„Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit.“
Kurze Darstellung der kunsttheoretischen Reflexion von Walter Benjamin.

Von Alexej Licharew

Mit Anbeginn der technischen Reproduktion von Kunstwerken trat der Prozess der allgemeinen Kunstgestaltung in eine neue Dimension ihrer Wirksamkeit. Mithilfe von technisch generierten Nachbildungen streute sich das originale Kunstwerk in vielfältige Kopien und ging und geht nun auf Reisen, wenn möglich sogar um die ganze Welt. Seiner geselligen Neigung entsprechend lässt es sich überall an Orten nieder, wo ästhetisches Interesse, Aufmerksamkeit, Faszination und Bedürfnisse bestehen. Kunstwerke sind nicht mehr nur lokal gebunden, sondern durch allerhand Reproduzierungsverfahren multiplizieren sie ihr Selbst bis hin ins Vielmalige. Von vielen Kunstwerken, welche in dem heutigen Zeitalter geboren werden, gibt es bereits vor der offiziellen Veröffentlichung, Unmengen an Doppelgängern, Clonen, Kopien, Replikate und nahezu identische Duplikationen.
Vervielfältigungen von künstlerischen Erzeugnissen sind allerdings keine Erfindungen der modernen Zeitrechnung. Vermutlich mit Anbeginn des künstlerischen Hervorbringens, mit Anbeginn der technē, damals als die ersten Faustkeile ihre Gestalt annahmen, erblickte auch das Verfahren der Reproduktion das Licht der Erde. „Was Menschen gemacht hatten, das konnte immer von Menschen nachgemacht werden.“ (Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner Reproduzierbarkeit S.10)

Das Nachmachen als Handwerk und Technik ist dabei noch nicht einmal genuin menschlicher Natur. Bereits im Tierreich gibt es Nachmachungen, Nachahmungen und Nachäffungen. Häufig dient das Reproduzieren von Etwas als Lernmethode und Übung, zur Entwicklung von bestimmten inneren oder äußeren Fähigkeiten. Jedes Kleinkind z.B. lernt erst durch das Nachbilden der Artikulationslaute der Eltern das eigenständige Sprechen (=akustische Imitation, genau wie bei Singvögeln(Spottdrossel, Gelbspötter)). Oder junge Menschenaffen eignen sich durch Beobachtung und Nachahmung den Bau von Schlafnestern an, oder das Pflücken von Früchten (die so genannte motorische Imitation).

Hauptsächlich beschäftigt sich Walter Benjamin in seinem Buch „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“, welches im Jahr 1936 in der Zeitschrift für Sozialforschung erstmalig erschienen ist, mit den "Entwicklungstendenzen der Kunst unter den gegenwärtigen Produktionsbedingungen"(ebda.s.10). Ferner analysiert er den Einfluss technischer Medien auf die Kultur bzw. auf die Wahrnehmung und entwickelte seine Ideen anhand von neuartigen Formen der Kunst, die zur damaligen Zeit die Bühne der Öffentlichkeit betraten (Impressionismus, Dadaismus, Surrealismus) Der Text selbst ist wie eine Art Collage aufgebaut. Eigene Gedankengänge stützen sich auf zitierte Passagen von zahlreichen Autoren, Filmemachern, Malern und Kunsttheoretikern, und die integrierten Aussagen bekräftigen die medien-ästhetischen Reflexionen Benjamins. Er selbst sprach von einer literarischen Montage.

Insbesondere weist er auf die Verwandlung des Gesamtcharakters der Kunst hin, die mit der Einführung der Photographie und des Filmes eingeläutet wurde. Denn neue Darstellungsformen gründend auf einer verwandelten Medialität wechselwirken mit neuen Formen der Wahrnehmung. Und so ist es eines seiner primären Anliegen, den Wahrnehmungswandel, der mit der technischen Kunst einhergeht, aufzudecken, zu verdeutlichen, und zugleich die daraus resultierenden kultur- und kunstverändernden Effekte ausfindig zu machen.



Den Text kann man grob in 4 Segmente unterteilen:

-1. Geschichte der Reproduktion der Künste
-2. Differenz von traditionellen und modernen Kunstwerken
-3. Die Einflussnahme von Photographie und Film auf die allgemeine Wahrnehmung
-4. die vereinnahmende Verwendung der Kunst durch den Faschismus.



