26./27.8. - Nacht auf dem Dach
Ich habe die schlaflosen Nächte an meinem Fenster gegen stille Stunden auf einer Dachterrasse getauscht. Seit Anfang August übernehme ich einmal wöchentlich die Nachtwache in einer Seniorenresidenz in Falkensee. So stelle ich inzwischen etwas sinnvolles mit meinen durchwachten Nächten an. Ganz nebenbei genieße ich wieder einen gesunden Nachtschlaf in der übrigen Zeit.
Bei meinen regelmäßigen Kontrollgängen durch die leeren Flure kommt mir immer wieder der Film „Shining“ in den Sinn. Meine Schuhe verursachen beim Gehen auf dem Teppich raschelnde Geräusche. Bewegungsmelder schalten vor mir das Licht ein und hinter mir wieder aus. Die Runden durch das Haus lege ich so, dass sie an der Tür zur Dachterrasse im fünften Stockwerk enden. Dahinter warten praktischerweise zwei Stühle auf mich. Hier gönne ich mir die Tasse Tee, die mich bis nach oben begleitet hat. Das Notfalltelefon hat sehr guten Empfang zur Basisstation und die Akku-Anzeige meldet 99%.
Der Dienstag ist jetzt zwei Stunden jung. Falkensee schläft. Es ist so still. Es wunderte mich nicht, könnte ein nächtlicher Spaziergänger, unten vor dem Gebäude, das Ticken meiner Armbanduhr hören. Die Sterne funkeln am klaren Nachthimmel. Der Mond ist nur eine schmale Sichel. Orangegelb setzt er sich von den Sternen ab. Am Horizont ist das rote Blinken von einem langgestreckten Wald aus Windrädern zu sehen. Mein Blick schweift über die schlummernden Ein- und Mehrfamilienhäuser von Finkenkrug. Dazwischen Bäume und Straßenlaternen als einzige Lichter dort unten. Es fühlt sich an, als wachte ich nicht nur über die Ruhe im Haus, sondern auch über den ganzen Stadtteil.
Mir fällt wieder ein, wie ich einst nachts manchmal vorsichtig in die Zimmer meiner kleinen Töchter ging, um zu sehen, ob sie wiedermal ihre Decken aus dem Bettchen gewühlt haben. Ab und zu setzte ich mich neben sie, strich ihnen sanft übers Köpfchen oder hielt ihre kleinen Hände für ein paar Minuten. Wann habe ich eigentlich damit aufgehört?
Der Magen gluckert plötzlich laut mit dem Tee in meinem Bauch. Habe ich mich gerade vor mir selbst erschreckt? Ich muss leise über mich lachen. Aber ich bin mir nicht böse deshalb.
Anders als vor meinem Fenster, gleitet hin und wieder ein einsames Auto die Straße entlang. Falkensee ist eben nicht Velten. Es gibt hier auch keine Fledermäuse. Dafür zeigt sich ein junger Fuchs. Wie es sich für einen Städter gehört, hält er sich brav auf dem Fußweg. Aufmerksam studiert er die Nachrichten, die Hunde tagsüber am Rand hinterlassen haben. Dann verschwindet er sich aus meinem Blickfeld. Die Tasse ist leer. Nach einer ganzen Weile erst gehe ich zurück hinein.
Kurz nach vier Uhr bin ich wieder da. Der Mond hat sich jetzt doch für das strahlende Weiß der Sterne entschieden. Sonst ist alles beim Alten. Ich suche Sternbilder. Den großen Wagen und Cassiopeia habe ich schnell entdeckt. Den kleinen Wagen finde ich, wie immer, nur über die Sterne des großen. Orion suche ich vergeblich. Mehr Sternbilder erkenne ich bisher nicht. Mit der richtigen App und weiteren klaren Nächten könnte es sich vielleicht ändern. Ich werde ja sehen.
Die Polizei fährt hier regelmäßig Streife. Manchmal biegt ein Wagen in die Auffahrt zur Wache ein. Sie liegt gleich gegenüber, auf der anderen Seite der Straße. Kurz darauf verlässt dann wieder ein Wagen den Hof. Ist es der Selbe? Ein dreigeschossiger Wohnblock auf der anderen Terrassenseite wartet Nacht für Nacht mit einer ganz eigenen Lichtershow auf. Vier Lampen an den Eingängen leuchten nacheinander für vier Sekunden auf und erlöschen in der gleichen Reihenfolge ebenfalls für die gleiche Zeitspanne. Der Hellichkeitssensor aht Schluckauf.
Im Osten deutet ein zarter, ganz schmaler Schimmer die nächste Dämmerung an. Auch hier wird die Zeitung mit dem Fahrrad ausgetragen. Mir fällt ein, am Empfangstresen wollen noch ein paar Johannesbeeren von mir gegessen werden.
Dann um Punkt Fünf ist Orion einfach da und ich wundere mich, wie ich ihn zuvor übersehen konnte. Auf dem Nachbargrundstück zur Polizeiwache beginnen zwei Rasensprenger mit der Arbeit und stellen sie zehn Minuten später wieder ein. So lässt sich auch eine Siebentagewoche entspannt durchhalten. Ob sie auch bei Regenwetter tätig werden, werde ich wohl nicht erfahren. Zeitgleich mit ihnen fing irgendwo ein Hahn an, gegen die morgendliche Stille anzukrähen. Er hatte sogar noch weniger Ausdauer als die beiden wässernden Kurzarbeiter. Erst deine Männlichkeit lauthals heraus posaunen und nach nicht einmal zehn Minuten ist alles schon wieder vorbei? Tja, das war ja wohl nichts. Oh! Verzeih mein Guter. Du hattest nur eine Pause eingelegt.
Es ist nun Zeit, einige Vorbereitungen für die Übergabe an die Frühschicht zu treffen. Mit einem Lächeln und einem tiefen Gefühl von Frieden schließe ich für heute die Tür ab, gehe leise raschelnd über den Flurteppich und denke an Jack Nicholson und ein einsames Hotel im Winter Colorados.
Du schreibst wirklich aussergewöhnlich präzise. Wenn man dies liest, erlebt man es mit dir. Alles ist so hervorragend beschrieben, dass man es vor seinem geistigen Auge genau erkennen kann. Die Ruhe und der Frieden sind fühlbar. Danke für deinen so wohlartikulierten Beitrag.
Danke für Deinen Kommentar. Es freut mich, wenn Du beim Lesen ein wenig von dem empfinden/erleben kannst, was ich in diesen Nächten für mich habe. Im normalen Alltag bleibt einem ja meist viel zu wenig Zeit, einmal alles nur auf sich wirken zu lassen, ohne selbst aktiv zu sein.
Liebe Grüße Matthias
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