(Oder die fantastische Geschichte des Mr. Walter Woodstock und seiner Frau Franzis)



Die frische Luft hier oben in den Bergen einatmen zu können, war für Mr. Walter Woodstock jedes Mal die reinste Wohltat. Die meiste Zeit seines Lebens hatte er aus beruflichen Gründen immer in irgendwelchen Großstädten gelebt, doch ein oder zwei Mal im Jahr machte er ausgiebig Urlaub auf seiner abgelegenen Gebirgshütte aus unbehandelten, kernigen Kiefernholzbrettern, die im Laufe der vielen Jahrzehnte durch die harten, permanent einwirkenden Witterungseinflüsse hier oben gelblichbraun verfärbt worden waren. Auf diese Weise hatte sich die alte Hütte immer unauffälliger der übrigen Berglandschaft angepasst.

Trotzdem wollte der Großstadtmensch Walter Woodstock nicht auf die schönen Annehmlichkeiten verzichten, welche ihm das Leben in einer modernen Zivilisation so bot. Auf seiner Hütte befanden sich deshalb ganz alltägliche Einrichtungsgegenstände wie ein elektrischer Kühlschrank, ein kleiner Gasherd mit zwei Kochplatten, eine spartanisch eingerichtete Dusche mit Warmwasser aus dem Boiler und zwei weiche Federkernmatratzen auf den Betten in einem viel zu engen Schlafzimmer. In einem kleinen Abstellraum im hinteren Teil des staubigen Hofes stand sogar ein Diesel betriebenes Stromaggregat.

Mr. Woodstock hockte auf der hölzernen Bettkante und knüpfte sich gerade die Bänder seiner alten, klobig aussehenden Wanderschuhe zu. Dann stand er prustend auf, stülpte sich einen schmierigen braunen Filzhut auf den Kopf und zog sich eine wasserdichte Regenjacke über. Schließlich stopfte er sich noch mehrere Schokoriegel und eine Schachtel Zigaretten in die Taschen, bevor er seinen röhrenförmigen Angelkasten mit den verschiedensten Utensilien sowie den Forellenkorb ergriff und Anstalten machte, die Berghütte zu verlassen.

„Wie lange wirst du wegbleiben, Walter?“ fragte plötzlich eine verschlafene Frauenstimme aus dem Hintergrund.

„Ich hab’s mir schon fast gedacht. Jetzt kommt wieder der übliche Dialog“, murmelte der achtundsechzigjährige Mann mürrisch vor sich hin und blieb in der Nähe der Tür wie angewurzelt stehen. Er wusste genau, was er sagen würde, und ebenso wusste er, was seine Frau Franzis darauf regelmäßig zur Antwort gab. Das Spielchen lief mit der Unvermeidlichkeit des Schicksals ab.


„Schatz“, antwortete Mr. Woodstock mit freundlich aufgesetzter Mine und drehte seinen Kopf ein wenig zur Seite. „Ich werde mich beeilen und so schnell wie möglich wieder zurückkommen.“


„Kannst du mir wenigstens sagen, wohin du gehst?“

„Aber natürlich. Ich gehe am Fluss entlang hinauf zu dem Bergsee. Wird eine anstrengende Kraxelei. Wenn du willst, kannst du gerne mitkommen. Ich würde draußen vor der Hütte auf dich warten, Liebling.“

„Ich glaube nicht, dass mir das was bringt. Da oben gibt es für mich sowieso nicht viel zu tun. Ich würde mich bestimmt nur langweilen. Geh’ alleine, Walter! Ich werde schon etwas finden, womit ich mich beschäftigen kann. Vielleicht spaziere ich runter in die Stadt und besorge uns was zu lesen“, antwortete seine Frau Franzis, legte sich auf die Seite und verschwand wieder mit ihrem schwarz behaarten Lockenkopf unter der warmen Bettdecke.

„Ja Franzis, tu das. Ich halte das für eine gute Idee.“

Der Mann seufzte, ging durch den angrenzenden Wohnraum hinüber zur Tür, öffnete sie und trat hinaus ins Freie.

Es war früh am Morgen. Draußen wehte ein leichter Wind, aber es war kalt und für einen kurzen Augenblick nahm ihm die Kälte den Atem. Die langsam aufgehende Sonne versteckte sich hinter den grauen Wolken und der alte Woodstock spürte noch ganz deutlich die Nacht, die Sterne und die unendliche Stille hier oben in den Bergen, die ein Vorhof der Ewigkeit zu sein schienen.

Mit bedächtigen Schritten marschierte er hinüber zu seinem wuchtigen Jeep, der neben der Hütte auf dem steinigen Bergweg stand. Der Motor des Geländewagens sprang erst nach dem dritten Versuch an – wie immer, wenn er die ganze Nacht im Freien verbracht hatte. Vielleicht lag es am Vergaser, der für Fahrten im Gebirge wohl nicht richtig eingestellt war, dachte sich Mr. Woodstock und setzte das Fahrzeug langsam in Bewegung. Der holprige Bergweg war etwa einen Kilometer lang, fiel leicht nach unten ab und mündete an seinem Ende in eine gut ausgebaute Bergstraße, auf der allerdings nur wenig Verkehr herrschte. Bog man nach rechts ab, kam man in die nah gelegene Stadt namens Mountain City, die etwa neun Kilometer entfernt in einem tiefen Tal lag.

Mr. Woodstock lenkte seinen schweren Jeep genau in die andere Richtung, nämlich nach links, wo es hinauf in die Berge ging.

Mit eintönigem Brummen verließ der Geländewagen den schmalen, holprigen Bergweg, setzte seine Fahrt auf der geteerten, zweispurigen Gebirgsstraße fort und überquerte nach etwa zwei Kilometer eine kleine steinerne Bogenbrücke, hinter der, keine fünfzig Meter weiter, eine wenig befahrene Nebenstraße abzweigte, die in unmittelbarer Nähe eines reißenden Flusses entlang führte, der Stanton River hieß.

