Eine Wanderung am grünen Band

Wer glaubte, die Zeit der Grenzzäune in Europa gehöre der Vergangenheit an,
sah sich in den letzten Wochen getäuscht. Ungarn hat an der serbischen Grenze
einen neuen Zaun errichtet – ein Anachronismus in einer Zeit, in der Daten,
Fakten, Informationen, Meinungen, Wissen fast ungehindert, grenzenlos,
ausgetauscht werden können. Nicht nur ein unschönes, auch ein untaugliches
Mittel, um Menschen auf ihrer Flucht vor Tod und Vernichtung, auf dem Weg
in eine bessere Zukunft aufzuhalten. Daß Menschen sich in unseren Zeiten
weder weg- noch einsperren lassen, hat die jüngere deutsche Geschichte gezeigt.
Zäune und Mauern an der Grenze zwischen den beiden Staaten auf deutschem
Boden konnten auf Dauer keinen Bestand haben. Die meisten Ost- wie Westdeutschen
haben den Riß, der Menschen und Landschaften voneinander trennte,
schmerzlich empfunden. Auch Menschen meiner Generation, der nach dem
zweiten Weltkrieg aufgewachsenen, die nichts anderes kannten als zwei
deutsche Staaten, konnten sich nur schwer mit der Grenze abfinden, auch
diejenigen nicht, welche die gesellschaftlichen Wandlungen im Osten als
Gegenentwurf zum Kapitalismus grundsätzlich für richtig hielten. In meiner
Heimat, dem Harz, waren Teilung und Grenze ständig präsent, es gab einen
Ostharz und einen Westharz. Harzorte wie Goslar, Braunlage, St. Andreasberg,
Clausthal-Zellerfeld waren uns nur durch Erzählungen von Eltern und Verwandten
bekannt. Um so größer war unser Interesse daran. Eine alte Landkarte
des Harzclubs, den gesamten Harz darstellend, habe ich so lange studiert, bis sie
schließlich ganz zerfallen war. Natürlich wanderten wir als Kinder mit unseren
Eltern oder auf Schulausflügen auch im Oberharz, fast in Grenznähe. Sogar den
sagenumwobenen Brocken bestiegen wir im zeitigen Frühjahr 1959 mit unserem
Klassenlehrer. Das war dann 1961 vorbei, der Brocken war für die meisten
gesperrt, für West- wie Ostharzer nur noch ein Sehnsuchtsort. Nur noch aus der
Ferne konnte man bei klarem Wetter den Brocken, den deutschesten aller
deutschen Berge, und den benachbarten, mit seinem Gipfel im Westen gelegenen
Wurmberg, sehen. Harzorte wie Beneckenstein, Schierke, Tanne und Sorge
lagen im Sperrgebiet und konnten von den dort nicht Ansässigen nur mit einem
Passierschein betreten werden. Das änderte sich erst viel später als einige Orte
von touristischem Interesse aus dem Sperrgebiet herausgenommen wurden. Dem
Sperrgebiet folgte in Richtung Grenze ein Schutzstreifen, bis zu 500 m breit,
dann der Kolonnenweg, auf dem die Grenzposten patroullierten, danach ein 10m
breiter, gepflügter und von Bewuchs frei gehaltener Kontrollstreifen und dann
der Grenzzaun, meist ein doppelter Stacheldrahtzaun, manchmal eine Betonmauer
mit oben aufliegender runder Mauerkrone. Das war aber noch nicht die
von den Alliierten auf mehreren Konferenzen in der Nachkriegszeit festgelegte
Grenze, die erst im Anschluß an das Niemandsland verlief. Zu sehen ist davon
heute nicht mehr viel. Ab und an bemerkt man an der ehemaligen Grenze noch
einen der alten Beobachtungstürme. Bis auf den Kolonnenweg wurden die
Grenzanlagen mit wenigen Ausnahmen abgebaut. Der Kontrollstreifen, auch
Todesstreifen genannt, denn beinahe tausend Menschen fanden hier den Tod, ist
nicht mehr erkennbar, die Natur hat ihn sich zurückgeholt. Umweltaktivisten
