Nach dem Absolvieren des Daseins bin ich um einiges erleichtert. Ich habe keinen materiellen Körper mehr. Was ich sonst noch habe, lässt sich von hier aus, im Bereich des angewandten Wahnsinns, nicht sagen, weil sonst die Spielregeln des Wachkomas aufgehoben wären, aber vor mir liegt nun: mein neues Leben!
Ich schwebe in einer anderen Art Delirium. Um mich sind viele unbekannte Geräusche, die ich weder deuten noch orten kann. Einige klingen wie undefinierbares Murmeln von „draußen“, andere scheinen aus mir selbst oder aus dem zu kommen, was hinter mir liegt. Das, was hinter mir liegt, gerät langsam in Vergessenheit, je mehr diese Zuckungen zunehmen, die mein ganzes Selbst erfüllen. Es ist, als würde ich in etwas eingesponnen, als würde ich etwas um mich ver-sammeln, das mich einerseits zerstört und andererseits aufbaut.
Eine seltsame Unruhe macht sich in mir breit. Soll ich versuchen, mich zu befreien? Und wenn ja, wovon? Wie eine schwarze Wolke gleitet ein Dämon an meine Seele heran! Es ist die Panik, die Angst vor dem Nichtwissen. Ich wälze mich krampfhaft darin. So lange, bis ein mir nicht bekannter Jemand ein Einsehen mit mir hat und für mich die Wolken teilt. Wir stehen plötzlich im Licht! Es dringt zu uns herein und wir blicken auf – in einen Tunnel aus immerwährender Gegenwart. Wir sprechen … Stimme um Stimme, Zahn um Zahn, in Zeiten um Zeiten. Ich tausche Informationen mit mir aus, mit einem Teil von mir, der ich nicht bin und der mich trotzdem wesentlich ausmacht. Es ist eine Art Geist!
Was ist das, da vorne?
Das ist die Masse der werktätigen Verlierer.
Was tun die denn da? Sie tragen ja alle einen Hut vor sich her.
Sie betteln!
Sind sie nicht werktätig?
Das schon, aber siehst du die Nadelgestreiften dazwischen?
Ja.
Das sind die Gewinner! Sie verteilen das Brot in die Hüte.
Ach, so? Sind das die Klügeren?
Nicht unbedingt. Will mal sagen: die Schlaueren. Ihre Anlagen sind nahezu dieselben wie bei den Verlierern. Aber sie haben „kapiert“, daß es besser ist, ein dehnbares Gewissen zu besitzen.
Was ist das, ein Gewissen?
Oh, ein Gewissen kann viele Ursprünge haben. Wenn es ehrlich ist, basiert es auf Mitgefühl.
Und wenn nicht?
Dann ist es nur eine Stimme, die von fremdher eingesetzt wurde, um Verlierer nicht zu Gewinnern werden zu lassen. Dieses Gewissen verdient seinen Namen nicht.
Und wie heißt es dann?
„Staatsraison“, „Glaube“, „Reglement“.
Ja? Und was spielt der Verstand dabei für eine Rolle?
Der Verstand spielt immer eine Rolle. Aber er sollte nicht mit zu viel Gefühl verbunden sein, sonst wird Charakter daraus, und der befördert dich auf die Seite der Verlierer – ob du dumm bist oder nicht.
Dichter, Denker, Erfinder, Künstler? sagt (m)eine Stimme und der nicht bekannte Jemand antwortet echohaft:
Künstler, Erfinder, Denker, Dichter sind ebenfalls dem Re-glement unterworfen! Wenn sie sich meistbietend verkaufen können, werden sie frequentiert, wenn nicht, bekommen sie nichts in den Hut. Oft halten sie ihn auch gar nicht hin, weil sie das nicht als ihre Aufgabe betrachten.
Ihre Aufgabe ist also nicht, sich zu bereichern?
Nein! Ihre Aufgabe ist es, die andern zu bereichern.
Und wenn sie bereichern möchten, aber eben nicht gefunden werden?
Dann ist das Reglement der nadelgestreiften Brotverteiler, der aufgestylten Glaubensfürsten der Scharlatanerie würdig. Dann haben sie sich selbst entlarvt! Dann liegt es augenscheinlich in ihrem besonderen Interesse, die Übrigen kleinzuhalten. Das ist sehr leicht, denn sie neiden sich, befangen vom Evolutionsdruck, sogar das tägliche Brot in den Hüten.
Zum Glück ist da aber noch die Liebe?
Genau! Sie stellt keine Bedingungen. Sie herrscht über den Alltag, indem sie Honigkuchen verteilt, alles verzeiht und hilft, wo sie nur kann! Hahahahahahahahahaha … In unanerkannter Wirklichkeit orientiert sie sich ebenfalls direkt am Evolutionsdruck und fordert Tüchtigkeiten ein.
Von den Verlierern?
Und von denen die gelernt haben, die geeigneten Interpretationen für ihre Aktivitäten zu finden.
Rechtsanwälte? Abgeordnete? Geistliche?
Geistliche, Rechtsanwälte, Abgeordnete, echot der unbekannte Jemand – und alle, die im Sinne eines „funktionierenden Gemeinwesens“ tätig sind.
Was ist denn das?