Wasser des Flusses war smaragdgrün. Seine Ufer waren von grünem Buschwerk und vielfarbigem Kiesel begrenzt. Mr. Woodstock öffnete das Fenster und konnte trotz des laufenden Dieselmotors das eisige Wasser neben der Straße sanft rauschen und plätschern hören. Aber er kannte den Stanton River; er war ein schneller, tiefer und reißender Fluss.

Der Alte verließ nach einer Weile die Flussstraße und gelangte an einen gewundenen Pfad, der direkt nach oben in die Berge führte. Er parkte den Jeep zwischen zwei dicht stehenden Büschen, öffnete die Tür und kletterte hinaus. Dann klaubte er seine Ausrüstung auf und ging mit weit ausholenden Schritten den schmalen Bergpfad entlang, der sich neben dem weiß schäumenden Wasserstrom weiter in die Berge hinauf schlängelte. Neben einem Felsstück lag eine verrostete Konservendose als Zeichen dafür, dass diese abgelegene Stelle schon mal von einem Menschen betreten worden war. Er selbst hatte sie vor einer Woche aus Unachtsamkeit dort liegen gelassen. Es wird nicht wieder vorkommen, dachte sich der alte Mann und ging bedächtigen Schrittes weiter.

Die meiste Zeit verlief der Fluss zu seiner rechten. An einigen Stellen musste er ihn überqueren, weil Felsen und umgefallene Bäume den Weg versperrten. Zum Glück war das Wasser meistens nicht sehr tief, dafür war es aber eiskalt und seine Bergschuhe quietschten wie alte Gummireifen bei jedem Schritt, wenn sie nass wurden.

Walter Woodstock wusste, dass der Stanton River eine Menge Forellen barg, deren Flossen mit den quirligen Wellen spielten und die in den dunklen schattigen Tümpeln flink und schnell hin und her schwammen. Sie waren manchmal so zahlreich, dass er damit rechnen konnte, mehr als neun oder zehn von ihnen zu fangen, wenn er nur lange genug da blieb. Aber für diesen Tag hatte er sich insgeheim mehr vorgenommen.

Nur wenige Urlauber wussten, dass über der Baumgrenze ein versteckter Bergsee lag, der von schmelzendem Eis gespeist wurde, und genau dort waren die Forellen besonders zahlreich, aber auch besonders hungrig. Die Forellen in diesem See unterschieden sich in ganz erheblichem Maße von den meist trägeren Zuchtfischen, die in die leicht erreichbaren Ströme geworfen und wieder von Anglern und Fischern gefangen wurden, bevor sie überhaupt ihr geschenktes Dasein in der freien Natur richtig ausleben konnten.

Der See lag in einer Höhe von mehr als 3800 Meter und deshalb kamen hier so gut wie nie irgendwelche Sonntagsangler her. Der enorm steile Weg war ihnen zu beschwerlich.

Mit keuchenden Schritten stieg Mr. Woodstock in gleichmäßigem Tempo auf.

Er wusste, dass sein Arzt ihm derartige Aufstiege verboten hatte, aber er kümmerte sich nicht darum. Er wusste auch, dass er noch lange nach dem Abstieg später todmüde sein würde; aber er ließ sich davon nicht abhalten. Er war eben ein alter, sturer Dickkopf, der sich so schnell von niemandem etwas sagen ließ, auch von seinem Doktor nicht.

Die Sonne versteckte sich immer noch hinter einer grauen Wolkenbank. Ohne sich irgendwo lange aufzuhalten, war sich der alte Woodstock trotzdem der herrlich aussehenden Umgebung bewusst. Überall standen dunkle Kiefern und vereinzelte Gruppen von Espen, deren schlanke, weiße Äste hell schillerten, wenn sie von einem hervorschießenden Sonnenstrahl aus der dichten Wolkendecke getroffen wurden. Überall flogen Insekten herum und der sanfte Wind, der durch die hohen Bergbäume strich, ließ ihre Wipfel wie mahnende Zeigefinger hin- und herwogen.

Ach, wenn ich doch für immer hier herkommen und an diesem schönen Ort leben könnte, dachte der alte Mann so für sich, schaltete aber gleich wieder die Vernunft ein: Im Winter wäre es in den Bergen keinesfalls angenehm, da man in dieser Abgeschiedenheit jämmerlich erfrieren würde, wenn man in Gefahr geriete. Und damit hatte er Recht. In dieser harten Gebirgswelt hier oben konnte auf Dauer kein Mensch überleben, schon gar nicht, wenn man ein bestimmtes Alter erreicht hatte. Im Tal weiter unten war das schon eher möglich. Aber dort wollte Mr. Woodstock auf keinen Fall die letzten Jahre seines verbleibenden Lebens verbringen.

Zügig und mit stoßendem Atem stieg Mr. Woodstock weiter den Pfad hinauf. Kurze Zeit später hatte er die Baumgrenze erreicht und der schmale Weg wand sich durch Felsblöcke und dichtes Gestrüpp weiter nach oben. Der Fluss war jetzt nur noch ein paar Meter breit, stürzte dafür aber umso heftiger tosend und mit großer Fließgeschwindigkeit talabwärts.

Endlich hatte der Alte den einsam da liegenden Bergsee erreicht, der allerdings nicht besonders eindrucksvoll aussah. Er war glatt, fast rund und hatte einen Durchmesser von ungefähr fünfzig oder sechzig Meter. Mittlerweile war an einigen Stellen die Wolkendecke aufgerissen, sodass die Sonne ihre Strahlen zur Erde schicken konnte. Auch hier war das Wasser smaragdgrün. Nur wenige Stellen, die im Schatten der Felsen lagen, wirkten schwarz. Im Hintergrund lag auf den hoch aufragenden Berggipfeln noch eine Menge Schnee, der jetzt im Licht der hellen Sonne besonders weiß glänzte.