Benjamin sagt, dass eine Art Rückwirkungseffekt der technischen Nachbildungen wieder auf die Produktion der Kunst- und Filmwelt einströmt. Die Reproduktion ist weitaus mehr als bloße, folgenlose Reproduktion, sie besitzt einen Wirkungsbereich. „Mit den verschiedenen Methoden technischer Reproduktion des Kunstwerkes ist dessen Ausstellbarkeit in gewaltigem Maße gewachsen, dass die quantitative Verschiebung zwischen den beiden Polen ähnlich wie in der Urzeit in eine umschlägt.“ (ebda.s.22)

Diese qualitative Veränderung seiner Natur kann wie folgt charakterisiert werden:

Zum einen wird das Kunstwerk durch die Reproduktion seines einmaligen Kultwertes beraubt. Das unikale Hier- und Jetzt des Kunstwerkes wird aufgehoben. Es entfesselt sich gleichsam aus seinem örtlich gebundenem Dasein und verbreitet sich im Globalraum aus. Das Original kann heutzutage mühelos kopiert werden, die Kopie als solche kann aber nie zum Original werden. Die Echtheit eines Kunstwerkes ist mithin nicht reproduzierbar. Allerdings setzt sie anstelle seines einmaligen Vorkommens sein massenweises. „ Die Reproduktionstechnik […] löst das Reproduzierte aus dem Bereich der Tradition ab.“ (ebda.s.15) und fungiert lediglich als profaner Schönheitsdienst. (ebda.s.18) Bei der manuellen Nachbildung erhält sich das Original noch eine gewisse Autorität gegenüber seiner clonierten Variante. Bei der technischen Nachbildung sind nivellierende Mechanismen am Werk. Der Kultwert, der Bestandteil und Ausdruck kultischer Rituale war und eng mit der Originalität gekoppelt ist, schwindet zunehmend und wird durch den Ausstellungswert ersetzt.

Die Hauptqualität aber, die innerhalb der Massenproduktion abhanden kommt, ja regelrecht verkümmert, und durch den mechanisierten und entpersonalisierten Produktionsprozess sogar zertrümmert wird, ist die Aura eines Kunstwerkes. Die Aura ist für Benjamin: die „einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie auch sein mag.“(ebda.s.16) Dieser Verlust der Aura, dieses Abhandenkommen jener auratischen Erfahrung während der Versenkungszeit in ein Kunstwerk, geht mit dem Prozess einher, dass sich die Einmaligkeit und Dauer eines Kunstwerkes auflösen und durch Flüchtigkeit und Wiederholbarkeit ersetzt werden (vgl. ebda. s.17)

Nach Benjamin macht erst das Eingebettet-sein des Kunstwerkes in den Traditionszusammenhang seine Einzigartigkeit aus. Der Tradition jedoch liegt ein dynamisches Prinzip zugrunde. Traditionslinien sind in der Regel nicht eisig starr, linear oder exakt gerade, sondern mitunter äußerst flexibel, elastisch, und wandelbar lebendig. Dabei ist die Aura einer künstlerischen Arbeit, seine auratische Daseinsweise unabtrennbar vom Ritual (magisches Ritual oder religiöses), unlösbar vom Kultus, von der Kraft des Schöpferischen Moments.
Und so sind Unnahbarkeit, Einmaligkeit, Echtheit und das Hier- und Jetzt des Werkes, was alles in den Aurabegriff mit hineinfließt, nach Benjamin, essentielle Eigenschaften, die ein Werk erst zu einem selbstständigen Kunstwerk machen.

2 Gründe für die Gleichberechtigung der technischen Kopie:

1. das optisch Unbewusste (siehe unten)
2. Abbilder des Originals können in Situationen eintauchen,
„die dem Original selbst nicht erreichbar sind.“(ebda.s.14)


Formgegebene Inhalte besitzen die Fähigkeit in Bewusstseinsöffnungen hineinzudringen. In dieser Weise modulieren sie das neuronale Wahrnehmungsmuster, verändern die Art und Qualität der ästhetischen Erfahrungen, modifizieren das körpereigene Nerven-, Auffassungs- und Deutungsnetz und durch reflexive oder intuitive Kombinationsarbeit erhalten Inhalte dann wiederum neue Variationen, andersartige Formungen, erweiterte und gewandelte Bedeutungen.


Das optisch Unbewusste.

Die gegenwärtigen Medien, die heutzutage hochgradig technikabhängig sind, sind Ergebnisse von Prozessen, die bereits vor unserer Zeit liegen.
Das Aufkommen neuer Mediengestaltungen wandelt dabei auch das allgemeine Sehen, die Kunst und das reflexive Verständnis von der Kunst. Gerade die damals groß werdenden Medien, wie Photografie und Film, die sich im Fortgang der Zeit zu regelrechten Leitmedien der Kunst entwickelten, boten andersartige Möglichkeiten den inneren Vorgängen Ausdruck zu verleihen. Die Bildwerdung von Zuständen, die vordem der unsichtbaren Sphäre zugehörig waren, sensibilisieren so das Gespür und Einsichtsvermögen hin zu erweiterten Wahrnehmungsdimensionen.
Durch Kameraaufnahmen erscheint Gewohntes und vermeintlich voll bekanntes in einem neuen, zuvor ungesehenen Licht getaucht. Die Fotographie bindet und zeigt Gegenstandsformen in verschiedenen Perspektiven; Perspektiven, zu welchen die normale Sinnestätigkeit nicht imstande wäre, sie dauerhaft wahrzunehmen. Zeitlupen, Vergrößerungen, Wandlungen des Blickwinkels erschließen dem Betrachter das optisch Unbewusste der Dinge.
„Unter der Großaufnahme dehnt sich der Raum, unter der Zeitlupe die Bewegung“(ebdas.40)
Mit dem filmischen Auge lässt sich gleichsam in das innere der äußeren Realität blicken. (technisch bedingte Sehweisen) „…der Kameramann […] dringt tief in das Gewebe der Gegebenheit ein.“(ebda.s.36)

