Audienz bei Andersen

oder

Über die Kunst, Menschen zu beurteilen

(eine kleine Sammlung von Sprüchen)


An Hans Christian Andersen scheiden sich die Geister. Alle Kinder mögen ihn. Unter den Erwachsenen sind einige, die ihn ebenfalls mögen. Einige bedauern ihn. Einige hassen ihn.


Ursprünglich wollte er Tänzer werden, das schaffte er dann auch, er tanzte aus der Reihe.


Der digitale Andersen: Man hat ihn öffentlich heruntergefahren. Letzter Status: Liebgewonnenes verkorkstes Kind.


Dänemarks Frauen und Mädchen besaßen die Gabe, Andersens Tauglichkeit zum Ehemann einzuschätzen. Er wusste, dass er durchfällt. Sie brauchten etwas Solideres.


Andersen advanced: Man konnte ihn auch beneiden. Ihm stand Hightech zur Verfügung. Er fuhr mit den ersten Eisenbahnen.


Beurteiler brauchen Sympathie. Ein sympathischer Beurteiler kann uns einen ganz neuen Andersen vor Augen stellen und uns in Staunen versetzen. Hat Andersen unsere Sympathie, ist nichts Aufregendes passiert: Es hat einer bei Andersen eine Spindkontrolle durchgeführt und nichts gefunden.

Als Diener zweier Herren: Des Geschlechtstriebs und des Selbsterhaltungstriebs. Warum hat es Andersen nicht zerrissen?


Andersen mechanisch: Stehaufmännchen


Ein guter Andersen-Beurteiler wird nicht auf den Gedanken kommen, sich mit ihm zu vergleichen.


Keine schlechte Idee: Andersen einen Schattenmann hinzugesellen, der geschrieben hätte, was Andersen hätte schreiben sollen, aber nicht geschrieben hat. Eine ernste Konkurrenz für Andersen! Ein solcher Andersbessersen ist jedoch bisher noch nicht gesichtet worden.


Die Furchtlosigkeit der Beurteiler ist bewundernswert.


Siegfried R., Seminargruppentreffen, Erinnerung an die Studentenbude: "Die Galoschen des Glücks hatten uns monatelang beschäftigt."


Alle Menschen, die im Gleichtakt leben, sagen: Man darf nicht aus der Reihe tanzen.


Andersen musste Demütigungen einstecken, als abstoßendes Gegenbeispiel herhalten. Da er eine sehr bekannte Persönlichkeit ist, gibt er unzähligen Menschen Gelegenheit, an seinem schlechten Beispiel "moralisch sich emporzuranken".* Eine starke soziale Leistung!


Die Menschen verstehen nicht die Beunruhigung, die von Andersen ausgeht. Sie leben in der Welt, in der alle das gleiche tun.


Andersen arithmetisch: Widersprüchliche Persönlichkeit + skurrile Erscheinung + anstrengende Egozentrizität + Hypochonder + Ruhmsucht + aufdringlich + überempfindlich + eitel + Jagd nach Beifall = Er war sehr allein.
Solche Menschen verfehlen das rechte Maß. Einsamkeit eignet sich gut dazu, ein SELBST aufzubauen. Der Rest verkümmert. Die soziale Bestimmung der Spezies Mensch erlaubt es uns nicht, auf andere Weise als in der Gemeinschaft aufzublühen.


Andersen prophetisch. "Sie sind ein stupider Kerl, aus Ihnen wird nie etwas werden", Simon Meisling, der Schul-Rektor. Sein pädagogisches Ziel war es, Andersen moralisch zu vernichten. Er hat es nicht geschafft.


"Wie falsch sie mich beurteilen!" (Ein Seufzer des Meisters zum Thema)


Hans Christian im Glück: Er lebte vor uns. Als unser Zeitgenosse würden wir ihn früher oder später zur Sammelstelle treiben, damit die Richtigkeit unseres Prinzips sich auch an ihm erweist.


„Ja, ich bin ein seltsames Wesen . . .“ (Tagebucheintrag vom 13. 5. 1848)
Da wollte er entgegenkommend sein, den Widersachern den Wind aus den Segeln nehmen. Hat ihm nicht geholfen. Die Hundemarke „Sei seltsam, Du! Wir können auch anders.“ wird lebenslänglich verliehen.
Die Selbsteinschätzung müssen wir ihm nicht glauben. Ein beherzter Bursche, der sich nicht lenken lässt und der die 40 überschritten hat, wird wohl die Logik seines Lebens schon ahnen.


Eine leichte Frage: Von einem deutschen Schriftsteller bekam Andersen eine schlechte Beurteilung. Es sei in seinen Schriften nicht die Rede von Liebe. “Haben Sie denn nie geliebt?”


Warum waren seine Mitmenschen so schlecht auf ihn zu sprechen? Hat er ihnen Schaden zugefügt?
Es steht außer Zweifel, dass Andersen durch seine Anwesenheit ihnen geschadet hat.


Die Anwesenheit und die Gegenwart: Zwei böse Schwestern.


Von Einstein erzählt man sich, sein Klassenlehrer habe eines Tages den Wunsch geäußert, er solle von der Schule abgehen. Als er darauf erwiderte, er habe sich nichts zuschulden kommen lassen, bekam er die Antwort: "Ja, das stimmt. Aber Ihre bloße Gegenwart in der Klasse genügt, um allen Respekt zu zerstören."


Ein Prinzip, das sich um Mehrheiten nicht schert. Ein Prinzip, worin der Beitritt Aller zu ihm die Bedingung für das Wohlergehen eines Jeden ist.


Andersen freudig: "Ein ausschneide- und klebefreudiger Mensch" (Schöne Wortschöpfung seines Biografen Jens Andersen) Er liebte es, Collagen anzufertigen. An der digitalen Bildbearbeitung hätte er seine helle Freude.


Andersen ist ein heißes Eisen.


( ( ( ( ( ( (Sich mit Menschen vergleichen, ist Tod und ist Leben.) ) ) ) ) ) )




* (Das Zitat stammt von Christian Morgenstern, aus seinem Gedicht Der Hecht.)


© Roland Morgenstern (1938*), Werkzeugmacher und Maschinenbau-Ingenieur. Sprücheklopfer (Der Specht von Karow)


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