haben rechtzeitig die einmalige Chance erkannt. Was vom Menschen getrennt
wurde, kann die Natur verbinden. Im Schutz der Grenzanlagen, vom Kontrollstreifen
einmal abgesehen, wurde der Natur eine Ruhepause gegönnt. Es entstand
ein Refugium für die bedrohte Tier-und Pflanzenwelt. 1200 Tier- und
Pflanzenarten, die auf der „Roten Liste für bedrohte Tier- und Pflanzenarten“
stehen, konnten da, wo Menschen einen unsinnigen Tod fanden, überleben. War
es da nicht viel besser durch ein „Grünes Band“, das sich mit Wäldern, Wiesen,
Hecken, Biotopen durch das gesamte Land zieht, an das Vergangene zu
erinnern, als diese Flächen und das darauf vorhandene Leben dem Vordringen
von Industrie und Landwirtschaft zu opfern? Das frühe Wirken des Bundes für
Umwelt und Naturschutz Deutschlands (BUND) und der Verantwortlichen der
letzten Regierung der DDR hat sich gelohnt. Durch Spenden, die Ausgabe von
Anteilsscheinen und Aktien wurden die Flächen des Grünen Bandes noch über
den alten Schutzstreifen hinaus erweitert. Das 1400 km lange Grüne Band wurde
an die angrenzenden Bundesländer übergeben. 2003 übernahm Gorbatschov die
Schirmherrschaft und dieser Tage wurde das grüne Band im Rahmen der UNDekade
zum Projekt des Monats erklärt und ist Bestandteil eines europäischen
Grünen Bandes. Im Harz ist entlang des Grünen Bandes der „Harzer Grenzweg“
als Fernwanderweg vom Fallstein bei Osterwieck im nördlichen Harzvorland bis
Bad Sachsa südlich des Harzes entstanden. Mit 92 km ist er etwas kürzer als der
„Harzer Hexenstieg“ von Thale bis Osterrode, den ich im vorigen Jahr in drei
Etappen geschafft hatte. Schon zu diesem Zeitpunkt hatte ich vom Grenzweg
gehört und gelesen, aber den letzten Anstoß, mich auf eine Wanderung entlang
des Harzer Grenzwegs zu begeben, erhielt ich erst durch eine Sendung von
MDR Figaro „25 Jahre Naturparks in Ostdeutschland“, in der auch das Grüne
Band im Harz erwähnt wurde. Nun gab es kein Zögern und Zaudern mehr. Ich
wollte den Harzer Grenzweg kennenlernen. Mein Plan war, die Strecke in zwei
Tagen zurückzulegen und am zweiten Tag mit der Regionalbahn von Bad
Sachsa nach Niedersachswerfen zu fahren, um von hier die Rückreise mit der
aus Nordhausen kommenden Harzquerbahn fortzusetzen. Die gesamte Strecke
über den Harz hatte ich mit der Schmalspurbahn noch nie zuvor zurückgelegt.
Dann stellte ich aber fest, dass ein durchgehender Zug schon am Mittag in
Nordhausen startet. Also blieben mir für die Wanderung nur ein voller Tag und
der Vormittag des zweiten Tages, eine echte sportliche Herausforderung, die
aber den Erfolg bei der Suche nach einem Wandergefährten stark einschränkte.
Und so kam es dann auch. Mein achtzehnjähriger Enkel Richard lehnte mein
Angebot, mich zu begleiten, ab. Er ist zwar ein talentierter Konzertgitarrist und
mehrfacher Preisträger der Bundeswettbewerbe von „Jugend musiziert“, aber
gemeinsam mit seinem Großvater einen Wettlauf über den gesamten Harz,
einschließlich des Brockengipfels zu machen, entsprach nicht ganz seinen
Intentionen. Da er aber gerade sein Studium an der Hochschule Harz in
Wernigerode-Hasserode begonnen hatte, dort eine Studentenbude und einen
ungenutzten Parkplatz besaß, schlug er vor, mein Auto dort zu parken und die
Wanderung nicht in Osterwieck, sondern in Hasserode beginnen zu lassen.