Was?
Ein funktionierendes Gemeinwesen.
Das ist einfach zu erklären, schwer zu verstehen und absolut inakzeptabel!
Sprich!
Stell dir vor, du kommst zur Welt – das ist das, was du grade machst – und du blickst dich um. Du erkennst (im Normalfall) deine beiden werktätigen Eltern, die werktätige Verwandtschaft, deine Vorteile …
Die da sind?
Du darfst recht bald in einen sogenannten „Kindergarten“, damit die anderen für das funktionierende Gemeinwesen tätig sein können.
Toll! Was finde ich dort?
Das Abbild der werktätigen Gesellschaft im Kleinformat: eine Hierarchie!
Ist das gut?
Hahahahahahahahaha … Das kommt darauf an, wie gut du dich verkaufen kannst.
Tarnen und Täuschen?
Nein, nein! Stark sein und tüchtig!
Und dann?
Dann geht’s ab in die Schule!
Gibt es da jemanden, der hilft?
Klar, das Reglement!
Und wer beschützt mich?
Die Noten!
Wie bitte?
Na, deine Benotung zeigt zum einen den Grad deiner Angepasstheit, zum zweiten, wie du am effizientesten ausgebeutet werden kannst und zum dritten, wie gut du einen bloßen Sachverhalt zu deinen Gunsten uminterpretieren könntest. Das ist das Prinzip!
Ach, da gibt es ein Prinzip?
Hmmm …? Haha: nach oben buckeln nach unten treten!
Und die Talente?
Sind gut, aber nur dann, wenn sie angepasst werden (können). Es empfiehlt sich, nichts Eigenes zu entwerfen, bevor man eine Denkurkunde erhalten hat. Weise Sprüche unterstützen diesen Vorgang ... „das Ei kann nicht klüger als die Henne sein“ … „es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen“ … „was lange währt, wird … “usw.
Ist das Mitgefühl? Ich meine, ist das Gewissen dabei auch berücksichtigt worden?
Ja – innerhalb des Reglements. Das heißt: Das Prinzip sollte niemals verletzt werden!
Es ist also sehr von Vorteil, mit einem variablen Gewissen ausgestattet zu sein?
Genau!
Gibt es eigentlich eine kurze Zusammenfassung des Prinzips in einfachen Worten?
Es gibt sie, aber es ist verboten sie auszusprechen!
Grunz!
Also gut – pass auf, hör gut zu, verinnerliche und vergiss das Gehörte sofort wieder: Der ideale eingeborene Verlierer kommt auf die Welt, passt sich an, so oder so, produziert weitere Verlierer und kurz nach Antritt der Rente verstirbt er, mit Rücksicht auf die Interessen der Volkswirtschaft.
OK, ich hab’s vergessen! Vielen Dank, in deinem Sinne.
Keine Ursache, in keinem Sinne.
Trotzdem interessiert mich jetzt noch eins: Was ist mit dem Hut?
Nun, wer ihn zu lange hinhält, der wird ausgesondert, der ist nicht mehr rational, er wird wegrationalisiert.
Ist Ratio die Vernunft?
Hahahahahahahahaha … Selbstverständlich!
Und was geschieht dann?
Dann nimmt seinen Platz ein Weltbürger ein, der billiger arbeitet – es bildet sich ein neuer Verliererkreis, ein neues Proletariat.
Nennt man das Fortschritt?
Genau, Fortschritt! Alle Menschen sind nämlich gleich!
Und das ist ebenfalls eine Interpretationsfrage?
Ja, aber sie kann nur von „Fachleuten“ beantwortet werden. Dafür gibt es die entsprechenden Institutionen. Das ist doch ganz simpel!
Mein Delirium hat sich jetzt schlagartig verflogen. Vor meinen Augen kreist eine verschwommene Welt, ich kreise um die verschwommene Welt, die verschwommene Welt kreist um mich und der unbekannte Jemand kreist so lange um alles zusammen, bis sich alles zusammen in ein wohliges Wohlgefallen auflöst.
Ich habe begriffen: Ich muss mich bloß wohlfühlen! Mehr habe ich nicht zu tun. Während ich mich wohlfühle, passe ich mich an, und wer oder was mir begegnet, unterwirft sich mir, oder ich mich ihm, je nach der speziellen Tüchtigkeit des Betreffenden. Ganz unerwartet fange ich jedoch an, mich unterschwellig zu ekeln.
Daneben freue ich mich sehr, denn alles ist so leicht und so unglaublich einfach! Unglaublich? Ja, so unglaublich, daß ich es, glaube ich, doch lieber gar nicht erst glauben und verstehen will. Der Zwiespalt erdrückt mich. Will ich, oder will ich nicht? Nein, ich will nicht! Diese Einfachheit ist mir viel zu kompliziert. Ich bleibe lieber, wo ich bin: nirgends! Ciao Ich, ciao Du, ciao, schöne, verschwommen-einfache Welt und auf Nimmerwiedersehen unbekannter Jemand. Auch von dir möchte ich mich nun gerne verabschieden – Fehlgeburt …, denn beim übernächsten Mal wird alles doppelt besser!

Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten / 365. Schritt

© Alf Glocker


© Alf Glocker


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Kommentare zu "Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten / 365. Schritt"

Re: Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten / 365. Schritt

Autor: ulli nass   Datum: 19.12.2022 9:41 Uhr

Kommentar: Innerlich gab es ein häufiges Kopfnicken.Viel Wahres find ich in den Zeilen und doch bleiben so viele Fragen . . . es gibt nur eine ultimative Lösung. Du weißt es ja. Bis dahin bleibt,so hoffe ich,uns beiden noch eine gehaltvolle Neige zum Verkosten.
Chapeau Alf.

Re: Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten / 365. Schritt

Autor: Herbert Kaiser   Datum: 19.12.2022 10:00 Uhr

Kommentar: Lieber Alf, ein Kaleidoskop der menschlichen Seele - prima vertextet!

Lg Herbert

Re: Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten / 365. Schritt

Autor: Wolfgang Sonntag   Datum: 19.12.2022 12:32 Uhr

Kommentar: Lieber Alf,
bei viel Text atme ich immer schwer; hier ist kein Wort zu viel, Hut ab.
Liebe Grüße Wolfgang

Re: Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten / 365. Schritt

Autor: Alf Glocker   Datum: 19.12.2022 17:53 Uhr

Kommentar: Oh, vielen Dank für diese tollen Kommentare!

Liebe Grüße
Alf

Re: Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten / 365. Schritt

Autor: Kathleen   Datum: 19.12.2022 19:17 Uhr

Kommentar: Ja dakommt man ins Schmunzeln und nickt nachdenklich.

Liebe Grüße

Kathleen

Re: Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten / 365. Schritt

Autor: Alf Glocker   Datum: 20.12.2022 8:12 Uhr

Kommentar: Das freut mich liebe Kathleen!

Liebe Grüße
Alf

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