Hier oben war es so still, als wäre die Welt erst vor wenigen Augenblicken geschaffen worden. Die Schöpfung war noch ganz frisch, sauber, rein und neu.

Schließlich traf Walter Woodstock seine Vorbereitungen für den bevorstehenden Forellenfang. Er setzte sich auf einen kleinen Felsen. Sein Körper zitterte plötzlich ein wenig vor Kälte, als er zur Ruhe kam. Er wünschte sich, dass die dunkle Wolkendecke noch mehr aufreißen oder sich am besten ganz verziehen würde, obgleich, soviel er wusste, das Sonnenlicht zum Angeln nicht günstig war.

Als er die Angelrute ins ruhige Seewasser plumpsen ließ und so still wie möglich da saß, schien die Welt um ihn herum im Nichts zu versinken. Er vergaß alles andere, auch das Versprechen seiner Frau Franzis gegenüber, bald wieder zurück zu sein.

Nach und nach füllte sich der Korb neben ihm mit prächtigen Forellen. Die Zeit schien für ihn nicht mehr zu existieren. Doch unbemerkt war die Sonne ganz überraschend wieder verschwunden, die grauen Wolken über ihn nahmen an Dichte zu.

Mit einem Schlag kam ein heftiger Sturm auf, der den einsamen Angler am See mit lähmender Plötzlichkeit traf. Von einer Sekunde auf die andere verwandelte sich der kleine Bergsee in einen brodelnden Mahlstrom. Die Kälte nahm zu und Walter Woodstocks Hände wurden klamm und gefühllos, sodass er sie fast nicht mehr bewegen konnte.

Dann schlugen auch noch Hagelkörner aus den pechschwarzen Wolken. Es waren runde, schwere Eiskugeln, die auf ihn einstürzten, auf die umliegenden Felsen krachten und klatschend auf das Wasser prasselten. Man hätte den Eindruck haben können, die Welt ginge unter.

Zuerst hatte der alte Woodstock keine Angst. Im Gegenteil. Er war nur leicht über den heftigen Wetterumschwung verärgert, weiter nichts. Er steckte die Angelrute ein und ging zu seinem Lagerplatz, wo er die übrigen Sachen abgelegt hatte.

Der Hagel wurde noch schlimmer. Jetzt wurde es auf einmal gefährlich. Der alte Mann stand aufrecht in der Gegend, um eine möglichst kleine Zielscheibe zu bieten. Mit der rechten Hand hielt er seinen Filzhut fest.

Auch der Sturm wurde noch stärker. Der heftig Wind blies ihm die Hagelkörner mitten ins Gesicht. Mr. Woodstock schaute mit halb zugekniffenen Augen verzweifelt um sich. Aber nichts Tröstliches war zu sehen. Die zerklüfteten Felswände waren vom herab prasselnden Hagel zugedeckt worden, und die schöne Bergwelt, die er vor ein paar Stunden noch bewundert hatte, bot nun einen furchterregenden Anblick. Er sah auf die Uhr; es war schon fast Mittag. Die Zeit war wie im Flug vergangen.

Mr. Woodstock überlegte. Unter diesen schlechten Wetterbedingungen brauchte er mindestens zwei Stunden bis zu seinem Geländewagen. Aber vielleicht lies der Hagel ja bald nach, dachte er sich und drehte seinen Rücken gegen den Wind. Trotz der widrigen Umstände gelang es ihm, sich eine Zigarette anzuzünden. Walter Woodstock war schlecht gelaunt, als er sich innerlich gestehen musste, dass die Zivilisation trotz allem ihre Vorteile hatte.

Nach der Zigarette kramte er so gut es ging seine Sachen zusammen und marschierte zum Pfad zurück. Der Hagel prasselte noch heftiger auf ihn herab, anstatt nachzulassen. Es war kaum etwas zu erkennen. Ein Gefühl von Panik kam in dem alten Mann hoch. Er war ja nicht mehr der Jüngste, der mit seinen Kräften verschwenderisch umgehen konnte.

„Beruhige dich!“ sagte er zu sich selbst, um sich Mut zu machen. Mühsam versuchte er sich zusammenzunehmen.

Die Sicht wurde immer schlechter. Der Flusslauf neben dem schmalen Weg war kaum noch zu sehen. Wenn die Wolken nicht aufrissen, würde es in wenigen Stunden stockdunkel sein.

Wieder beschleunigte der alte Woodstock seine Schritte. Dann rutschte er plötzlich aus und fiel kopfüber auf den Boden. Zum Glück landete er im drahtigen Buschwerk und zerkratzte sich dabei nur ein wenig das ungeschützte Gesicht. Mühsam rappelte er sich wieder hoch und ging vorsichtig weiter.

Dann blieb er stehen, hielt seine Hand schützend über die Augen und versuchte, irgendeine Zuflucht zu erspähen.

Da! War da nicht was?

Ein Felsdach direkt neben dem Pfad, das ihm Schutz bieten konnte. Walter Woodstock stellte seine Sachen ab und kletterte trotz Hagel und Wind die schräge Felswand hinauf. Ich muss da hin, koste es, was es wolle. Lange wird die Regenjacke nicht mehr das viele Wasser abhalten können, dachte er und strebte zäh seinem schützenden Ziel entgegen. Der stechende Hagel schlug ihm ins Gesicht, der Filzhut wurde ihm heruntergerissen und flog davon. Woodstock fluchte deshalb wie ein Landsknecht.

Endlich!

