Alles hat seine Zeit.

So hatte der Kindergarten, die Schule und das Studium seine Zeit wie auch das Handball­spiel, das Spiel auf den vierundsechzig Feldern des Schachs, die Beschäftigung mit der Fotografie, der Squaredance und das Probieren mit dem Bleistift um Zeichnungen und Texte zu erstellen und die Zeiten des Arbeitens in unterschiedlichen Positionen und Städten. Alles hatte seine Zeit und hat sie zum Teil auch noch.

Irgendwann war auch die Zeit des Reisens gekommen.

Die Gärten im Süden Englands haben mich verzaubert. Ich streifte durch Parks im schottischen Hochland und erfreute mich an der irischen Landschaft, betrachtete beeindruckt die bemerkenswerte Gestaltung der Villa d'Este und das romantische Ninfa und die beeindruckende Anlage Villa Adriana in der Nähe der italienischen Hauptstadt und dort selbst die Parks Villa Borghese und Villa Ada und nicht zuletzt die Vatikanischen Gärten. Der Branitzer Park in Cottbus und unzählige Landes- und Bundesgartenschauen entführten mich immer neu in eine vielfachgrüne und farbenfrohe Welt. Ich besuchte die deutschen Lande von den Küsten über Harz und Thüringer Wald bis hinunter nach Franken und Bayern, verlebte sonnige und regnerische Tage in Dänemark und Schweden, reiste in die Schweiz und nach Italien, brach nach Österreich und Tschechien auf, genoss das Essen in der Bretagne und der Normandie, briet in der Sonne Spaniens und Portugals und lies mich durch die Winelands in Südafrika treiben. Und wo ich nicht hinreisen konnte, habe ich mir Bilder und Filme angeschaut und davon geträumt, eines Tages dorthin zu fahren.

Ich habe den Ort der Stille zwischen Kühlungsborn und Börgerende gefunden, an dem die Uhren langsamer ticken und der mich bei jedem Besuch unaufgeregt umfängt und mich an seiner Brust ruhen lässt und mir Kraft und Energie gibt für das reizüberflutete, anstrengende und ruhelose Alltagsleben.

Irgendwann werde ich auch ihn besuchen, den stillen Ort ohne Zeit, an dem die Uhren still­stehen und die Tage niemals enden. Auch dieser Ort wird seine Zeit haben.

An manchen besinnlichen Tagen folgen meine Gedanken dem verschlungenen Weg, der sich wie eine Schlange die Anhöhe hinaufwindet und sich hoch droben in den Wolken aus meiner Wahrnehmung stiehlt. Dann stelle ich mir vor, wie es sein wird, diesen WDann wird meine Seele sich spannen und ihre Flügel ausbreiten und still durch die milden Lüfte gleiten, getragen von der Melodie des Largo' Aus der Neuen Welt, als flöge endlich sie nach Haus.1eg zu gehen, zu dem mir unbekannten Ort, der oberhalb des Schleiers aus grauweißer Dunst vor sich hindöst und sich zu langweilen scheint. Ich weiß, dass es ein langer und mühsamer Aufstieg sein wird. Ich werde bei meinem Gang dort hinauf all die unnützen Dinge zurücklassen müssen, die störend und hinderlich sind. Weder einen Notizblock, um in Wort oder Bild meine Eindrücke festzuhalten, noch einen Fotoapparat, um meine Eindrücke auf Zelluloid oder in Speicherplatten zu bannen, werde ich mit mir nehmen. Spartanisch ausgerüstet für diesen Weg kann ich nur das bei mir tragen, was mir wichtig ist, meine Erinnerungen. Aber auch meine Gedanken und Erinnerungen werden nach und nach von den Wolken aufgesogen und aus meinen Kopf entschwinden wie ein Luftballon, der sanft und stetig himmelwärts schwebt, bis er kleiner und kleiner wird und als winziger Punkt der Sicht entschwindet.
Der steile, beschwerliche Weg aus grobem Schotter und kantigen Steinen ist gesäumt von stachligen Gebüschen und dornigem Geranke. Willkommene und unerfreuliche Ge­danken werden sich beim Anstieg in meinem Kopfe einfinden, Erlebnisse und vergessene Begegnungen blumig aufleben, zart verblassen, um anderen Rückbesinnungen Raum zu geben. Erinnerungen an süße Lockungen und heimliche Versuchungen, an Erlebnissen, die übersät sind von selbstverschuldeten Misserfolgen und böswilligen Unterstellungen, an niederdrückende Fehlschläge und mehr oder minder gewichtige Lügen und Halbwahrheiten, vergessene Handlungen und unterdrücktes Eingreifen, auch an gemeine Betrügereien und hässliche Worte. Aber auch an unvergessliche und nachhaltige Erlebnisse, an zarte Träume und herzerfrischende Verliebtheiten, an die Stunden des Glücks, die zeitlosen und noch gegenwärtigen Minuten der Zufriedenheit, an erhaltener Liebe und erlebter Zuneigung, an inniger Zweisamkeit.

Es ist ein schwerer Weg und es wird ein langer Anstieg. Doch ich bin mir sicher, diesen Ort ohne Zeit, hoch über den Wolken und getaucht in mildes Sonnenlicht, müde, aber in friedvoll zu erreichen.
Dann werde ich mit meinen Augen sehen, ob all das stimmt, was über diesen Ort gemunkelt und erzählt wird von denjenigen, die den Weg zurück in das Tal gefunden haben, die sich los­gerissen haben aus der allgegenwärtigen, unvergesslichen Schönheit, die sich heimlich aus dem milden, warmen Lichte gestohlen haben, das jeden Ankömmling dort mit Frieden und Glück erfüllt, die aus der tiefen, eindringlichen Ruhe geflohen sind, die dort herrscht und der Ewigkeit einmal noch den Rücken gekehrt, die den Bleibenden dort umfängt.

Ich verlasse die Welt meiner Vorstellungen und schreite durch das Tor der Fantasie zurück in die Wirklichkeit. Irgendwann hat auch dieser Ort seine Zeit.

Dann wird meine Seele sich spannen und ihre Flügel ausbreiten und still durch die milden Lüfte gleiten, getragen von der Melodie des Largo' Aus der Neuen Welt, als flöge endlich sie nach Haus.1
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1 Dieser Satz frei nach: Joseph Freiherr von Eichendorffs "Mondnacht"


© (C) 2012- Björn-Erik Nydal


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Beschreibung des Autors zu "Der Ort ohne Zeit"

Reise zu einem Ort, an dem ich noch nie gewesen bin, den ich aber irgendwann betreten werde.

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