So begann mein Marsch also nicht in Osterwieck. Mein Weg folgte zunächst
nicht dem Verlauf der ehemaligen Grenze an Lochhum und Abbenrode vorbei,
an der Ecker entlang bis Stapelburg und dann durch das Eckertal zur Eckertalsperre
und weiter über den kleinen Brocken zum Brocken, sondern durch das
Tal der „Steinernen Renne“ zum Brocken. Ich hatte mich darüber informiert,
dass diese Wanderung auch schon bei den Touristen des ausgehenden 19. Jahrhunderts
sehr beliebt war und ich bis zum Brocken 15 km zurückzulegen hatte,
bevor ich dort auf den Grenzweg stoßen würde. Dieser Weg wird auch „Hasseröder
Stieg zum Brocken“ genannt und die Wegmarkierung ist ein schwarzumrandetes
weißes Dreick mit rotem Punkt. Ich konnte also nicht fehl gehen, wenn
ich nur dieser Markierung folgen würde. Am Gasthof „Steinerne Renne“ entschloß
ich mich, einen Abstecher zum Ottofelsen zu machen, denn das Wetter
war klar und ich versprach mir einen schönen Fernblick auf Wernigerode und in
die Ebene.
Die Mühe des Aufstiegs auf den Felsen über mehrere Leitern lohnte sich. Oben
angelangt bot sich ein herrlicher Ausblick auf die Harzlandschaft. Um die für
den kleinen Abstecher benötigte Zeit wieder einzuholen, lief ich dann am ehemaligen
Forsthaus Hanneckenbruch vorbei zum Oberen Hohneweg. Hier sollte
man links abbiegen, was ich auch tat und dann war das Dreieck mit rotem Punkt
nicht mehr zu finden. Ich lief über den neu angelegten Moorstieg über Bohlen
und Bretter und dann steil bergan, hatte aber das unbestimmte Gefühl, dass die
Richtung zum Brockengipfel nicht mehr stimmen konnte, also hielt ich mich
weiter rechts und wanderte lange auf einem sehr sumpfigen Weg bis ich schließlich
zum Molkenhausstern gelangte. Nun war der Brockengipfel nicht mehr
weit, aber zwischen meinem Standort und dem Gipfel lagen die Zeterklippen
und von dort gab es keinen direkten Weg zum Brocken, wie ich der Wanderkarte
entnahm. Also wieder zurück und noch einmal den sumpfigen Weg
entlang. Kurz nach 10.00 Uhr war ich in Wernigerode gestartet. Als ich schließlich
nach weiteren Umwegen auf der Brockenchaussee anlangte, war es schon
früher Nachmittag. Im Dauerlauf ging es dann das letzte Stück zum Brocken
hinauf. Bei prächtigem Sonnenschein langte ich oben an und hatte einen phantastischen
Fernblick in alle Richtungen. Für eine Besichtigung des Brockengartens
reichte die Zeit nicht, denn ich wollte unbedingt noch Hohegeiß vor
Einbruch der Dunkelheit erreichen. Im Touristensaal, der großen und, wie ich
fand, unfreundlichen Selbstbedienungsgaststätte, nahm ich einen kleinen Imbiß.
Als ich das Restaurant wieder verließ, war der kahle Gipfel in eine dicke Wolke
gehüllt, man sah nichts mehr, kaum noch die Hand vor Augen, es stürmte und
der kalte Wind trieb mir den Regen in die Augen. Ja, nun war ich auf dem
Blocksberg, der unwirtlichen, sagenumwobenen Welt der Hexen, die hier in der
Walpurgisnacht ihre ausgelassenen Späße treiben. Welch ein Wandel! Ich fror
in meiner sommerlichen Wanderkleidung. Im Eiltempo ging es die Strasse
hinunter, bis zum Abzweig des Goethewegs nach Torfhaus und nun erst war ich
auf dem Harzer Grenzweg, einem der drei Fernwanderwege, die über den
Brockengipfel führen. Nur die beiden Betonplattenspuren erinnern noch an die
Grenze und daran, dass der Gipfel für lange Zeit als Wanderziel gesperrt war.
In der Ferne hörte man die Lokomotive der Brockenbahn fauchen und schnauben,
dann roch man den Rauch und dann fuhr der Zug langsam an mir vorbei.
Hinter den Scheiben der Wagenfenster erblickte ich die erwartungsvollen
Gesichter weiterer Brockenbesucher. Schade, sie würden keinen Fernblick
genießen können! Ich hatte auch jetzt mehr Glück, denn die Wolke war schon
über und hinter mir und die Sicht hatte sich jetzt, am Eckersprung, verbessert.