Fast hatte er den überhängenden Felsen erreicht, der unterhalb davon wie eine Nische geformt war. Noch eine letzte, kurze Anstrengung, dann schwang er sich hinein und setzt sich erst einmal erschöpft in die Hocke.

Der Wind erreichte ihn zwar immer noch, aber vor dem Hagel und der Nässe war er jetzt geschützt. Er bückte sich noch tiefer herab, bis ans Ende des Felsenschutzes.

Da!

Im nächsten Moment erspähte er eine oval geformte Öffnung, die gerade groß genug war, seinen Körper durchzulassen.

Hatte er etwa rein zufällig den Zugang zu einer Höhle gefunden? Dem alten Woodstock war das momentan egal. Er holte tief Luft, tastet mit beiden Händen die kalten Steinwände ab und zwängte sich mit eingezogenem Bauch durch den offenen Spalt ins Innere des Felsens.

***

Drinnen war es zu dunkel, um etwas deutlich erkennen zu können. Langsam tastete sich Mr. Woodstock weiter vor, blieb aber dann doch abrupt stehen, um in der Jackentasche nach seinen Streichhölzern zu suchen. Er wollte sich nicht leichtsinnig in Gefahr bringen. Als er die Streichholzschachtel endlich in einer wasserdichten Plastikhülle gefunden hatte, zündete er ein Streichholz an und schaute sich um. Es musste wohl eine Art Höhle sein, überlegte er; obgleich die Decke ziemlich niedrig war, konnte er nur an einer Seite etwas ausnehmen. Keine fünf Schritte vor ihm nahm er außerdem ein metallisches Glänzen wahr – vielleicht eine Erzader oder etwas ähnliches, dachte sich der Alte und ging langsam im flackernden Lichtschein weiter.

Das Streichholz verglomm. Sofort zündete er ein neues an.

Stück für Stück tastete er sich vor. Vielleicht bin ich ja der erste Mensch, der diese Höhle jemals betreten hat, dachte Mr. Woodstock und starrte in die Dunkelheit hinein. Normalerweise würde ihm dieser Gedanke sogar ein leichtes Vergnügen bereiten, wenn die Umstände anders gewesen wären, aber im Augenblick fühlte er sich nicht besonders gut, um von seiner Entdeckung beeindruckt zu sein. Seine klobigen Wanderschuhe waren mittlerweile durchnässt, die Kälte kroch ihm langsam unter die Haut. Außerdem gab es nichts in der Höhle, womit er ein Feuer machen konnte.

Er blieb wieder stehen und lauschte. Der winzige Lichtschein flackerte unruhig auf und ab. Draußen vor der Höhle jaulte und tobte nur wenige Meter von ihm entfernt der Sturm mit eisiger, durchdringender Wildheit.

Das Streichholz brannte ab, das Licht erschloss abermals. Wieder wurde es dunkel um ihn herum.

Mr. Woodstock hatte an alles gedacht, nur an eine Taschenlampe nicht. Er war deshalb etwas verärgert. Dann kramte er nach seinen Zigaretten, die er schließlich irgendwo in einer der Brusttaschen fand und zündete sich eine an. Der Rauch wärmte ihn ein wenig, zumindest bildete er sich das ein. Walter Woodstock überlegte, während er so vor sich hinrauchte, was er tun sollte.

Er stieß mit seinem rechten Fuß gegen einen großen Felsbrocken, der direkt vor ihm lag. Der Alte setzte sich vorsichtig drauf und blies den Rauch seiner Zigarette in die Dunkelheit hinein. Zwischendurch nahm er eine von diesen Grippetabletten ein, die er stets bei sich trug. Man konnte ja nie wissen, dachte er so für sich und schluckte sie ohne einen Tropfen Wasser runter.

Walter Woodstock wurde müde.

Er rutschte mit seinem Hintern auf den nackten Felsbrocken hin und her um eine etwas bequemere Lage zu finden, musste aber bald feststellen, dass der Felsen überall gleich spitz und scharf war. Deshalb rollte er sein großes Taschentuch als Kissen zusammen, setzte sich vorsichtig drauf und schloss für einen Moment die Augen...

Draußen heulte unablässig der Sturm. Der Hagel hatte jetzt fast ganz nachgelassen, dafür regnete es noch ein wenig. Ab und zu schlugen hier und da ein paar Tropfen auf, dann wurde es schlagartig ruhig vor der Höhle. Plötzlich fiel fahles Mondlicht durch den schmalen Spalt, von wo aus er gekommen war und erfüllte den felsigen Raum mit einem geisterhaften, silbrigen Schein.

Der alte Woodstock saß bewegungslos auf dem nasskalten Gestein. Die Zigarette glimmte langsam vor sich hin. Die Welt da draußen schien sich immer weiter von ihm zu entfernen. Wieder übermannte ihn eine bleierne Müdigkeit.

Plötzlich ließ ihn ein Geräusch hochfahren. Ein metallisches Klicken, kurz und gedämpft, machten ihn wieder hellwach. Etwas befand sich mit ihm zusammen in der Höhle. Er hielt den Atem an und suchte angestrengt mit seinen Augen, so gut es eben ging, in der schummrigen Dunkelheit die glitzernden Felswände ab.

Wieder so ein komisches Geräusch. War es wohlmöglich ein Tier? Es hörte sich so an, als ob jemand mit seinen Fingernägeln kratzend über eine Schiefertafel streicht.

Wieder versuchte der Alte, die Dunkelheit mit dem starren Blick seiner Augen zu durchdringen, aber es war zu wenig Licht vorhanden und die Umrisse verschwanden umso mehr, je länger er in die Dämmerung blickte. Mit einmal gab es für Woodstock keine Sicherheit mehr. Er fühlte sich hilflos und dem Schrecken einer urtümlichen Dunkelheit ausgeliefert.