„Innerhalb großer geschichtlicher Zeiträume verändert sich mit der gesamten Daseinsweise der menschlichen Kollektiva auch die Art und Weise ihrer Sinneswahrnehmung.“(Benjamin; ebda.s.15)

Wahrgenommenes wird im Wellengang der Zeit zu einem späteren Zeitpunkt auf andere Weise wahrgenommen. Die Art und Qualität der Wahrnehmung wird dynamisch.


Der Vorgang der Beschauung und das ästhetische Erlebnis als Quell für den inneren Gedankenstrom laden unwillkürlich zu einer Haltung ein, die zur reflexiven Beurteilung drängt. (vgl. s. 37) Prinzipiell kann jeder Laie zum Fachmann avancieren.

Benjamins Text berücksichtigt die historische Dimension von gegenwärtig möglichen Kreationen. Die Geschichte hat trotz ihres Abdankens aus dem Hier und Jetzt immer noch vermittelten Einfluss auf die gegenwärtige Gegenwart.

Die Kunst sucht ständig ihre eigenen Grenzen, in denen sie sich begrenzt fühlt. Aus einem Freiheitsbedürfnis heraus zwingt sie sich selbst gewissermaßen zur Negation, damit sie in gewandelter Figuration erneut in Erscheinung treten kann.




Denn durch neuartige Innovationen und Weiterentwicklungen sind auch gleichzeitig technisch generierte Möglichkeiten zutage gefördert worden, eine variiert neue Sprache für das Innenleben zu finden. Einige Programme bieten ein feines Instrumentarium zur künstlerischen Arbeit und Bearbeitung von Rohmaterial.
Die Kunst wird durch eine Darstellungsdimension erweitert. Das Leben findet interessante Formen, außergewöhnliche Gestalten, sonderliche Figurationen, denen man zuvor noch nicht begegnet ist. Durch das visuelle Potential aufkommender Techniken werden weitere Formen von Ausdrucksverhalten erzeugt. 3-D –Programme z.B. ermöglichen die Erschließung von virtuellen, filmischen und hybriden Realitäten. (vgl.: Susanne Jaschko/ Performative Architektur.)
Parallel zur transformierenden Wirkungsweise von Medien sollte die Verantwortung des Gestalters aber nicht außer Acht gelassen werden. Denn durch seine Arbeit suggeriert er dem Zuschauer bestimmte Eindrücke, ausgewählte Bilder und visuelle Impulse, die wiederum den Rahmen für weitere Bewusstseinsinhalte darstellen.
Mitteilungsbedürfnis und kunstvolle Umsetzung der eigenen Erfahrung können aber in kaum vergleichbarer Weise an ein Medium gebunden werden, dass den Charme und Reiz von etwas Neuem und Unbekannten abstrahlt. Zudem erscheinen die Kreationen und Konfrontationen mit Irritation und Uneindeutigkeit bewusstseinserweiternde Möglichkeiten zu sein, allgemein- unverbindliche Denkprozesse in Gang zu setzen, um die je eigene Sinnlichkeit für Außersinnliches zu sensibilisieren. Eine Empfänglichkeit, die zum Ausgangspunkt für verborgene Wesenseinsichten wird. Eine neue Taktilität, ein anders gearteter Wahrnehmungsvorgang in den elektronischen Umgebungen ist möglich. Weiterhin erschaffen visuelle Experimente, gestaltete Kreationen und in Bilder fließende Dynamiken, Spielräume für ungebundene Reflexionsbewegungen und bieten zusätzlich Erlebnisräume für neue Qualitäten von Sinneserfahrungen.







Literaturverzeichnis:

- Benjamin, Walter; „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner Reproduzierbarkeit“ Suhrkamp,
2007, Frankfurt am Main.

- Susanne Jaschko, „Performative Architektur – Mediale Erweiterung und Dekonstruktion von Räumen“, in „Raum und Gefühl“ Hg. Gertrud Lehnert, transcript Verlag, Bielefeld 2011


© Alexej


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