Der Weg an der Ecker entlang nach Torfhaus biegt nach rechts ab. Hier war, so
vermutet man, am 10. Dezember 1777 ein Herr Weber in Begleitung des
Försters Degen zum Brocken aufgestiegen. Der Geheimrat Goethe aus Weimar
reiste inkognito. Vielleicht, weil er befürchtete, in Weimar würde man ihn für
verrückt erklären, wenn man erführe, dass der Minister im Winter bei Schnee
den rauhen Berg bestiegen hatte. In jenen Zeiten galt selbst der einfache Aufstieg
von Torfhaus als Abenteuer. Heute nehmen etwa 200000 Touristen pro
Jahr diesen Weg und vermutlich noch viel mehr kommen mit der viel bequemeren
Brockenbahn, die von der Harzer Schmalspurbahnen Gesellschaft (HBS)
betrieben wird. So ist auf dem Brocken immer viel los, sogar Faust I und II kann
man als Rockoper erleben, ein Projekt der HBS. Die wiedergewonnene Freiheit
des Brockengipfels scheint nun weitgehend vom Kommerz ausgefüllt zu sein.
Ich folgte nicht Goethes Spuren und verließ den Goetheweg, um am Bodesprung,
Bodebruch und dem roten Bruch vorbei, den Großen Winterberg hinaufzusteigen.
Der Wurmberg blieb rechts liegen. Zuerst verläuft der Kolonnenweg
entlang eines kleinen Baches, der Bremke, dann entlang der warmen Bode, die
aus dem Zusammenfluß der von der Achtermannshöhe kommenden kleinen und
der im Brockenfeld entspringende großen Bode entsteht.
Auf dem Löcherbeton des Kolonnenweges lief es sich nicht gerade bequem.
Man konnte auf den durchlöcherten Betonplatten laufen, riskierte dabei aber
dass der Schuh in eines der Löcher rutschte oder man entschied sich für die
Mitte zwischen den Platten auf der unebenen Grasnarbe. Man konnte aber auch
versuchen, neben dem Betonweg zu gehen, was wegen der Unebenheiten dort
auch nicht viel einfacher war. Außerdem dämmerte es bereits, es war die Stunde
der Jäger, die vielleicht auf einem der vielen Hochsitze, die ich in der Nähe des
Weges bemerkte, nach Rehen, Rotwild oder Wildschweinen Ausschau hielten.
Ich stellte mir vor, wie sie dort oben saßen, die Büchse im Anschlag und auf die
Jagdbeute wartend. Es geschieht zwar selten, aber erst am Vormittag hatte ich
unter den vielen Hiobsbotschaften in der lokalen Presse die Nachricht entdeckt
„Waldspaziergänger von Jäger angeschossen“. Vorsichtshalber schnallte ich die
Wanderstöcke von meinem Rucksack ab und setzte deren Metallspitzen bei
jedem Schritt geräuschvoll auf die Betonpiste. Auch war mir klar, dass ich
Hohegeiß nicht mehr bei Tageslicht erreichen konnte, änderte meinen Plan und
beschloß, in Sorge zu übernachten. Das bedeutete aber auch, dass die Etappe,
die am kommenden Tag zurückzulegen war, nun länger wurde. Man könnte statt
Bad Sachsa auch das ebenfalls an der Bahnlinie Göttingen-Nordhausen gelegene
Walkenried ansteuern, überlegte ich weiter. Dann müßte alles gut zu schaffen
sein.
Die letzte Wegstrecke wanderte ich entlang der B242 und erreichte Sorge bei
vollständiger Dunkelheit in der Hoffnung, in dem kleinen Ort, aber immerhin
einer Station der Harzquerbahn, ein Bett für die Nacht zu finden. Und da
erblickte ich in der Ferne auch schon ein größeres hell erleuchtetes Gebäude.
Das konnte nur ein Hotel sein! Hoffnungsvoll steuerte ich auf die Lichter zu.
„Villa sorgenlos“ las ich auf einem großen Schild an der Frontseite des Gebäudes.
Das sah gut aus und versprach, auch nicht zu teuer zu werden, denn die
Besitzer hatten die teurer klingende Variante „Villa sans souci“ vermieden.
Vor dem vermeintlichen Hotel standen mehrere Gruppe junger Männer. Ich
hörte Wortfetzen mir fremder Sprachen, in denen sie sich unterhielten, näherte
mich einer der Gruppen und fragte, vorsichtshalber auf Englisch, nach freien
Zimmern. „Ja“, antwortete einer der jungen Männer, ich solle nur hineingehen.