Langsam ließ er sich deshalb von dem Felsbrocken gleiten und kroch vorsichtig zum Höhlenausgang. Nur raus hier, war sein einziger Gedanke. Gerade, als er sich durch den schmalen, ovalen Spalt ins Freie zurück zwängen wollte, hörte er hinter sich wieder dieses seltsame Geräusch.

Mr. Woodstock schaute über seine Schulter nach hinten, obwohl er das eigentlich nicht wollte, aber seine verdammte Neugier war größer, als seine Angst.

Irgend etwas öffnet sich.

Dann sah er eine Gestalt, die aus dem Loch hinten in der Höhle kam. Sie war groß und musste sich bücken, um nicht an die Decke zu stoßen. Das Gesicht des unbekannten Wesens sah aus wie ein Leichentuch. Es hatte Augen, sehr große Augen sogar. Es blickte zu dem kriechenden Woodstock hinüber und kam langsam auf ihn zu.

Der alte Mann konnte plötzlich an nichts mehr denken, sein Gehirn war wie paralysiert. Aber seine Muskeln reagierten automatisch, und er warf sich mit allerletzter Kraft, die er jetzt noch aufbringen konnte, aus der Höhlenöffnung nach draußen und rollte im nächsten Moment über den Felsenabhang hinunter in die Tiefe. Benommen blieb er unten auf dem Pfad liegen, den er im Hagelsturm verfehlt hatte, rappelte sich aber sofort wieder auf und lief in Richtung Fluss, der jetzt vom Regen hoch angeschwollen war. Er erreichte das tosende Wasser, das im silbrigen Mondlicht fast schwarz wirkte. Mr. Woodstock keuchte und schnappte nach Luft, wie ein Fisch auf dem Trockenen. Fast wäre er ausgerutscht und in die brausenden Fluten gestürzt, doch er konnte sich gerade noch rechtzeitig an ein paar dünnen Ästen festhalten und zurück hangeln. Nochmals warf er einen Blick nach hinten. Er konnte aber nichts in der vom fahlen Mondlicht getränkten Umgebung sehen. Außer dem Raunen des Windes und des vorbeitosenden Flusswassers war kein anderes Geräusch zu hören. Vorsichtshalber nahm er einen scharfkantigen Stein in die Hand, den er als Waffe benutzen wollte, wenn ihn jemand angreifen würde. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder dem Pfad zu und stieg vorsichtig weiter hinab. Wenn er nur erst bei den Bäumen wäre! Dort könnte er sich vielleicht sogar verstecken!

Schüttelfrost erfasst seinen geschundenen Körper. Eine schreckliche Angst stieg in ihm hoch. Er hatte das Gesicht eines fremden Lebewesens in der Höhle gesehen, daran bestand kein Zweifel. Es war kein Traum oder eine Halluzination gewesen, und er war auch nicht verrückt. Er musste sich auch nicht unbedingt in den Arm kneifen, um sich zu beweisen, dass er in der Wirklichkeit zuhause war. Seine Sinne hatten ihm keinen Streich gespielt. Eine unbekannte Kreatur hielt sich dort in der Höhle auf und war ihm sogar gefolgt. Der Kerl, wenn man ihn als solchen bezeichnen wollte, war ziemlich groß gewesen, vielleicht war er ein Irrer, der sich in dieser unwirtlichen Gegend herumtrieb. Am besten wäre es wohl, wenn er Hilfe herbeiholen und bei Tageslicht nachschauen würde, was da oben vor sich ging.

Wieder hörte er von irgendwo her ein Geräusch. Waren es Schritte, die am Boden liegende kleine Äste und Zweige zertraten? War es der tosende Fluss oder ein Tier, das durch den Wald schlich?
Mr. Woodstock konnte es nicht sagen. Er war im Augenblick etwas durcheinander. Er beschleunigte daher seine Schritte und versuchte vom Ort des Schreckens so schnell wie möglich weg zu kommen. Den Stein hielt er fest umklammert. Abwärts ging es schneller als aufwärts. In weniger als zehn Minuten müsste er eigentlich die Waldgrenze erreicht haben. Sollte er sich lieber doch gleich zum Wagen durchschlagen? Durch das anstrengende Gehen fühlte er sich schon etwas wärmer, aber trotzdem war die Kleidung noch unangenehm feucht. Allmählich wurden seine Bewegungen gelöster. Der anfängliche Schock hatte sich etwas gelegt. Je weiter er sich von der Höhle entfernte, desto sicherer wurde sein Gefühl, dass ihm jetzt nichts mehr passieren konnte, dachte er zu seiner eigenen Beruhigung.

Der Pfad machte vor ihm eine scharfe Kurve nach rechts und fiel dahinter steil ab. Walter Woodstock atmete erleichtert auf, denn er kannte diese markante Biegung vom Aufstieg her. Sein Jeep war demnach nicht mehr weit weg. Er begann deshalb zu laufen und bog mit einer ziemlichen Geschwindigkeit in den scharf kurvigen Pfad ein. Durch das helle Mondlicht warfen die Bäume lange Schatten, was ihn ein wenig irritierte. Doch er lief unbeirrt weiter. Im nächsten Moment stoppte er auch schon wieder aus vollem Lauf und wäre beinahe gestürzt. Wild mit seinen Armen herum fuchtelnd hielt er sich gerade noch soeben im Gleichgewicht. Der Schreck fuhr ihm dabei gleichzeitig durch sämtliche Glieder.

Die seltsame Kreatur aus der Höhle stand plötzlich wie eine Geistererscheinung mitten auf dem Pfad am Ende der scharfen Kurve und wartete offenbar schon auf ihn.

