Doch um auf die Sache zurückzukommen, ich bin nicht ein so großer Geist, wie Themistokles es war, daß ich mir lieber die Kunst der Vergessenheit als die des Gedächtnisses wünschen sollte, und ich weiß es dem Simonides [Fußnote: Simonides aus Ceos, einer Insel des Aegäischen Meeres, ein berühmter lyrischer und elegischer Dichter, war geb. 556 v.Chr.] aus Ceos Dank, daß er, wie man sagt, zuerst die Kunst des Gedächtnisses gelehrt hat. Man erzählt nämlich, Simonides habe einst zu Kranon in Thessalien bei Skopas, einem begüterten und vornehmen Manne, gespeist und ein auf ihn gedichtetes Lied gesungen, in welchem er Vieles nach Art der Dichter zur Ausschmückung auf das Lob des Castor und Pollux eingestreut hatte; Skopas habe hierauf gar zu knickerig zum Simonides gesagt, er werde ihm nur die Hälfte der ausbedungenen Summe für dieses Lied geben, die andere Hälfte möge er sich, wenn es ihm beliebe, von seinen Tyndariden erbitten, die er ebenso sehr gelobt habe. Bald darauf, erzählt man weiter, wurde dem Simonides gemeldet, er möchte herauskommen; zwei junge Männer ständen vor der Thüre, die ihn dringend zu sprechen wünschten. Er erhob sich von seinem Sitze, ging hinaus, sah aber Niemanden. In der Zwischenzeit stürzte das Zimmer, wo Skopas speiste, zusammen, und er mit den Seinigen wurde durch den Einsturz unter den Trümmern begraben und kam um. Als nun die Angehörigen diese zu bestatten wünschten und die Zerschmetterten durchaus nicht unterscheiden konnten, so soll Simonides dadurch, daß er sich erinnerte, welchen Platz jeder bei Tische eingenommen hatte, Allen gezeigt haben, wen jeder zu begraben habe. Durch diesen Vorfall aufmerksam gemacht, erzählt man, machte er damals ausfindig, daß es besonders die Ordnung sei, welche dem Gedächtnisse Licht verschaffe. Es müßten daher diejenigen, welche dieses Geistesvermögen üben wollten, gewisse Plätze auswählen, das, was man im Gedächtnisse behalten wollte, sich unter einem Bilde vorstellen und in diese Plätze einreihen. So würde die Ordnung der Plätze die Ordnung der Sachen bewahren; die Sachen selbst aber würden durch Bilder bezeichnet, und so könnten wir uns der Plätze statt der Wachstafeln und der Bilder statt der Buchstaben bedienen.


© Cicero


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Quelle: Vom Redner (De oratore II, 86, 351-354)

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