Ich fragte, woher er käme und erfuhr, daß es sich um einen Kriegsflüchtling aus
Syrien handele. Auch die Danebenstehenden wollten sich mit mir unterhalten
und begannen zu erzählen, woher sie kamen. Ein Mann, der aus der „Villa
sorgenlos“ kam, unterbrach unsere Unterhaltung. „Was wollen Sie“, herrschte er
mich an. „Das ist eine Asylantenunterkunft, gehen Sie weiter“. Ich wunderte
mich, war aber zu müde, um Widerspruch einzulegen und setzte meine Suche
nach einer Unterkunft fort. In einer Pension erfuhr ich, dass alle Zimmer belegt
seien, es im Ort aber noch das Hotel „Haus Sonnenschein“ gäbe und ich dort
vielleicht mehr Glück haben würde. Wenig später blickte ich durch große Terassenfenster
ins Innere des Hotelrestaurants. Das Restaurant war gut besucht,
wirkte gemütlich und ich trat ein. Auf meine Frage nach einem freien Zimmer
erteilte mir der Wirt eine positive Antwort, wenn ich aber noch zu Abend essen
wolle, so müsse ich es sofort tun, denn die Küche würde demnächst schließen.
Auf meine Frage, ob ich mir vor dem Essen noch die Hände waschen könne,
ging er nicht ein, sondern schlug mir zwei Gerichte zur Auswahl vor. Ich wählte
die Waldpilze, verzichtete aber auf das Rührei dazu. Nachdem ich mich gesetzt
und den Rucksack neben mich gestellt hatte, kam ein älterer Mann von einem
der Nachbartische heran und wollte wissen, woher ich käme und wie weit ich
gelaufen sei. Ich rechnete nach und kam mit allen Umwegen, die ich bei der
Brockenbesteigung gemacht hatte, auf 50 km. Er staunte und verließ mich als
mein Essen kam. Ich hatte gut gewählt, das Pilzgericht schmeckte mir ausgezeichnet.
Auch das Zimmer, das mir nach dem Essen gezeigt wurde, war gemütlich
und ich war zufrieden, legte mich bald schlafen und wachte erst gegen sieben
Uhr am nächsten Morgen wieder auf.
Ich hatte das Etappenziel meines ersten Tagesmarsches nicht erreicht und überlegte
während des Frühstücks, wie ich mein Wanderziel noch am Vormittag
des zweiten Tages erreichen könnte. Auf der Suche nach einer Unterkunft hatte
ich am Vorabend einen Weg, eigentlich eine kleine Straße, entdeckt, der mit
einem roten Dreieck in weißem Quadrat gekennzeichnet war. Die Landkarte
belehrte mich, dass ich auf diesem Weg schneller nach Hoheheiß kommen
würde, als wieder zum Grenzweg zurückzukehren, außerdem war er viel
bequemer als der Kolonnenweg. Ich schlug also diesen Weg ein und sah nach
einer schönen Wanderung durch einen Fichtenhochwald bald schon die ersten
Häuser von Hohegeiß. Kurz vor Erreichen des Ortes traf meine Strasse auf den
Grenzweg, in den ich wieder einbog. Heute lief es sich viel besser als gestern.
Tatsächlich, die Betonplatten hatten einer Kiesdecke Platz machen müssen. Auf
dem dunkelgrauen Kies wanderte man nicht nur unbeschwerter, er sah auch
besser aus, hier am geschützten grünen Band. Nachdem ich den Dreiländerstein
erreicht hatte, an dem die drei Bundesländer Niedersachsen, Sachsen-Anhalt und
Thüringen zusammentreffen, war klar, dass ich meinen Zeitplan einhalten
könnte. Der Südharz begann schon und es war nicht mehr weit bis nach Walkenried.