Sie stand dort, wie zu einer Salzsäule erstarrt, das Mondlicht ließ nur einzelne Teile von dem unbekannten Wesen erkennen, nur das Gesicht zeigte sich deutlich, das leichenblass war und ihn mit großen weiten Augen anstarrte. Es war auf jeden Fall größer als Mr. Woodstock und außerdem sehr schlank.

Nachdem sich der Alte vom ersten Schreck etwas erholt hatte, dachte er darüber nach, die auf dem Pfad vor ihm völlig unbewegliche da stehende Gestalt einfach laut etwas zu fragen. Vielleicht würde er eine Antwort bekommen. Ein Versuch könnte ja nicht schaden. Sollte wirklich eine Gefahr von diesem fremden Wesen ausgehen, könnte er noch immer seitlich die Geröllböschung runter springen und sich in die Büsche schlagen, um sich dort zu verstecken.

„Hey Mann, wer sind Sie und was wollen Sie von mir? Antworten Sie!“ rief Mr. Woodstock mit schriller Stimme und wartete.

Die unheimliche Kreatur schwieg. Nur der nah gelegen Fluss rauschte tosend vorbei.

Keine Antwort.

Der Alte versuchte es noch einmal. Er umklammerte den Stein mit festem Griff. Er würde auf gar keinen Fall in die Berge zurücklaufen. Dafür war es jetzt zu spät.

„Lassen Sie mich vorbei! Machen Sie mir Platz“, rief er erneut.

Das seltsame Wesen machte immer noch keine Anstalten, auf die Seite zu treten, damit Walter Woodstock auf dem schmalen Pfad ungehindert weitergehen konnte. Es antwortete auch nicht.

Früher war er mal ein guter Sportler gewesen, was ihm jetzt zugute kam. Er warf einen flüchtigen Blick nach vorne, holte ein paar Mal tief Luft und stürmte mit dem Gesteinsbrocken in der rechten Hand auf die stumm da stehende Kreatur los. Er war zu allem bereit.

Die unbekannte Erscheinung hob auf einmal den Arm und hielt einen blitzenden Gegenstand in der Hand, den sie auf den anstürmenden Läufer richtete. Im nächsten Augenblick blitzte es hell auf und Mr. Woodstock fiel flach auf den Boden, wo er direkt vor der wartenden Kreatur zu liegen kam. Obwohl er bei vollem Bewusstsein war, konnte er weder Arme noch Beine bewegen. Das fremde Wesen schien offensichtlich ein Mann zu sein, der über enorme Kräfte verfügte. Ohne auch nur ein einziges Wort zu sagen, hob er den Alten auf und legte ihn sich über die Schulter, zwar nicht unvorsichtig, aber doch mit einer ziemlichen Gleichgültigkeit, als trüge er einen Sack Kartoffeln spazieren.

Der riesige Kerl stieg mit Mr. Woodstock auf der Schulter wieder nach oben zum See hinauf, ohne dabei auch nur eine einzige Pause zu machen, um den schweren Körper abzusetzen. Das Typ hatte nicht nur Riesenkräfte, sondern verfügte außerdem noch über eine gehörige Portion Ausdauer, was auf gar keinen Fall zu seinem blassen Gesicht passte.

Bald waren sie wieder an jener Stelle angekommen, wo der ovale Spalt in die Höhle führte. Der Unbekannte kroch zuerst durch die Öffnung und zog den paralysierten Alten hinter sich her wie eine erlegte Beute. Dann zerrte er ihn quer durch den dunklen Raum, bis zu einer metallisch glänzenden Pforte, die aussah wie das wasser- und druckdichte Schott eines Schiffes. Der Mann öffnete mit einer geheimnisvoll anmutenden Handbewegung die mannshohe Tür aus glatt poliertem Metall, stieg durch die Öffnung und zog den leblosen Körper Woodstocks hinter sich her ins Innere.

Die Lichtverhältnisse waren nicht besonders gut. An den glatten Wänden leuchteten eine Menge kleiner diodenähnlicher Lämpchen. Einige von ihnen blinkten in verschiedenen Farben Trotzdem konnte Mr. Woodstock etliche Details erkennen, die ihn in ein ziemliches Erstaunen versetzten. Offenbar befand er sich in einem Raum, der mit einer ganz besonderen Art von Elektronik nur so vollgestopft war. Weiter vorne befand sich ein wuchtiger Sessel mit breiter, wulstiger Kopflehne und über der ganzen Konstruktion hing eine gläserne Kuppel.

Plötzlich zielte der Mann wieder mit dem geheimnisvollen Gegenstand auf Mr. Woodstock. Ein kurzes Zischen entfuhr dem Ding und im nächsten Augenblick strömte ganz langsam und unbeschreiblich kraftvolles Leben durch den paralysierter Körper des Alten. Die Lähmung am ganzen Körper fiel von ihm sukzessive ab. Der Fremde beobachtete die Reaktion, wartete einfach und sagte nicht ein einziges Wort. Dann fiel der alte Mann in eine tiefe Bewusstlosigkeit.

***

Mr. Walter Woodstock lag auf einer Art Pritsche, als er wieder aufwachte. Sein Hinterkopf schmerzte, als stächen tausend kleine Nadeln gleichzeitig zu. Er blickte sich um, konnte aber nichts darüber sagen, wo er sich befand. Wie lange war er schon hier? Er seufzte. Am liebsten hätte er einen lauten Schrei von sich gegeben und wäre davongelaufen. Aber wohin? Mr. Woodstock glaubte sich in einem Alptraum zuhause. Das leichenblasse Gesicht war jetzt dicht neben dem seinen.

