sein wie zuvor!“ Aber ihre Lippen blieben versiegelt. - Sie versuchte bei verschiedenen Gebrauchtwarenhändlern, ihren Wagen zu verkaufen, aber niemand wollte ihn, er hatte keine Automatik, und die Batterie hatte den Geist aufgegeben. Schließlich ließ sie ihn für 15 Dollar bei einem Schrotthändler. Das Nummernschild nahm sie ab – als Souvenir.

Kleine Pause

Auf dem Rückflug ging es einigermaßen turbulent zu. Insgesamt waren es 60 deutsche Austauschstudenten, die – arbeitend und reisend – drei Monate in Kanada verbracht hatten. Jeder hatte etwas erlebt, wollte sich mitteilen, erzählen. Der Rotwein floss in Strömen, die Stewardessen warfen ihnen böse Blicke zu, weil die anderen Passagiere schlafen wollten, aber das störte sie nicht in ihrem Übermut. Sie wappnete sich innerlich gegen, das, was in wenigen Stunden in Deutschland auf sie warten würde. Bis auf eine Ansichtskarte hatte sie sich in den letzten drei Monaten nicht bei ihrer Familie gemeldet. Es hatte ihr auf seltsame Weise gut getan, und das gab ihr zu denken. Sie knipste das Licht über ihrem Kopf aus, drehte sich auf die Seite und versuchte, ein wenig zu schlafen.

Kleine Pause

Morgens um sieben landeten sie auf dem Flughafen Frankfurt am Main. Sie stieg in die S-Bahn zum Bahnhof, erkundigte sich, wann ein Zug nach Münster fuhr, und bestieg um kurz vor acht den ICE. Nachdem sie im Zugrestaurant eine Tasse Kaffee zu sich genommen hatte, fühlte sie sich dem Tag gewachsen. Sie sah aus dem Fenster und hing ihren Gedanken nach. Seltsam, wie alles gekommen war. Eins nach dem anderen hatte sich zusammengefügt, bis ein Ganzes daraus geworden war. Sie hatte die Chance bekommen, ein ganz neues Leben zu beginnen, und, bei Gott, sie würde diese Chance nutzen. Es würde nicht ohne Schmerzen abgehen, sich ihrer alten Haut zu entledigen und sich eine neue zuzulegen, aber das war es ihr wert.

Falls alle Stricke rissen – denk dran, Mädchen: Kanada ist gleich um's nächste Eck, nur einen Wimpernschlag entfernt, ein Moment - und du bist da. Sonnenblumen, ich komme ...


© Marion Albrecht


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Beschreibung des Autors zu "Sonnenblumen - eine Reise durch Kanada"

Ein Abenteuer-Reisebericht mit einem Schuss Drama. Eine Geschichte für alle, die sich gerne mal den Wind der großen Weiten Welt um die Nase wehen lassen, um das triste Leben, das wir in diesen Krisenzeiten führen, einmal hinter sich zu lassen, und wenn es nur für ein Stündchen ist ...

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