Ich konnte mir mehr Zeit lassen. Aber auch ohne diesen Vorsatz wurde ich
langsamer. Der Weg wurde wieder durch die beiden Reihen durchlöcherter
Betonplatten gebildet. Jetzt am Morgen waren sie noch feucht und glitschig,
wahre Stolperfallen. Aber dem Anliegen des Grünen Bandes, einen Streifen
unberührter Natur mit vielen Biotopen zu schaffen, wurden sie gerecht. An den
meisten Wegabschnitten wuchsen Gräser und andere Pflanzen aus den Löchern,
an den Rändern des Weges und zwischen den beiden Betonstreifen. Auf Schritt
und Tritt bemerkte man, dass der Weg nicht als Wanderweg entstanden war,
sondern dem ehemaligen Grenzverlauf folgte, steil anstieg, über Berggipfel und
Hügelkuppen hinweg und dann wieder stark abfiel, an vielen Stellen verlief er
nicht gerade, sondern nach links und dann wieder scharf nach rechts. Das war
hier im Dreiländereck besonders auffällig und hatte wahrscheinlich mit dem
historischen Grenzverlauf zwischen den deutschen Kleinstaaten zu tun. Dort, wo
der Weg steil anstieg oder abfiel, hatten die Pflanzen es noch nicht geschafft,
die Löcher der Betonplatten auszufüllen. In den Kurven waren die Platten quer
verlegt worden. Ich dachte gerade darüber nach, dass ich sowohl gestern als
auch heute außer Rehen, Füchsen, Vögeln und anderem Getier auf dem Weg
noch keiner lebenden Seele begegnet war, als ich aus der Ferne Stimmen
vernahm. Ich hatte schon die alten Laubwälder am Sylzhainblick und der
Stiefmutter hinter mir gelassen und als ich über eine Hügelkuppe gestiegen war,
bemerkte ich in der Senke eine Gruppe von Männern. Beim Näherkommen sah
ich die Motorsägen zu ihren Füssen, offenbar also Waldarbeiter. Nachdem wir
uns begrüsst hatten, bat ich, etwas provokatorisch, darum, den Wald nicht völlig
umzulegen. Sie gingen auf meinen Ton ein. „Doch“, antworteten einer von
ihnen, „das werden wir tun.“ „Danach kommt hier eine geschlossene
Betondecke her, damit solche wie du hier besser laufen können“, fügte ein
anderer hinzu. Und um das Maß voll zu machen, sagte ein Dritter:
„Zum Schluß bauen wir wieder einen hohen Stacheldrahtzaun, damit die
Neonazis nicht nach Thüringen kommen“. Ja, wir waren in Thüringen, wie mir
der singende thüringische Dialekt der drei Redner verraten hatte. Mein
Gastgeber in Sorge hatte noch in einem Tonfall gesprochen, der an das
ostfälische des Nordharzes erinnerte.
„Na, die habt ihr doch selbst in eurem schönen grünen Thüringen“, gab ich
zurück. Wir vertieften dieses Thema nicht weiter und nachdem wir uns einen
guten Tag und guten Weg gewünscht hatten, setzte ich meine Wanderung fort
und erreichte noch vor 12.00 Uhr Walkenried. Es war noch genügend Zeit, um
der Ruine der ehemaligen Zisterzienserabtei einen kurzen Besuch abzustatten.
Im noch erhaltenen Klausurgebäude gibt es jetzt ein Museum, dessen Besuch ich
auf einen späteren Ausflug nach Walkenried verschob. Zum Bahnhof war es
nicht mehr weit und nach kurzer Wartezeit bestieg ich einen aus Göttingen
kommenden und nach Nordhausen fahrenden Regionalzug, den ich in Niedersachswerfen
wieder verließ, um den halben Kilometer zur Station der Harzquerbahn
zu wandern. In einem nahe der Bahnstation gelegenen Reisebüro mit dem
Hinweis „Agentur der HSB“ kann man Fahrkarten kaufen. Eigentlich hatte ich
erwartet, dass die Schmalspurbahn durch eine Dampflok gezogen, schnaufend
und Signal gebend in die Station einrollen würde, aber es kam ein Triebwagen.
Die Fahrt ging über mehrere Zwischenstopps an Stationen in und um Ilfeld
harzaufwärts bis „Eisfelder Talmühle“. Dort steigt man in die richtige,
dampfende Harzbahn um und dann geht es weiter durch die Harzberge bis Drei
Annen Hohne. Hier wartet der Zug auf die Brockenbahn und nachdem die
Fahrgäste, deren Harzausflug in Wernigerode enden sollte, umgestiegen waren,
ging die Fahrt weiter. Nun ging es wieder bergab, am Hotel Drei Annen vorbei,
zur Station „Steinerne Renne“ und dann nach Hasserode, dem Ziel meines
Ausflugs.


© Klaus Denecke


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Beschreibung des Autors zu "Eine Wanderung am Grünen Band"

Der Text beschreibt eine Wanderung am "Grünen Band" im Harz, der ehemaligen Grenze zwischen West und Ost und stellt Bezüge zu aktuell-politischen Ereignissen her.

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