Ich befinde mich in den Händen eines Irren, dachte sich der Alte entsetzt, dem jetzt alle möglichen Bilder grausamster Art durch den Kopf schossen. In diesem Moment stellte ihm der blasse Mann einen Teller mit Essen auf den Tisch und deutete an, er solle sich von seiner Liege erheben und etwas zu sich nehmen, in dem er auf seinen Mund zeigte. Woodstock wollte es zuerst ablehnen, aber der Hunger quälte seinen leeren Magen schon seit vielen Stunden. Schließlich griff er zu, zog den Teller zu sich heran und aß begierig das gebratene Fleisch, das vorzüglich schmeckte.

„Danke!“ sagte er nach dem Essen, als der Fremde ihm noch ein Glas frisches Wasser reichte.

Der Mann nickte nur mit dem Kopf, antwortete aber auch diesmal nicht, sondern beobachtete ihn nur und lächelte verständnisvoll. Dann legte er den Arm um ihn und half ihm hoch. Mr. Woodstock fühlte sich ein wenig schwindelig, konnte sich aber nach einer Weile von selbst aufrecht halten.

Woher sollte man wissen, ob der Fremde einem gut oder böse gesonnen war? Oder ob er sich aus irgendeinem Grunde nur selbst schützen wollte? Vielleicht wollte er sich nur gegen einer Gefahr erwehren, die ihn bedrohte.

„Wer sind Sie? Bin ich Ihr Gefangener?“ fragte er den blassen Mann spontan, der ihn nur verdutzt anblickte.

Auf einmal konnte dieser sprechen, als hätte er nur darauf gewartet, dass der alte Mann ihn etwas fragen würde.

„Natürlich sind Sie nicht mein Gefangener. Ich möchte Ihnen nur helfen, weiter nichts“, sagte der Fremde mit langsamer, tiefer Stimme.

„Aber Sie haben nicht das Recht dazu, mich hier einfach festzuhalten. Sie haben mir nichts erklärt, nichts gesagt, was das hier alles soll. Woher kommen Sie eigentlich und was machen Sie hier oben in den Bergen so ganz allein. Sind Sie ein Einsiedler oder was?“ fragte ihn Mr. Woodstock mit aufgeregter Stimme.

Der Mann mit dem blassen Gesicht sah ihn jetzt mit ernstem Blick an. Dann runzelte er plötzlich die Stirn.


„Bitte entschuldigen Sie meine Unhöflichkeit. Aber ich habe mich noch nicht vorgestellt. Ich heiße Demphil Orakoon und komme vom Planeten KIRGOON WATTH, der 150 Millionen Lichtjahre von eurer Erde entfernt in einer Spiralgalaxie liegt, die in etwa der Milchstraße ähnelt. Beim letzten Hypersprung gab es irgendeine Fehlfunktion im Raum-Zeit-Konverter. Die Magnetfeldfessel der Antimaterie zeigte einige gefährliche Schwankungen an. Ich musste daher zwangsweise mit meinem Raumschiff auf eurem Planeten notlanden und verstecke mich seitdem hier oben in der einsamen Bergregion. Eurer Zeitrechnung nach war das vor mehr als zwei Monaten. Ich komme nur langsam mit den komplizierten Reparaturarbeiten weiter. Aber ich bin fast fertig. Sie werden doch verstehen, dass ich Sie nicht einfach wieder so laufen lassen kann. Ich kenne euch Menschen nämlich. Sie würden sofort Hilfe holen, Mr. Woodstock, und bald hätte man mich entdeckt. Das wäre eine Katastrophe, nicht für mich, sondern für euch. Ich will euch Menschen nichts Böses tun, dir schon gar nicht, aber wenn man mich hier oben aufstöbert, müsste ich das mit aller Macht zu verhindern suchen, indem ich meine Waffen aktiviere, die darauf programmiert sind, alles zu vernichten, was sich meinem Raumschiff nähert. Die Reparaturen am schadhaften Magnetring werden bald beendet sein. Ein paar Tests noch, dann werde ich, sobald die Dunkelheit hereingebrochen ist, die Erde wieder verlassen und einen neuen Hypersprung initiieren, der mich nach Hause bringen wird. Bis dahin werde ich Sie hier behalten müssen, Mr. Woodstock. Danach können Sie wieder machen, was Sie wollen.“


Mr. Woodstock kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Sprachlos und mit offenem Mund hatte er die Rede des außerirdischen Wesens verfolgt. Es war die reinste Sensation, das dieses Wesen aus dem All seine Sprache so gut beherrschte und jedes Wort verstand.

„Woher kennen Sie meinen Namen, Orakoon?“ fragte er den Außerirdischen.

„Nichts Leichteres als das. Wir können eure Gedanken lesen.“

Walter Woodstock saß erschrocken da und schwieg. Die eigentümlich grauen Augen des fremden Wesens aus dem All schweiften in die Ferne. Es versuchte eine Geschichte zu erzählen, die jenseits allen Erzählbarem lag, die sich über einen Abgrund von Raum und Zeit hinweg streckte, der nicht so ohne weiteres zwischen ihm und dem Fremden überbrückt werden konnte.

„Es tut mir leid. Aber ich wollte Ihnen durch meine Gegenwart keine Schwierigkeiten bereiten. Ich habe die Höhle nur durch Zufall gefunden. Mehr nicht“, sagte Mr. Woodstock mit leiser Stimme zu dem Raumfahrer, der jetzt die Augen geschlossen hatte. Er öffnete sie erst wieder, als er zu sprechen anfing.

