Auf der Suche nach einem noch relativ ungefüllten Zugabteil lande ich schließlich in einem gemütlichen Zweisitzer umgeben von Kleinstkindern und genervten Müttern, die neugierig mit ihren Bälgern darüber spekulieren, ob sich in meinem Katzenkorb auch wirklich eine Katze befindet. Da ich dieses Ungetüm nach einem komplizierten Transport auf meinem Fahrrad und nun auch noch angestachelt durch die Starrer beinahe aggressiv durch die Gegend schleudere, erscheint mir diese Mutmaßung als überflüssig und nicht ernstzunehmen.
Es ist wie immer. Kaum sitzt man ungestört in seiner 30 Zentimeter- Privatsphäre und will gerade die Bäckertüte öffnen, füllt sich das Abteil stoßweise und statt zu Essen, was in der Öffentlichkeit stets unangenehm ist, starrt man auf die riesige Bahnhofsuhr und hofft, dass sich der Zugführer nur dieses einmal seinen Job nicht mit Stroh 80 erträglich säuft und ein bisschen früher abfährt. Leider kommt so etwas wirklich nie vor. Stattdessen traben immer mehr pubertierende Hippster und dicke, vollbeladene Renterehepaare durch den schmalen Gang. Es wird immer voller bis auch der letzte 4 Sitzer von einer einzigen Discoqueen und ihrem winzigen Tussibeutel belegt ist. Die Kinder schreien oder stellen wahlweise Fragen, die mit nur einer erlaubten Stunde am häuslichen Fernsehgerät auch beantwortet wären, aber die Mütter und Väter dieser wissensdurstigen Würmer ziehen es lieber vor, im Eine-Welt-Laden Mate Tee zu trinken und sich nebenbei, dank des guten Verdienstes bei den abgehaltenen Yoga-Stunden, für einen Leinen-Poncho oder ein paar aus Kompost hergestellten Sandalen zu entscheiden. Das dafür erforderliche Fussdeo gibt es von der Mittvierziger Kräuterhexe gleich als Geschenk dazu. Fair-Trade muss es aber auf jeden Fall sein. Schlafen sich solche Menschen ihr sonst so schlechtes Gewissen in Betten aus recycletem Altglas wieder gut?
Ganz andere Fragen scheinen sich die beiden bieder gekleideten Eulchen im Sitz gegenüber zu stellen. Für sie dreht sich alles um das Kunsthistorik-Seminar bei Professor soundso. Die ganze Fahrt über geht es um die Frage, wie man die erforderliche Hausarbeit am besten schreiben sollte. Eine nach der Anderen transpiriert monologartig Ihre Meinung, bis sich ein See der Langeweile bildet. Es werden verschiedenste Einschleimstrategien vorgestellt, die deshalb schleimen, weil sie mit dem höchsten Maß an freiwilliger Arbeit verbunden sind. Mich hat es nie interessiert, wie meine Hausarbeit am Ende aussah, geschweige denn sich gelesen hätte. Für mich waren es nie mehr als 15-seitige Beweise für einen 20-stündigen Bibliotheksaufenthalt. Es ist beschwerlich genug, solche wissensdahinkotzenden Wortmonster zu schreiben, aber, dass man auch noch darüber redet, wollte ich nicht verstehen. Die Kleinere von Beiden streift sich eine frisch gewaschene Strähne aus dem Gesicht und ich erkenne an ihrem Ohr den einzigen Versuch, etwas Farbe in ihr schnödes Mutti-Outfit zu bringen: Neongrüne Ohrringe. Oh mein Gott. Kam die etwa gerade von einem Bummel über den Sczecziner-Wochenmarkt oder hat das Bafög am Ende des Monats nicht mehr gereicht? Vielleicht gibt sie ihr ganzes Geld auch sonst lieber für Klettern und Bahnfahrten aus, zu ihren in ganz Deutschland verteilten Freunden, die sie beim Erasmusjahr in Pisa kennengelernt hat und zu denen sie auf jeden Fall den Kontakt halten will. Ich will auch reisen und zwar mehr als eine halbe Stunde Bahnfahrt am Wochenende.


© Pep Ventura


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