„Ja, ich weiß. Aber das ist keine Höhle, sondern der Eingang zu meinem Raumschiff. Die dreidimensionalen Projektoren haben eine massive Bergsimulation um das Raumschiff gelegt, um es der Umgebung anzupassen. Ich dachte die ganze Zeit, dass niemand von euch Menschen hier oben in diese gottverlassene Gebirgsregion kommen würde. Ich habe mich wohl geirrt. Aber das spielt jetzt keine Rolle mehr. Nach dem Start wird eine kleine Gerölllawine den Berg runtergehen, was ich leider nicht ganz verhindern kann. Aber ich habe dafür gesorgt, dass sie keinen Schaden anrichten wird.“

„Was geschieht mit mir? Werde ich noch rechtzeitig von hier wegkommen, bevor es gefährlich für mich wird?“

„Machen Sie sich darüber keine Sorgen, Mr. Woodstock. Ihnen geschieht nicht das Geringste. Glauben Sie mir...!“ gab Demphil Orakoon mit Bestimmtheit zur Antwort. Dann schloss er wieder die Augen. Zu der Stille des Raumes gesellte sich ein langes Schweigen.

***

Ein Ton.

Das war das erste.

Er drang in sein Bewusstsein ein, wie die sanfte Musik einer Harfe. Es war eine Stimme, die sprach, flüsterte...

Er öffnete die Augen. Licht drang in sein Gehirn. Es schmerzte. Er blinzelte ein wenig. Unter seinem Körper fühlte er den nackten Felsen, sein Herz arbeitete wie ein heftiger Kolben, durch seine Adern pochte das Blut...

„Ich bin wach.“ Seine Stimme klang laut und heiser. „Ich bin nicht tot. Ich lebe!“ schrie Walter Woodstock vor lauter Freude.

Eine Hand legte sich auf seine Schulter.

„Bleiben Sie ruhig liegen, Mr. Woodstock. Es wird alles wieder gut. Wir bringen Sie jetzt in ein Krankenhaus unten im Tal. Sie sind stark unterkühlt. Es ist aber alles soweit mit Ihnen in Ordnung. Sie werden bald wieder auf den Füßen sein...“ sagte der Notarzt zu ihm, bevor er die Hecktür des Rettungswagens von außen schloss und dem Fahrer ein kurzes Zeichen gab, dass er jetzt wegfahren könne.

Mr. Walter Woodstock blieb ruhig liegen und sammelte seine Gedanken. Dann kamen die Erinnerungen zurück.

Er hörte es.

Ein dumpfes Grollen, wie Donner aus der Ferne. Ein Brüllen, ein Geräusch wie tausend Hurricans zusammen genommen.

Er sah es.

Es flog über ihn hinweg mit blinkenden Positionslichtern.

Ein gewaltiges Schiff, ein ungeheures Sternenschiff. Ein riesiger Berg aus glänzendem Metall, der sich in den dunklen, sternenklaren Nachthimmel erhob. Sein Schatten fiel auf ihn. Dann war es verschwunden. Nur der Donner blieb zurück, der über den Berg rollte und eine polternde Gerölllawine auslöste. Doch ihm geschah wie durch ein Wunder nichts. Seine Frau Franzis fand ihn später draußen bewusstlos vor der Tür der Berghütte wieder und hatte sofort den Rettungsdienst alarmiert. Wie er allerdings dorthin gekommen war, blieb für Mr. Woodstock ein Rätsel. Wie er überlebt hatte, ebenfalls.

***

Das Geheimnis offenbarte sich viel später zu Hause in seiner Wohnung, als Mr. Woodstock in seiner Regenjacke ein beschriebenes Stück Papier fand, auf dem ein kleiner See eingezeichnet war, den er nur zu gut kannte. Es war sein Bergsee hoch droben in den Bergen. An einer ganz bestimmten Stelle war ein Kreuz eingezeichnet. Dann folgte eine kurze Beschreibung, die dem alten Mann die Sprache verschlug. Er teilte das Geheimnis nur mit seiner Frau, die ihn zuerst für einen Spinner hielt, bis, ja bis sie sich selbst davon überzeugen konnte, dass es noch Wunder gab, die nicht von Menschenhand gemacht worden sind.

***

Mr. Walter Woodstock und seine Frau Franzis legten eine kurze Rast ein, um von dem kalten, reinen Wasser des Eissees zu trinken. Sie lachten, scherzten und manchmal kamen ihnen sogar die Tränen. Sie wagten das Wunder kaum zu glauben, das ihnen widerfahren war. Aber sie mussten es glauben, obwohl es viel zu phantastisch klang. Aber beide konnten es jedes Mal wieder und wieder am eigenen Körper erfahren und ausprobieren. Das fremde Wesen aus dem All hatte für sie ein wunderbares Geschenk im kleinen Bergsee zurückgelassen. Ein Geheimnis, das nur sie beide kannten. Es war eine Art Lebenselixier, das in einem kugelförmigen Behälter lagerte und die gesamten Zellen des menschlichen Körpers innerhalb kürzester Zeit regenerierten, was wiederum zu einer spürbaren Verjüngung und zu einer enormen Verlängerung des Lebens führte. Ja, und dieser Behälter lagerte im kühlen Bergsee unterhalb der Wasseroberfläche in einer kleinen Felsennische. Niemand wusste davon, außer Mr. und Mrs. Woodstock natürlich.

Etwas später stiegen sie den Pfad hinab, neben ihnen floss der Strom des Stanton Rivers unermüdlich talwärts.

Sie gingen vorbei an den Tannen, den Kiefern, den schlanken Espen, hinab in das warme sommerliche Tal, das über und über mit goldenen und bunten Farben besät war und in dem die Vögel lustig zwitscherten.

Manchmal schauten sie zurück zu den hohen, schneebedeckten Bergen, wo früher einmal eine Bergspitze mehr gestanden hatte und einstmals ein Berggeist hauste, der aus den unendlichen Tiefen des Alls gekommen war.

Auch dieses Geheimnis behielten sie für sich.

Die Menschheit musste ja nicht unbedingt von jedem Wunder erfahren, das vom Universum durch Zufall manchen Personen offenbart wurde.





ENDE



© Heiwahoe


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Beschreibung des Autors zu "Der Berggeist"

Es gibt Wunder, die nicht von Menschhand gemacht worden sind.

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